Zum Ursprung von Naturethik – Teil 1

BLOG: Landschaft & Oekologie

Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
Landschaft & Oekologie

„Ethik beginnt, wenn das Subjekt erkennt, dass andere Subjekte existieren, denen ihre Umstände auch von Bedeutung sind.
 Man kann also Werte verallgemeinern bzw. es versuchen, aber am Beginn steht das Gefühl des Respekts für die Bedeutung des Anderen, die der eigenen entspricht.
 Es kann also Respekt vor der ‚Natur’ jenseits von Nützlichkeitserwägungen entstehen“.

Das schreibt jemand (unter dem Namen „Suse“) in einem Kommentar zu meinem Artikel „Kann der Mensch die Natur zerstören?“  zur Frage, was denn der Ursprung von “Naturethik” sei, woher es also komme, daß nicht nur Menschen von Menschen als moralische Objekte betrachtet werden bzw. zu betrachten sind. Ähnliche Auffassungen sind in der Ökologiebewegung (im weitesten Sinne, also unter einem Großteil der Bevölkerung von Ländern wie dem unseren) sehr verbreitet. – Mir scheint es in dieser Bewegung vor allem drei naturethische Grundrichtungen zu geben:

(1) Eine sogenannte anthropozentrische; sie begründet die Pflicht zum Schutz der Natur durch Überlegungen, die die Lebensmöglichkeiten der Menschen und insbesondere kommender Generationen betreffen. (2) Eine sogenannte physio- oder biozentrische, nach der die Natur oder manches in der Natur einen Eigenwert hat. (3) Eine gefühlsethische, d. h. man sieht weniger auf die vom Handeln betroffenen Naturdinge als auf die Gefühle der Handelnden.

Die drei Richtungen treten oft, vielleicht auch meist nicht in Reinform auf, sondern werden in verschiedener Weise kombiniert, (1) und (2) vor allem insofern, als man beide unter utilitaristischen Vorzeichen verbindet: Es geht, und zwar ausschließlich, um das Wohlbefinden, wobei der Anspruch darauf aber nicht auf jetzige und künftige Menschen beschränkt bleibt, sondern auf die Natur oder Naturwesen, soweit man ihnen entsprechendes meint zuschreiben zu können, ausgedehnt wird. Der Gedanke von deren Eigenwert wird dabei so interpretiert, daß man das Wohlbefinden der Natur(wesen) berücksichtigen müsse unabhängig davon, ob man dadurch zum Wohlbefinden von Menschen beiträgt. Das wird dann meist mit „jenseits von Nützlichkeitserwägungen“ überschrieben, obwohl es doch eine Ausweitung des Nützlichkeitsprinzips ist (bzw. des Kreises derjenigen Objekte, die einen Anspruch darauf haben, daß der Nutzen oder Schaden, den etwas für sie hat, berücksichtigt wird). – Man könnte das aber auch umgekehrt sehen: Das Prinzip der alleinigen Relevanz des Wohlbefindens und der zu ihm beitragenden Nützlichkeit wird von den nicht-menschlichen Lebewesen – da erscheint es ja in der Tat abwegig zu meinen, daß es aus ihrer Perspektive um etwas anderes gehen könnte – auf den Menschen ausgeweitet. In dessen Leben sollte es aber nach bisher vorherrschender Auffassung – sieht man einmal von den Utilitaristen ab – vorrangig um etwas anderes gehen.[1]

Die oben zitierten Sätze integrieren auch noch die dritte Grundrichtung, die gefühlsethische. Die drei hängen im Zitat etwa so zusammen: Der Mensch erkennt irgendwann im Verlaufe seiner Evolution, daß nicht er allein nach seinem Wohlbefinden strebt, sondern andere Subjekte ebenso. Zugleich – und noch vor den kognitiven Möglichkeiten, die es erlauben, Werte zu verallgemeinern – entsteht ein Gefühl, das ihn auf das Streben der anderen Subjekte nach Wohlbefinden Rücksicht nehmen läßt. Dieses Gefühl wird in dem Zitat mit „Respekt“ bezeichnet. Subjekte sind hier nicht nur das, was man üblicherweise so nennt – also andere Menschen –, sondern auch andere Lebewesen, ja selbst Phänomene, die (wie man meint) primitive Formen von Selbstreferentialität zeigen, gehören dazu.[2] So kann man zu der Auffassung gelangen, man könne oder solle insbesondere gegenüber Kreisläufen in Ökosystemen (oder ganzen Ökosystemen, weil man Ökosysteme für durch Kreisläufe konstituiert hält) „Respekt“ empfinden. Denn eben dadurch, daß sie Kreisläufe sind, erhalten sie sich ja dauerhaft bzw. – denn immer schaffen sie das nicht  – sie „streben“ danach, sich zu erhalten. Es kann ihnen also gut oder schlecht gehen.

Ich kann diese Auffassungen hier nichtumfassend kritisieren oder ihnen eine andere entgegensetzen; dazu fehlt mir nicht nur der Platz, sondern auch und vor allem Wissen und Können. Ich möchte nur einige der Behauptungen in dem obigen Zitat etwas näher ansehen, in der Hoffung, daß sie für manche Leser etwas von der Selbstverständlichkeit verlieren, die sie heute weithin haben.

 

„Ethik beginnt, wenn das Subjekt erkennt, dass andere Subjekte existieren, denen ihre Umstände auch von Bedeutung sind.“

Diese Erkenntnis ist sicher eine der Bedingungen von Ethik und war historisch eine der Voraussetzungen, daß Ethik (oder Moralität[3], als Bewußtsein unbedingten Sollens) entstehen konnte. Aber beginnt da schon Ethik? Historisch – diese Vermutung kann ich natürlich nicht belegen – lagen zwischen dieser Erkenntnis und dem Beginn von Ethik wohl Hunderttausende von Jahren. Es ist dazu mehr erforderlich als nur die im Zitat genannte Erkenntnis. Die Menschen müssen auch erkennen, daß sie die Umstände, unter denen andere leben, durch ihr eigenes Handeln beeinflussen können und daß sie dies im allgemeinen auch tun. Doch auch damit beginnt noch nicht Ethik. Denn es ist ja möglich, daß die Menschen diese Erkenntnis nutzen, um die Umstände der anderen allein in ihrem eigenen Sinn zu beeinflussen. Dabei schaden sie in der Regel den anderen, worum sie sich aber nicht scheren. Es ist ihnen egal, ob diese Umstände den anderen „von Bedeutung“ sind, und so ist es historisch vermutlich auch meist gewesen. Genau wissen wir das nicht und werden es sicher auch nie wissen, denn die Datenlage – nicht nur die faktische, derzeitige, sondern auch die mögliche – ist extrem dünn, und was auf solchen Gebieten, vor allem dem Gebiet der sogenannten biologischen Evolution von Moral, immer mal wieder mit großem Getöse als neue Erkenntnis verkündet wird, ist hochspekulativ und wird es bleiben.

Wir müssen das aber auch nicht wissen, wenn es um Ethik geht, denn diese muß uns nicht als eine empirische, deskriptive Wissenschaft interessieren, wohl aber als präskriptive. Die sogenannte deskriptive Ethik ist für die Frage des unbedingten Sollens – und das ist eine Frage, die jeden interessieren muß, ob ihm das recht ist oder nicht – ohne Bedeutung, denn aus dem, was sich faktisch in der Geschichte (der Menschwerdung) zugetragen hat, folgt nicht, was wir tun sollen. Wir können uns also mit systematischen Überlegungen begnügen.

Der Beginn (systematisch gemeint!) von Ethik dürfte folgende Erkenntnis sein:[4] Ich will etwas tun. Wollen impliziert, daß der Mensch nicht einfach nach dem Prinzip Reiz-Reaktion funktioniert, sondern sich Ziele setzen kann und muß und daß ihn dabei die Vorstellung von Gesetzen leitet.[5] Mein der Willensbestimmung folgendes Handeln beeinflußt nun fast immer die Umstände, unter denen andere leben. Was diese tun, kann aber auch meine Umstände beeinflussen. Ich muß darum insofern, als ich als Mensch nicht sein kann, ohne etwas zu wollen, unausweichlich zugleich wollen, daß die anderen davon abgehalten werden, etwas zu wollen und dann zu tun, das die Realisierung meines Willens unmöglich macht. Es genügt nicht, sie durch Gewalt abzuhalten, denn woher soll ich die Macht nehmen, alle abzuhalten? Sie müssen vielmehr durch sich selbst abgehalten werden: durch ein Gesetz, dessen Berechtigung[6] jeder einsehen muß und dem alle unterliegen. Ich muß aber nicht nur wollen, daß es ein Gesetz gibt, das alle anderen dazu verpflichtet, bei ihrer Willensbestimmung auf meinen Willen Rücksicht zu nehmen. Sondern da alle anderen das ebenfalls wollen müssen, kann das allgemeine Gesetz nur lauten, daß von jedem, auch von mir, auf den Willen aller anderen Rücksicht zu nehmen ist. Da bedeutet aber, daß niemand etwas tun darf, das er nicht jedem anderen ebenfalls zugestehen muß.

Ich fordere darum unvermeidlich von allen anderen: Jeder muß die Maxime, nach der er handeln will, auf ihre Tauglichkeit zu einem allgemeinen Gesetz prüfen. Jeder andere kann und muß das aber auch von allen und damit auch von mir fordern; das Gesetz, dessen Gültigkeit ich will, bindet auch mich selbst. Und jeder andere bedeutet: jedes Wesen, dem wir Vernunft zusprechen, denn das heißt (s. o.), daß es frei und verantwortlich und nach der Vorstellung von Gesetzen handeln kann (und nicht nur auf Reize mechanisch reagiert), denn damit sind die Voraussetzungen gegeben, aus denen sich jene Forderung an alle anderen und gleichermaßen an sich selbst ergibt. Die Gesetze können – im Falle technisch-praktischen Handelns – Naturgesetze sein oder, wie in dem Fall, um den es hier geht, moralische (also unbedingte, d. h. solche, die zu bestimmten Zielen verpflichten, statt daß sie nur unter der Voraussetzung von bestimmten Zielen dazu verpflichten, bestimmte Mittel zu benutzen, wie es beim technisch-praktischen Handeln ist). Jeder, der Vernunft hat, weiß (definitionsgemäß), daß überhaupt Gesetze gelten, daß bestimmte Gesetze gelten und daß er – wie alle anderen – nach diesen Gesetzen handeln kann und soll.

Damit war – um nun doch wieder historisch zu werden – der Kategorische Imperativ in der Welt, zu dem man (sagen wir mal) einige zehntausend Jahre später die Theorie lieferte. Die eigene Freiheit, mir etwas herauszunehmen, wird unter die Bedingung der Freiheit eines jeden gestellt, sich das ebenfalls herausnehmen zu dürfen. Ich darf mir nicht eine Freiheit herausnehmen, die ich nicht jedem zustehe; dem entgegen zu handeln, ist der Kern des Sinns von „böse“ von Anfang an.

Daß ich mir diese Freiheit nicht herausnehmen darf, ist aber nicht einfach nur ein äußerer Zwang, den mir die Existenz der anderen auferlegt, wie es eine Gewaltdrohung der anderen wäre; nicht einmal im Falle des rechtlichen Zwanges, der ja Gewaltdrohung einschließt, wäre das so, geschweige denn im Hinblick auf Moral. Es ist vielmehr mein eigener Wille, der das verlangt. Denn ich muß ja, um überhaupt etwas wollen (statt nur ohne Aussicht auf Verwirklichung wünschen) zu können, die Einschränkung der Willensfreiheit aller und damit auch meiner selbst durch das allgemeine Gesetz auf das, was auch allen anderen zuzugestehen ist, wollen. Dieser eigene allgemeine Wille, der volonté générale im Sinne von Rousseau (von Kant wenig später als „allgemein gesetzgebender Wille“ genauer gefaßt) war damit in der Welt. So wie Kant nicht den Kategorischen Imperativ sich ausgedacht hat und als von allen zu beachten propagiert hat, so hat auch nicht Rousseau (bzw. in Ansätzen andere Aufklärer vor ihm) den volonté générale erfunden und dann propagiert. Er hat nur auf den Begriff gebracht, was von Beginn der Menschheit an der Wille eines jeden Menschen ist (und hat auf dieser Grundlage Forderungen an die Staatseinrichtung und die staatliche Gesetzgebung gestellt). Es handelt sich nicht um etwas Metaphysisches oder um den erklärten Willen einer gesetzgebenden Versammlung, sondern um einen ganz realen Willen, den ein jeder hat – haben muß, wenn er überhaupt wollen (nicht nur wünschen) will.

Im jeweiligen Fall muß er aber nicht diesem Willen folgen, auch wenn er ihn unausweichlich hat; weder der Entschluß zur Tat noch die Tat selbst müssen diesem Willen gemäß sein.[7] Ein jeder will natürlich noch vieles andere, auch solches, was nicht mit dem allgemeinen Willen übereinstimmt, denn seine natürlichen und kulturbedingten Neigungen nehmen keineswegs immer auf alle anderen Rücksicht; deshalb tritt Moralität ja auch notwendigerweise als Imperativ auf.[8] Aber zu dem, was der Einzelne unvermeidlich will, gehört eben auch jenes allgemeine Gesetz – auch wenn er ihm nicht immer folgen will.[9] Der allgemein gesetzgebende Wille ist, wie gesagt, ein ganz realer Wille (der in Konflikt mit anderem steht, was er ebenfalls will) eines jeden Menschen, seit es Menschen gibt, und zwar, weil sie frei handeln können und weil sie in Gesellschaft[10] leben, und er ist völlig kulturunabhängig. Denn einen Menschen, der nicht will, daß allen Menschen gesetzliche (moralische und rechtliche) Grenzen gesetzt sind in ihrem Handeln, hat es nie gegeben und kann es schlechterdings nicht geben – so sehr jeder auch gern für sich hinsichtlich mancher Gesetze eine Ausnahme machen möchte, und so unterschiedlich die Vorstellungen davon, wie diese Gesetze im Einzelnen beschaffen sein sollten, auch sein mögen, und so sehr die realen rechtlichen und moralischen Normen von ganz anderem, insbesondere von Machtverhältnissen, ihre Prägung erhalten und nicht von dem, was die Vernunft fordert.[11]

 

Literatur (für Teil 1 und Teil 2):

Baranzke Heike 2002: Würde der Kreatur? Die Idee der Würde im Horizont der Bioethik. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Geismann, Georg 2000: Sittlichkeit, Religion und Geschichte in der Philosophie Kants. Jahrbuch für Recht und Ethik, 8, 437-531.

Grünewald, Bernward 2001: Menschenrechte, praktische Vernunft und allgemeiner Wille. Zur Geschichte eines moralphilosophischen Konzepts. Erschienen in: Humanität, Interkulturalität und Menschenrecht, Hg. v. G. Paul, Th Göller, H. Lenk, G. Rappe, Frankfurt a. M., Peter Lang, S. 277-318.

Grünewald, Bernward 2004: Form und Materie der reinen praktischen Vernunft. Über die Haltlosigkeit von Formalismus- und Solipsismus-Vorwürfen und das Verhältnis des kategorischen Imperativs   zu seinen Erläuterungsformeln. Erschienen in: Metaphysik und Kritik, FS für Manfred Baum, hrsg. v. S. Doyé, M. Heinz, U. Rameil, Würzburg, S. 183-201.

Schnädelbach, Herbert 1983: Philosophie in Deutschland 1831-1933. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

 

Kant-Zitate nach der von Wilhelm Weischedel herausgegebenen Werkausgabe (Suhrkamp).

 

Blogartikel mit Bezug zum Thema: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16


[1] Dieses war, als „Glückseligkeit“, das höchste Gut schon der antiken eudämonistischen Moraltheorien. Das begann sich – folgt man den hier zugrundegelegten Texten von Grünewald, s. u. – im christlichen Kontext zu ändern, als Augustinus als das höchste Gut in dieser Welt nicht jede, sondern jene Glückseligkeit bestimmte, die darin besteht, sich über seinen guten Willen zu freuen. Bei Kant wurde daraus dann die der Glückseligkeit jederzeit übergeordnete Glückswürdigkeit. Für die utilitaristische Tradition blieb das aber ohne Bedeutung.

[2] Das wird an anderen, hier nicht zitierten Stellen des Kommentars deutlich.

[3] Die Begriffe Ethik, Moral und Moralität werden in sehr verschiedener Weise gebraucht. Ich hoffe, darauf hier nicht eingehen zu müssen, sondern daß der Text auch so verständlich ist.

[4] Im Folgenden stütze ich mich außer auf die einschlägigen Texte von Kant weitgehend auf Grünewald 2001, 2004. Auch wenn ich aus den letzteren Texten nicht im einzelnen zitieren werde: Der Beitrag enthält nicht viel, was sich nicht ihnen verdankt.

[5] Ein Wille ist nach Kant die Fähigkeit, nach der Vorstellung von Gesetzen zu handeln. – Im Handeln und in der dem Handeln vorausgehenden Willensbestimmung stehe ich grundsätzlich vor der Alternative richtig-falsch. Ich kann die Vernunft (a) benutzen, um ein (z. B. von meinen natürlichen Neigungen) vorgegebenes Ziel zu erreichen; die Gesetze, von denen ich mich leiten lasse, sind Naturgesetze, und „richtig“ ist dann bedingt durch das Ziel. (b) Die Geltungsdifferenz richtig-falsch kann aber auch unbedingt sein. Die Vernunft wird dann nicht eingesetzt, um Mittel für vorgegebene Ziele zu finden, sondern ist die letzte Begründungsinstanz, und die Gesetze sind moralische. Man kann das im Leben leicht unterscheiden: Handle ich falsch im Sinne von (a), so ärgere ich mich über meine Dummheit, handle ich falsch im Sinne von (b), so muß ich mich verachten, weil ich mich unwürdig verhalten habe. (Kant über den Betrug beim Spiel: „ich bin ein Nichtswürdiger, ob ich gleich meinen Beutel gefüllt habe, muß doch  ein anderes Richtmaß des Urteils haben, als sich selbst Beifall zu geben, und zu sagen: ich bin ein kluger Mensch, denn ich habe meine Kasse bereichert.“ Kritik der praktischen Vernunft [KpV], Anmerkung II zu § 8, S. 149 f.)

[6] Daß mit dem Wollen das Bewußtsein eines unbedingten, also nicht-empirischen Richtig-Falsch, eines Sollens und Nicht-Dürfens verbunden ist, ist das, was Kant das „Faktum der reinen praktischen Vernunft“ nennt; Faktum: Wir treffen es in uns an und können es von nichts anderem herleiten.

[7] Man muß also unterscheiden zwischen einem Willen1 und einem Willen2. Man kann einander Widersprechendes wollen (auf der Ebene von Wille1), so daß dann nur eines von beidem zu dem Willen2 werden kann, der tatsächlich das Handeln bestimmt. Dennoch kann man das andere (Wille1) weiterhin wollen, muß es oft sogar; man verfolgt es dann vielleicht auf anderen Wegen.

[8] Hier liegt der entscheidende Unterschied zu älteren, christlichen Vorstellungen und deren Wiedergeburt im gegenaufklärerischen Konservativismus: Für diese „vernimmt“ die Vernunft die Gebote eines fremden, absoluten Willens, für die Aufklärer (Diderot, Rousseau, Kant) aber folgt das Subjekt den Gesetzen, die es sich mittels seiner Vernunft selbst gibt – und es will ihnen auch folgen; allerdings will es nicht nur dies, denn sein Wille geht immer auch dahin, gegen das, was die Vernunft gebietet, Neigungen zu folgen. Darum erscheint die Stimme des Gewissens – vorher die „Stimme Gottes“ – nicht nur als das, was sie ist, nämlich als Stimme der eigenen Vernunft, der man deshalb, weil sie die eigene ist, ohne zu widerstreben folgt, sondern als Stimme einer befehlenden Instanz, die gleichsam von außen zu uns spricht und uns nötigt, gegen etwas zu handeln, was auch unser Wille ist.

[9] Zu den Bedingungen der Möglichkeit von Ethik gehört, daß der Einzelne nicht wollen kann, daß sein eigenes Wollen durch andere unmöglich gemacht wird. Daraus darf man nicht Konsequenzen im Sinne eines egoistischen Utilitarismus ziehen. Denn das allgemeine Gesetz ist etwas, was er zwar will, doch wird dieser Wille im konkreten Fall meist überwogen von dem, was er aus Eigeninteresse will; er muß also, indem er das allgemein Gesetz will, auch gegen sein Eigeninteresse wollen.

[10] Es gibt nach Kant (und vielen anderen) auch Pflichten gegen sich selbst. Andere, z. B. Habermas, bestreiten das. – Unter dem Druck des heutigen, neoliberalen Zeitgeists, nach dem man ja selbst Privateigentum von einem selbst ist, also mit sich nach Belieben verfahren darf, ist dieser Gedanke wohl etwas schwer zu fassen. Allenfalls der Aspekt, daß man in aller Regel anderen Leid zufügt, wenn man sich etwas antut, und daß man Pflichten anderen gegenüber nicht mehr erfüllen kann, wenn man sich durch Vernachlässigung der Entwicklung seiner Fähigkeiten in eine dazu ungeeignete Lage gebracht hat, also daß Pflichten gegen sich selbst indirekt doch Pflichten gegen andere sind, scheint noch einigermaßen begreiflich. – In Fällen, in denen das aber nicht geltend gemacht werden kann, hilft vielleicht die Vorstellung, daß Pflichten gegen sich selbst daraus entspringen, daß man sich nicht dazu bringen darf, sich selbst verachten zu müssen.

[11] Die heutigen Moralrelativisten können meist gar nicht verstehen, wie denn die Unbedingtheit des moralischen Gesetzes möglich sein soll ohne den Glauben an eine absolute externe Instanz, die die Gesetze erläßt. Grünewald (2001) schreibt dazu, Diderot interpretierend: Vernunft ist bei diesem nicht das, was man heute „instrumentelle Vernunft“ nennt, sondern „ein Vermögen, das über die Verknüpfung wechselseitiger Forderungen handelnder und handlungsbetroffener Subjekte nachdenkt. Die Bedingung dieser Verknüpfung ist die Idee der Berechtigung und diese wird definiert durch die Gleichheit all dieser Subjekte vor dieser Vernunft, welche eben deshalb eines jeden eigene Vernunft sein kann. Das Resultat, aus der Verknüpfung von Forderungen erwachsen, kann aus diesem Grund selbst eine Forderung sein, durch keinen Zweck irgendeines Einzelnen bedingt, aber jeden dieser Zwecke auf die Bedingungen seiner Vereinbarkeit mit den Zwecken aller anderen einschränkend: eine unbedingte Forderung.“ (Hvh. L. T.)

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

11 Kommentare

  1. @Suse

    “Wir Deutschen haben zwei Weltkriege hintereinander verloren, bis dass eine Mehrheit gelernt hatte, dass man per friedlicher Integration in ein gemeinsames Wirtschaftssystem viel mehr profitieren kann.”

    Dieses kreislaufende System des zeitgeistlich-intrigantem Reformismus im “Recht des Stärkeren”, nun im “gesunden” Konkurrenzdenken des “freiheitlichen” Wettbewerbs um …, ist gerade wieder dabei unseren zynischen / ignorant-arroganten Konsum- und Profitautismus eines besseren zu belehren – “Weltwirtschaftskrise”.

    Davor steht unsere systemrational-gebildete Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche im geistigen Stillstand seit …, die es mit einer anderen / wirklich-wahrhaftigen Kommunikation zu überwinden gilt, bis man sagen kann eine Mehrheit hätte den Humanismus nun gelernt – selbst der repräsentative Intellekt, der mit einer Mehrheit auch nur in systemrationaler Schizophrenität zu bezeichnen ist, zeigt wenig bis kein nachahmenswertes Vorbild.

    “Ich habe irgendwie das dumpfe Gefühl (schon wieder dieses Wort), dass wir nach einer eventuellen Umweltkatastrophe vielleicht einen weiteren Lernfortschritt machen werden…”

    Es ist wirklich armselig, aber es sieht danach aus, daß wir nur durch die Globalisierung einer kosmischen Ordnung die Möglichkeit weiterer Lernfortschritte / geistige Evolutionssprünge in Form von Mutation bekommen. Derzeit konzentriert sich das aber weiter systemrational im Kapitulativen unserer massenbewußten Suppenkaspermentalität – TV: “Eine Welt ohne den Mensch.”

  2. Ethik

    Der Konstruktivist beschäftigt sich auch nur mit der Frage, was Ethik sein könnte, nicht was sie ist. Das ist leichter.

    Ethik sollte aber schon an das Gemeinsame gebunden sein, machen Sie mal ganz alleine Ethik.

    😉

    Irgendwo war noch vom Willen der Erkenntnissubjekte die Rede, die mit einem Determinismus kollidieren könnte, ganz kurz und knapp hierzu: 1.) Ein Systemteilnehmer kann per definitionem nicht den Determinismus des Systems erkennen an dem er teilnimmt. 2.) Läge ein Determinismus vor, ändert sich nichts für den Betrachter, das hat schon Leibniz angemerkt, was das Ethische betrifft 3.) der Wille als absehbares oder angekündigtes Wollen ist ein weicher Begriff, man redet hier schnell “im Kreis”

    Dass Sie und Herr Trepl, vermutlich neben anderen, bestimmte bekannte Konzepte der Moraltheorie erörtern, ist dem Schreiber dieser Zeilen weitgehend klar – er lehnt sie meist ab, insofern kann oder will er oft nicht folgen.

    MFG
    Dr. W

    PS: Keine Ahnung wo die zwei sich öffnenden runden Klammern im letzten Kommentar herkamen, die waren so nicht erfasst.

  3. @Dr.W

    Ihren willkommenen Abwandlungen und Erweiterungen stimme ich teilweise zu, wenn ich auch die allgemeine Begriffsdiskussion mal eine Weile ruhen lassen möchte.

    Die Sache mit dem Übergang auf die kollektive Stufe ist wirklich höchst interessant.
    Wir Deutschen haben zwei Weltkriege hintereinander verloren, bis dass eine Mehrheit gelernt hatte, dass man per friedlicher Integration in ein gemeinsames Wirtschaftssystem viel mehr profitieren kann.
    Ich habe irgendwie das dumpfe Gefühl (schon wieder dieses Wort), dass wir nach einer eventuellen Umweltkatastrophe vielleicht einen weiteren Lernfortschritt machen werden…

  4. zu Suses Eingangsstatement

    > Ethik beginnt, wenn das Subjekt erkennt, dass andere Subjekte existieren, denen ihre Umstände auch von Bedeutung sind.(

    Ethik beginnt, wenn ein Subjekt erkennt, dass manche andere als Subjekt Erkannte seine Beachtung oder Pflege erfordern.

    > Man kann also Werte verallgemeinern bzw. es versuchen, aber am Beginn steht das Gefühl des Respekts für die Bedeutung des Anderen, die der eigenen entspricht.(

    Am Beginn [der Ethik] steht die Einsicht andere Subjekte tolerieren oder respektieren zu müssen bzw. einen Vorteil darin zu erkennen.

    > Es kann also Respekt vor der ‚Natur’ jenseits von Nützlichkeitserwägungen entstehen.

    Die Berücksichtigung der Natur (der “Welt”) entsteht aus Nützlichkeitserwägungen heraus; das Subjekt kann sich, ein geeignetes auf sich bezogenes Bestandserhaltungssystem vorausgesetzt, dazu erheben kollektiv zu denken und zu handeln.

    Die genauen Umstände seines kollektiven/ethischen Handelns ergeben sich heutzutage und “ganz praktisch” aus der Kultur, die das Erkenntnissubjekt umgibt bzw. die es angenommen hat.

    MFG
    Dr. W

  5. Überwindung

    Respekt aus Gründen der herkömmlich-gewohnten Kompromissbereitschaft zu Kategorien der kapitulativen Systemrationalität ist Bockmist.

    Respekt aus Erkenntnis der menschlichen Schwäche(n) ist immer o.k.

  6. @ Horst52 @ Suse

    @ Horst 52: nix verstehn

    @ Suse: Da muß ich noch mal in Ruhe nachdenken. Aber zu einigem von dem, was Sie schreiben, habe ich in dem 2. Teil dieses Artikels einiges gesagt.

  7. Gefühlsethik

    @DH
    “Eine In-Frage-Stellung der Lebensweise dürfte kaum möglich sein.”
    Ja, im Kollektivismus machen “die Einzelnen” das auch erst, wenn es starke Gründe gibt, und wenn dann keine Lösung gefunden wird, spaltet sich der Stamm bzw das Dorf.

    @Horst52
    Da stimme ich prinzipiell zu, jeder Einzelne ist immer auch Systemteil, gerade in der Kommunikation (siehe auch Luhmann).
    Problem sind die Sprache und der Verstand, die Denken nur in Kategorien, also über Abgrenzungen zulassen, dem versuchen sich an Spiritualität Interessierte durch Rückzug in zB Meditation zu entziehen.
    Wenn man aber an einer Konversation teilnimmt, muss man sich auf die Kategorien einlassen, und die des “Einzelnen” ist unvermeidbar, allerdings zielt das, was ich hier unglücklich mit „Respekt” bezeichne, genau auf die Überwindung hin.

    Bevor wir zum Kategorischen Imperativ und dem Geltungsbereich einer Vernunftethik zurückkehren, möchte ich gerne das Stichwort „Gefühlsethik”, mit dem meine Position treffend charakterisiert wird, näher darstellen.
    Ich sehe da ein Spannungsfeld zwischen Verstand und Gefühl, das noch besser vermessen werden kann.
    Am Anfang steht eine positive Grundhaltung, „Ich bin da und das ist gut”, also eine Wertsetzung, aber eben keine gedankliche.
    Diese Haltung kann (muss nicht) ausgeweitet werden: °Schön, dass Du auch da bist!”
    Das ist ein spontaner Impuls, keine Reflektion.
    Wenn eine positive Interaktion zustande kommt (was auch wieder nicht sein muss), wird das Gefühl gegenseitig vertieft und es entsteht Vertraunen und damit eine Bindung.
    Verstand muss nicht beteiligt sein, das klappt (gerade) auch mit Kindern und Haustieren.
    Hier wird ein Standard gesetzt, den (hoffentlich) jede/r aus der Kindheit kennt,
    der sich aber im weiteren Leben nicht mehr überall verwirklichen lässt.
    Grundlage ist immer eine emotionale Haltung, die allerhand Entwicklungsmöglichkeiten bietet.
    Angenommen, zehn Leute wollen eine Party mit lauter Musik feiern in einer Nachbarschaft mit hundert Leuten, die lieber ihre Ruhe hätten.
    Wie reagiert hier die (typisch weibliches Klischee) Gefühlsethikerin, wenn sie eingeladen wird?
    Zuerstmal freut sie sich und will mitfeiern, bis zu dem Moment, wo sie sich der unwilligen Mithörer bewusst wird.
    Dann kann sie sofort nicht mehr mitmachen, weil ihr Spass auf Kosten anderer unerträglich ist.
    Wenn ihr dann erklärt wird, dass die Party nur einmal im Jahr stattfindet und die Nachbarn auf ihren Parties keineswegs leiser sind, lässt sie sich allerdings zum Dableiben überreden.
    Hier ist jetzt der Schritt vollzogen, wo der Verstand ins Spiel kommt und der kategorische Imperativ gilt.
    Unsere Gefühlsethikerin unter ihresgleichen wäre allerdings von selbst nie auf die Idee gekommen, auf ihrer Geburtstagsfeier die Lautstärke aufzudrehen, da hätte eine Abwägung gar nicht erst stattgefunden.
    Kann/darf man hier trotzdem von Ethik sprechen?
    Ich meine schon, da Handlungen bewertet werden, wenn auch zuerst intuitiv und ohne Verallgemeinerung (Das kann man natürlich auch ganz anders sehen/definieren).

    Diese respektvolle Grundhaltung (die nicht allen so ohne weiteres zugänglich ist) hat mit dem historischen Jesus von Nazareth einen idealtypischen Protagonisten.
    Nun ist die Bibel ein Kompendium sich widersprechender Stammesethiken im Übergang vom Nomadischen zum Pastoralen, und auch der Absolutheitsanspruch des Theismus hilft nicht weiter, aber man kann die Bergpredigt durchaus als Apell an das Respektsgefühl verstehen. Interessant sind die selbstperformativen Widersprüche, die sich daraus ergeben.
    Jesus ruft zur allgemeinen Liebe auf und droht allen, die sich nicht fügen, die Hölle an.
    Das macht erstmal keinen Sinn, aber wenn er Gottes Sohn ist, darf er das natürlich.
    Macht es aber aus der Gottperspektive Sinn, den Eigengeschöpfen Respekt zu zollen, durch Sendung des Sohnes zwecks besserer Erklärung der ethischen Forderungen, nur um den Unverständigen diesen Respekt gleich wieder zu entziehen?
    Oder aber „Gott ist die Liebe”, dann ist aber nicht nur Jesus, sondern jede/r Liebende Gottes Kind, vor allem aber Gott nicht personifizierbar und der dogmatische Glaube unnötig.
    Ebenfalls Sinn macht das aus atheistischer Sicht, ein junger Mann hat für sich eine Lösung gefunden, will die Gute Nachricht sofort verbreiten und geht im jugendlichen Überschwang etwas zu weit.
    Nun hat das ja erstmal nicht funktioniert, es gab viele interessierte Zuhörer, aber keiner, nicht mal die Jünger, konnte mit der geforderten Rigorosität nachfolgen.
    Die Obrigkeit witterte systemische Gefahr für ihre Interpretationshoheit und liess ihn hinrichten, was dann den Nachfolgern den nötigen emotionalen Schub gegeben hat und es bildete sich eine pazifistische Sekte von Urchristen, eine kleine Minderheit, aber doch ein systemischer Erfolg.
    Als sie später an die Macht kamen, musste das Liebesgebot allerdings marginalisiert wedren, weil es mit dem System nicht kompatibel war.

    Es hat allerdings zu allen Zeiten ernsthafte Vertreter der Liebes- bzw Respektsethik gegeben (zB im Kloster), immer in der Minderheit und nie an der Spitze, wo man das Ergebnis systemischen Konkurrenzdrucks vorfindet.
    Gefühle kann man niemandem vorschreiben, wie sich gezeigt hat (oder schon vorher hätte klar sein sollen?), aber funktioniert die Respektsethik dann wirklich nur für diejenigen, die „von Natur“ ein schwaches Ego mitbekommen haben?
    Es gibt Personen, die im Laufe ihrer Entwicklung, häufig nach einschneidenden Verlusterlebnissen, dem Konkurrenzkampf absagen und sich der Caritas widmen.
    Kinder, die in entsprechendem Umfeld aufwachsen, tendieren zur Übernahme der vorgelebten Haltung und dann gibt es natürlich erfolgreiche Traditionen spiritueller Praxis, aber wieder auch nur für die, die schon eine Neigung in die Richtung haben und sich dafür entscheiden.
    Aus Respekt kann ich von niemandem Respekt fordern.
    Allerdings muss ich mich Forderungen, meinen Verstand in bestimmter Art und Weise anzuwenden, nicht unbedingt beugen.
    Diese Position lege ich nicht dar, um dafür zu werben, sondern weil ich sie für konsistent halte, in bezug auf den Ökologismus für relevant (da müsste ich dann noch weitergehende Ausführungen machen) und ich sie auch bei manchen anderen vermute.

    Wenn wir hier Naturethik diskutieren, können wir auch nicht nur bei Kant bleiben, sondern müssen uns notwendig mit Schelling befassen, der ein komplettes System vorgelegt hat, inklusive Evolution, Selbstorganisation und Pantheismus bis hin zur Einordnung der Ästhetik, das von seinen Zeitgenossen weitgehend übergangen worden ist, aber über die Zeit an Relevanz nichts verloren hat.

  8. @Suse: Kann man auch Gefühle bewerten ?

    NICHTS gehört dem “Einzelnen” GRUNDSÄTZLICH allein, sogar seine Gedanken und Gefühle nicht, weil auch diese IMMER abhängig von der “Werte”-Gemeinschaft geprägt wachsen.

  9. “Man sollte nicht den Respekt vor dem Gesetz pflegen, sondern vor der Gerechtigkeit. Das Gesetz hat die Menschen nicht um ein Jota gerechter gemacht; gerade durch ihren Respekt vor ihm werden auch die Wohlgesinnten jeden Tag zu Handlangern des Unrechts.
    Man sagt, dass vereinte Masse kein Gewissen hat – und das ist wahr genug; gewissenhafte Menschen aber verbinden sich zu einer Vereinigung mit Gewissen.” (Henry David Thoreau)

  10. @ Ludwig Trepl

    Interessanter und im Kern optimistischer Artikel.

    @ Suse

    “Hier braucht es keinen Chef, sondern nur Älteste, die das Gespräch moderieren, ohne Befehlsgewalt, ….”

    In solchen Kleingemeinschaften dürften aber auch äußerst restriktive Vorstellungen darüber herrschen , wie der Einzelne sich in den Verband einzuordnen hat , eine In-Frage-Stellung der Lebensweise dürfte kaum möglich sein.

    “Es gibt aber immer wieder Personen, die von Natur aus eine respektvolle Haltung zeigen, ganz ohne Reflexion (und ganz nach oben kommen sie damit eher nicht).
    Darf man denn in diesen Fällen, wo Motive nicht aus Verstandesgründen uneigennützig sind, nicht von ethischem Verhalten sprechen?”

    Interessante Aussage, einer der wesentlichen Gründe für die zunehmende Schieflage in den westlichen Gesellschaften , wer sich “zu” menschlich verhält , hat keine Chance , aufzusteigen , mit dem Ergebnis , daß wir die “Eliten” haben, die wir haben.

  11. Kann man auch Gefühle bewerten ?

    Lieber Herr Trepl, vielen Dank für diese ausführliche und sorgfältige Darlegung.
    Kant im Originaltext habe ich nie verstanden, daher ist Ihre Hilfe hier für mich besonders wertvoll.

    Meine Einwände beziehen sich auf die Allgemeingültigkeit der Vernunft.
    Die von Ihnen verfolgte Argumentationslinie, dass der eigene Wille, im Kontext des Willens der anderen, logisch zu einer gegenseitigen Rücksichtnahme führen muss, gilt eben nur für die Vernunftwesen, die auch soweit denken.
    Zwischen diesen und jenen, „die nur auf Reize mechanisch reagieren” sehe ich ein weites Feld mit Platz für Gefühl und Intuition und der Möglichkeit, Handlungen zu bewerten, ohne auf Gesetzeskonstruktionen zurückgreifen zu müssen oder den „Willen” entsprechend eng zu definieren.
    Hier können Sie einwenden, das sei dann nicht mehr Gegenstand der Ethik, sondern eine andere Kategorie.
    Ich hätte dann nicht schreiben dürfen, Ethik beginne mit dem Gefühl des Respekts, aber vielleicht von Respekt als Vorraussetzung von Moral ?
    Wenn wir hier diskutieren, sind wir allerdings auf dem Niveau, wo wir Gesetzmässigkeiten beschreiben und damit im Gültigkeitsbereich kantischer Vernunftethik, hier erkenne ich sie auch an.
    In der Realität sehe ich das aber selten gegeben, hier handeln Menschen nach dem Gefühl, solange sie damit weiterkommen und nehmen darüberhinaus intuitive Bewertungen vor, die eventuell nicht konsistent sind bzw begründet werden können, manchmal aber trotzdem funktionierende Regelungen ergeben.
    Das gehört für mich auch zur Ethik als Lehre von der Bewertung menschlichen Handelns, selbst wenn es sich nicht in einen rationalen Rahmen fügen will.

    Dann geht es auch um die Definition und das Bewusstsein des „Ich”, das den eigenen Willen erkennt und dann reflektiert.
    Vor noch nicht allzu langer Zeit gab es den aufgeklärten Individualismus, der dem zugrunde liegt, so noch nicht.
    Vielmehr waren die Gesellschaften kollektivistischer, also das Gruppeninteresse überwog das Eigeninteresse.
    Man muss sich vorstellen, dass die Menschen in einem funktionierenden starken Gruppenverband gar kein solch starkes Ich-Bewusstsein ausbilden, wie dass heute für uns selbstverständlich ist und dementsprechend keinen Willen für sich definieren, der dann wieder verallgemeinert werden müsste.
    In diesem Kontext konnte man auf logische Regeln für den Umgang mit dem Eigeninteresse verzichten und zB religiöse Gebote in Listenform vorhalten, einfach dem „Recht des Stärkeren” freien Lauf lassen oder eben auf das Respektsgefühl setzen.
    Psychologisch gesehen funktioniert heute noch die Kernfamilie nach diesem Muster.
    Wenn man einen jungen Vater bei einem familienrelevanten Thema fragt: “Was willst DU denn am liebsten ?”,
    so wird er antworten: “Ich will, was für UNS am besten ist!”, also hier tritt die Eigenidentität hinter die Familienidentität zurück.
    Innerhalb der Familie kann sich eine Form des Miteinanders entwickeln, wo jeder automatisch auf jeden Rücksicht nimmt und Probleme gar nicht erst aufkommen (es sei denn von aussen).
    Da ist ein logisches Regelungskonzept gar nicht nötig.
    Wenn jetzt doch ein Problem auftaucht, muss dann die Familienidentität aufgegeben werden zugunsten der Schaffung eines Verhandlungsraumes für die Eigeninteressen ?
    Ich behaupte, man braucht das nicht sondern kann das mittels „Gefühlsabgleich” in Angriff nehmen.
    Das ist jetzt extrem schwammig formuliert.
    Alle Motivationen kommen aus dem Unterbewusstsein und nur die wenigsten kommen bis ins Bewusstsein, also auf die Reflexionsebene und damit auch in den Bereich, wo man intersubjektiv per Diskurs verhandeln kann.
    Für das Funktionieren der Gruppe sind aber gerade auch die unbewusst bleibenden wesentlich und deshalb sind hier Gefühl bzw Intuition im Vorteil.
    In grossräumigen (wirtschaftlichen) Verteilungssystemen, wo nicht mehr jeder jeden kennt, kann das natürlich nicht funktionieren und in einer Leistungsgesellschaft mit ungenügendem Arbeitsplatzangebot, wo schon die Kinder ein „gesundes Selbstbewusstsein” und Durchsetzungsfähigkeit antrainiert bekommen (müssen), werden auch viele Kleinfamilien daran scheitern.
    Wenn es denn aber funktioniert, stellt diese intuitive Rücksichtnahme für mich bereits moralisches Verhalten dar, Verstösse werden als Verletzungen des Respektsgebots empfunden und können entsprechend kommuniziert werden, ohne bis auf die Ebene allgemeiner Regeln klettern zu müssen.

    In nicht patriarchal-autoritären Dorf- oder Stammesgemeinschaft treffen sich Vertreter aller Familien regelmässig zum Palaver.
    Hier braucht es keinen Chef, sondern nur Älteste, die das Gespräch moderieren, ohne Befehlsgewalt, mit dem äussersten Mittel, eine Abstimmung ansetzen zu können, wenn sich kein Konsens herstellen lässt, der Diskurs also gescheitert ist.
    Der Trick hierbei ist, das durch das Palaver jeder jeden genau kennenlernt und dann gar nicht mehr anders kann, als schon bei der Willensbildung die Absichten der Anderen zu berücksichtigen, und gerade auch wenn diese nicht respektiert werden.
    Der starke Jäger könnte sich hier aufgrund seines Kompetenzvorteils mehr herausnehmen, aber nie soviel, dass er am Ende isoliert dasteht.
    Im Ergebnis ergibt sich ein funktionierendes Regelsystem unabhängig von Eigennutzmotiven Einzelner und im Laufe der Jahre erwerben die Beteiligten tiefen Respekt vor dem so entstandenen Funktionssystem und auch voreinander, bis sie aufgrund der Ausstrahlung dieser Respektshaltung sich selber als Älteste, also Diskursmoderatoren qualifizieren.
    Wenn eine Person sich auf dem Umweg über gescheiterte Eigennutzeskapaden eine solche Respektshaltung angeeignet hat, dann kommt sie eventuell wie Kant zu dem Schluss, das schon aus Vernunftgründen Handlungsmaximen verallgemeinerbar sein müssen.
    Es gibt aber immer wieder Personen, die von Natur aus eine respektvolle Haltung zeigen, ganz ohne Reflexion (und ganz nach oben kommen sie damit eher nicht).
    Darf man denn in diesen Fällen, wo Motive nicht aus Verstandesgründen uneigennützig sind, nicht von ethischem Verhalten sprechen?

    Ich will natürlich am Ende darauf hinaus, dass man das Respektsgefühl auch ausdehnen kann, bis es die „Naturdinge” umfasst.
    Da müsste ich dann näher auf die Bergpredigt, den Animismus und schliesslich den Panpsychismus eingehen.
    Das wird hier alles auf einmal zu viel, deswegen halte ich erstmal inne.