EVA #0815
Auf dem simulierten Mars hat jede Woche zwei Höhepunkte, manchmal sogar drei. Dann ziehen wir uns unsere Anzüge über und verlassen das Habitat.
Nach nunmehr einem halben Jahr und über 70 Außeneinsätzen haben wir eine gewisse Routine entwickelt, und ich finde es ist an der Zeit, nach der ausgefallenen Luftversorgung und der Erkundung der Höhle einmal auf eine typische EVA einzugehen.
In einer normalen Woche gehen wir zweimal auf EVA, mittwochs und samstags. Ich bin zur Zeit die Einzige, die ein Außenexperiment betreibt, und bin deshalb bei fast jeder planmäßigen EVA dabei. Mein Experiment steht auf dem Hügel hinter dem Habitat, und die regelmäßigen Wartungsarbeiten dauern üblicherweise etwa eine Viertelstunde.
Diese Arbeiten allein wären den Aufwand von etwa einer Stunde Vor- und Nachbereitung nicht wert. Allerdings dienen die Hälfte unserer Außeneinsätze zusätzlich dem Durchführen von geologischer Feldarbeit – Karten erstellen, Lavakanäle und – röhren vermessen, Gesteinsdichten bestimmen. Gelegentlich schwärmen wir auch aus um neue Gebiete zu erkunden und (hoffentlich) Höhlen zu entdecken.
Darüberhinaus haben wir seit zwei Monaten ein weitere regelmäßige Aufgabe: zwei Teams sollen ohne Sichtkontakt aber zeitgleich einen Marker (eine “Antenne”) auf vorbestimmte Koordinaten versetzen. Das Ganze dauert eine halbe Stunde und dient vor allem dazu, unsere Kommunikation über Funk zu evaluieren, nicht so sehr eine wirklich sinnvolle Aufgabe zu verrichten. Immerhin zeigt die Crew seltene Einhelligkeit in der Bewertung dieser Aufgabe: Während die geologischen Aufgaben der Hälfte der Crew Spaß bereiten (mich eingeschlossen), wird der eher stupide Antennenversatz uneingeschränkt gehasst.
Seit seiner Einführung jedenfalls läuft eine typische EVA so ab: Zuerst ziehen vier Crewmitglieder los, um den Marker neu zu positionieren. Anschließend sehen zwei nach dem Experiment, während die anderen beiden kleinere Wartungsarbeiten am Habitat durchführen oder direkt ins Innere zurück kehren. Erst wenn alle dringenden Aufgaben erledigt sind, beginnen diejenigen, die noch draußen sind, mit ihren geologischen Arbeiten. An den Tagen, an denen wir kein Geologieprojekt bearbeiten, kehren wir entweder pünktlich zum Mittagessen ins Habitat zurück oder verlassen die nähere Umgebung des Habitats und gehen auf Erkundungstour.
Wir haben einen Bewegungsradius von etwa zwei Kilometern, was auf den ersten Blick reichlich wenig wirkt. Allerdings kommen wir, wenn wir nicht gerade auf unserer “Zufahrtsstraße” laufen, auf dem instabilen Lavauntergrund nicht gerade schnell vorwärts – in manchen Richtungen brauchen wir bis zu einer Stunde für einen einzigen Kilometer.
Mit einem Tagesausflug könnte man sich theoretisch immer noch 4-5 Kilometer vom Habitat entfernen – wären da nicht unsere Anzüge. Kein Baum, kein Strauch, und der Himmel ist so selten bewölkt, dass auf dem Nachbarberg zahlreiche Teleskope errichtet wurden. Drei Stunden hält man es an einem durchschnittlichen Tag in der Sonne aus; unsere längste EVA bisher überhaupt dauerte viereinhalb Stunden. An den Rest des Tages kann ich mich kaum noch erinnern – mehr als ein paar Blessuren zu versorgen und Fotos anzuschauen hat keiner der Teilnehmer hinterher hinbekommen.
Apropos Blessuren – ich hatte in einem früheren Beitrag erwähnt, wie trügerisch das Gestein sein kann, auf dem wir uns bewegen. A’a neigt dazu, unter unseren Füßen wegzurollen, Pahoehoe bricht gelegentlich ein. Trotzdem ist die schlimmste Verletzung, die ein Teammitglied bisher erlitten hat, nur ein verstauchtes Knie (nach einem nicht besonders tiefen, aber etwas unglücklichen Einsturz). Der Rest waren Oberflächlichkeiten: Kratzer, Beulen, blaue Flecke. Angesichts des Untergrunds ist das eine erstaunlich geringe Anzahl an Verletzungen. Und wir wollen es dabei belassen: Ein verletztes Crewmitglied können die anderen auch mit vereinten Kräften nicht kilometerweit über Lava zurücktransportieren.
Der dritte Grund für unseren eingeschränkten Bewegungsradius ist das äußerst komplexe Terrain, das mit etlichen Furchen und Kanälen durchzogen ist; dazu ist das Gestein sehr eisenhaltig. Selbst ohne Probleme mit unseren Funkgeräten ist eine gute Funkverbindung zum Habitat, manchmal sogar zu den anderen EVA-Mitgliedern, reine Glückssache. Wir haben aber mittlerweilse genug Ausfälle von sowohl Headsets als auch Funkgeräten erlebt, um zu wissen, dass ein EVA-Team im Zweifelsfall völlig auf sich allein gestellt ist.
Genau das ist auch der Grund, warum niemand allein auf EVA geht. Eine EVA besteht immer aus 2 bis 4 Mitgliedern (denn auch im Habitat bleibt niemand allein), selbst wenn es nur darum geht, nach meinem Experiment Ausschau zu halten, oder unsere Notstromversorgung einzuschalten.
Niemand geht allein – mehr als einmal ist mir diese Grundregel schon zu Gute gekommen. Einmal hat sich mein Fuß so unglücklich zwischen zwei Lavablöcken verkeilt, dass ich ihn allein nicht mehr herausziehen konnte. Ein andernmal fiel meine Luftversorgung aus (mal wieder, aber in einem anderen Anzug und nur teilweise), und mein Begleiter nahm mir für den Rest der EVA mein Gepäck ab, um mir die Rückkehr zum Habitat im Anzug zu ermöglichen. Und mehr als einmal ist mein Begleiter für mich eingesprungen, wenn mein Funkgerät mal wieder gezickt hat.
Ich glaube, es gibt kaum eine EVA, bei der nicht wenigstens eine kleine Panne vorkommt. Aber genau das macht auch ihren Reiz aus: Sie sind eine willkommene Abwechslung vom geradezu vorhersehbaren Tagesablauf im immer gleichen, weißen Kuppelzelt. Denn nur auf EVA können wir Dinge sehen, die wir nicht ohnehin jeden Tag sehen – wenn auch durch eine mittlerweile arg zerkratzte Schicht Plastik hindurch.
Wieder einmal ein schöner Einblick. Der letzte Absatz klingt wirklich wie “seit einem Jahr auf dem Mars”.
Finde es großartig, das hier zu lesen! Wir als Menschheit sollten den “Traum vom Mars” als große Chance für gemeinsamen Fortschritt (buchstäblich!) sehen, statt uns auf dem blauen Planeten viel zu oft in sinnlosem Streit zu zerfleischen…
Hi Cookie,
das Terrain erscheint wirklich sehr zerklüftet und schwer begehbar. Welche Art von Fahrzeug würde dabei helfen, als eine Art Rover? Etwas mit einer Art Kettenantrieb, übergroßen Vollgummireifen oder etwas mit einem breiten und dicken Gurt? Oder wäre ein Auftrieb via Ballon oder Zeppelin sinnvoller?
Gruß
Jedi
Hallo Jedi!
Das Terrain um ein echtes Marshabitat dürfte etwas freundlicher sein – allein schon um unnötige Unfälle zu vermeiden. Hier auf Hawaii hätten Vollgummireifen jedenfalls auf Dauer keine Chance. Meine Wanderschuhe (zugegeben nicht mehr ganz neu bei Missionsbeginn) widerstehen der Lava nur noch mit Duct Tape; manche unserer Sohlen weisen tiefe Einschnitte auf, aus anderen fehlen ganze Stücke. Reifen halte ich bei dem rauhen Terrain generell für ungeeignet. Für Hawaii kann ich mir eigentlich nur Kettenantrieb à la Curiosity vorstellen. Auf dem Mars jedoch dürfte auch die fieseste Lava mit einer Staubschicht bedeckt sein, so dass man möglicherweise eine größere Auswahlmöglichkeit beim Material hat.
Ballon oder Zeppelin müsste auf dem Mars riesig sein – ohne geeignete Infrastruktur stelle ich es mir schwierig vor, so ein Gefährt zu handhaben.
Auf dem Mars ist ja weniger Schwerkraft, wird das in der Simulation gewichtsmässig irgendwie ausgeglichen?
Der zurückgelassene verletzte Astronaut, da müsste es doch auch irgendein Fahrzeug oder sowas geben, das man in dem Fall herbeiruft, oder Robby den Roboter aus Forbidden Planet, das kann doch nicht angehen. Erinnert an die Szene in einem dieser Marsfilme, ich glaube es war Mission to Mars, wo der schwer Kranke/Verletzte? an den Marsfelsen gelehnt sitzen bleibt und die anderen Jungs und Mädels losschickt, denn nur ohne ihn als Klotz am Bein können sie es vielleicht noch schaffen. Gruselig! Kann man so eine Situation wirklich trainieren?
Nein, wir haben hier die “normale” Erdanziehung.
Bisher mussten wir noch niemanden irgendwo zurücklassen, und ich kann mir ein solches Szenario hier auch nur schwer vorstellen. Eben weil wir keinen Rover zur Verfügung haben, beschränken wir uns ja auf den 2km-Radius (den wir zudem noch nie vollständig ausgereizt haben). Die Hälfte “unseres” zugänglichen Terrains ist so beschaffen, dass ich niemanden hindurch tragen wollte oder könnte. Allerdings haben wir jederzeit die Möglichkeit Verstärkung vom Habitat anzufordern – Zeitdruck, wie er bei dem erwähnten Film vorzukommen scheint, ist hier äußerst unwahrscheinlich.
Jemanden aufzugeben und zurückzulassen kann man nicht ernsthaft trainieren. Dafür kann man trainieren, es gar nicht erst soweit kommen zu lassen und solche Situationen aktiv zu vermeiden!
Liebe Frau Heinicke,
ich habe Ihnen eine Mail an die Adresse mail@cheinicke geschickt (ist eine Presseanfrage mit etwas Verspätung zu Ihrer “Mars-Halbzeit”).
Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie diese Mailadresse gerade benutzen – wenn nicht, wäre ich Ihnen dankbar für eine kleine Mail an mich. Dann schicke ich meine Anfrage neu.
Viele Grüße,
Violetta Kuhn