Der Spezialist als Universalgelehrter
BLOG: Landschaft & Oekologie
„Mein verehrter Lehrer in Bodenkunde, Professor B., sagte einst mit Recht: Wer nicht die Bodenkunde von der Pike auf gelernt und mindestens zehn Jahre betrieben hat, habe in Fachfragen noch nicht mitzureden. Kam das Thema dann einmal von der Bodenkunde zur Ökonomie, dann hatte Bodenkundler Professor B. (weniger zu Recht) als Erster eine Meinung, wusste alles besser und ließ sich durch nichts belehren.“[1] (Hampicke 2011)
Ulrich Hampicke hat Agrarwissenschaften studiert, sich auf Ökonomie spezialisiert, war Professor erst in Kassel, dann bis zu seiner Emeritierung in Greifswald. Der verehrte Lehrer war, wenn ich mich nicht irre, der selbe Professor B., der auch mir Bodenkunde beizubringen versuchte.
Die Beobachtung, die Hampicke hier mitteilt, hat jeder Nicht-Naturwissenschaftler schon gemacht, der sich etwa in interdisziplinären Projekten oder in Universitätsgremien mit Naturwissenschaftlern abgeben mußte. So wie sich Professor B. verhält, verhalten sich seine Kollegen zwar nicht immer, aber doch sehr oft. Sie haben, beispielsweise, als Bürger eine Meinung zu einer Frage, in der sich Ökonomen, Soziologen oder Politologen, die mit in der Runde sitzen, von Berufs wegen auskennen. Die Naturwissenschaftler sind offenbar nicht in der Lage zu erkennen, daß der Besitz dieser Meinung sie noch nicht qualifiziert, in einer wissenschaftlichen Diskussion über den Gegenstand, auf den sich diese Meinung richtet, mitzureden. Sie verhalten sich wie einer, der von seiner Großmutter die Meinung übernommen hat, daß Pfefferminze gegen Gallenleiden hilft und nun glaubt, unter Internisten und Physiologen mithalten zu können. – So einer dürfte selten sein. Daß gar ein Wissenschaftler, der nicht Naturwissenschaftler ist, an seiner Meinung über eine naturwissenschaftliche Frage stur festhält, egal was die zuständigen Naturwissenschaftler sagen, kommt praktisch überhaupt nicht vor. Mir ist das jedenfalls noch nie begegnet. Aber den Naturwissenschaftler, der in Fragen der Ökonomie als Erster eine Meinung hat, alles besser weiß und sich durch nichts belehren läßt, gibt es und er scheint mir häufiger zu sein als der, der bescheiden gesteht: Davon verstehe ich nichts, denn ich habe das Fach nicht zehn Jahre lang betrieben, ja, nicht einmal studiert.
Nicht selten ist es, daß Naturwissenschaftler glauben, die ökonomischen, soziologischen usw. Fragen mit ihren eigenen Mitteln, also naturwissenschaftlichen, beantworten zu können. Hier wirkt der szientifische Naturalismus, der unter Naturwissenschaftlern eine Art Fachideologie ist, deren Funktion vor allem darin liegt, das Selbstwertgefühl zu heben. In jüngerer Zeit ist er jedoch unter Leuten in Mode gekommen, die gar keine Naturwissenschaftler sind, wohl aber von der Naturwissenschaft überaus beeindruckt. Mit diesem Thema habe ich mich in mehreren Blogartikeln (z. B. in diesem) befaßt; hier will ich es aussparen. Mich interessiert jetzt nur ein, wie es scheint, viel trivialerer Sachverhalt – trivialer, weil man nicht eine fast zweieinhalbtausendjährige Diskussion einigermaßen kennen müßte, wie es der Fall ist, wenn man über die Naturalismusfrage eine nicht ganz irrelevante Meinung äußern will: der Sachverhalt, daß Wissenschaftler, von denen man doch meinen sollte, in ihnen habe sich im Laufe ihrer langen und schweren Ausbildung doch ein gewisser Respekt vor dem Wert einer solchen entwickelt, so daß sie den Gedanken fassen können müßten, man könne mit seinen durch Zeitungslesen erworbenen Meinungen zu einer ökonomischen Frage doch nicht ganz mit einem mithalten, der Ökonomie studiert hat und seit zehn Jahren zu dieser Frage forscht. Aber diesen Gedanken können sie offenbar nicht fassen. Wie kommt das?
Ganz verstehen kann ich es nicht, nur einige mögliche Teilerklärungen fallen mir ein. Liegt es an der extremen Engführung der Ausbildung zum Naturwissenschaftler? Man erfährt ja in der Regel nicht, daß es eine wissenschaftliche Welt außerhalb der Naturwissenschaft gibt, man setzt ganz bedenkenlos Wissenschaft mit Naturwissenschaft gleich; manche meinen sogar, ein Buch, das keine Formeln enthält, könne kein wissenschaftliches sein. Oder liegt es daran, daß man im allgemeinen mitbekommen hat, daß es in den Geistes- und Sozialwissenschaften viel weniger als in den Naturwissenschaften so etwas gibt wie einen Stand der Forschung, über den sich momentan fast alle einig sind, sondern viel häufiger streitende Schulen u. dgl.? Und daß man daraus etwas kühn schließt: Wenn man sich ohnehin nicht einig ist – warum soll dann meine der Zeitung entnommene Meinung nicht genauso gelten wie jede andere? Oder liegt es an der verbreiteten Vorstellung, Wissenschaftlichkeit sei dasselbe wie Exaktheit und Exaktheit dasselbe wie möglichst genaue Quantifizierbarkeit? Daß man also z. B. kaum mitbekommt, daß es auch eine andere Art von Exaktheit gibt – jene, die man etwa der Sprache der Juristen nachrühmt, eine Präzision des Begriffsgebrauchs, die man in den Naturwissenschaften nicht annähernd kennt? Oder liegt es daran, daß man auf Gebieten, wo man meinen sollte, daß z. B. geisteswissenschaftliche Kompetenz etwas bringen müßte, nämlich Erfolg, die Erfahrung macht, daß sie gar nichts bringt? Denn wenn es z. B. in Universitätsgremien um Fragen der Bildung geht – ein geisteswissenschaftlicher Gegenstand –, dann setzen sich im allgemeinen keineswegs diejenigen durch, die von ihrem Fach her etwas davon verstehen müßten, eher ist das Gegenteil der Fall.
Es gibt sicher noch weit mehr Erklärungsmöglichkeiten. Hat jemand Ideen?
[1] Ulrich Hampicke 2011: Wie teuer ist ein Blaukehlchen? Auch Ökonomie ist eine Wissenschaft. Naturschutz und Landschaftsplanung 43 (7), 2011, 218-224, ISSN 0940-6808
@Ludwig Trepl
»Die Behauptung, daß ein Elefant größer ist als eine Maus, muß man nicht durch Messungen belegen. «
Aber jemandem, der weder Maus noch Elefant kennt, sollte man von jeder Sorte ein typisches Exemplar zeigen, damit er’s glaubt.
Mir scheint es ja eher so zu sein, als würde behauptet, Pflanze A sei typischerweise immer größer als Pflanze B, wobei aber völlig offen ist, ob nicht zufällig der jeweilige Standort für den reklamierten Größenunterschied verantwortlich ist.
Ich kenne nur ein Beispiel, wo sich mal ein Laie (Naturwissenschaftler?) zu einem ökonomischen Thema was geschrieben hat, was dann von einem gestanden Ökonomen in der Luft zerrissen wurde (Namen sind mir nicht mehr erinnerlich, aber ich meine, Sie hätten mal von dieser Geschichte berichtet).
Um es kurz zu machen: Die subjektiven Erfahrungen eines Einzelnen, die man aufgrund einer anderen Lebensgeschichte so nicht teilen kann, kann man halt nur interessiert oder staunend zur Kenntnis nehmen, und nur schlecht eingehend diskutieren. Es gibt eben auch Kulturwissenschaftler, die mir nicht zu dem von Ihnen gezeichneten Bild zu passen scheinen, und die sich m. E. genau so verhalten, wie Sie es dem typischen Naturwissenschaftler vorwerfen. Aber gut, vielleicht sind das dann nicht die typischen Geisteswissenschaftler.
Das nur als erklärendes Schlusswort, weshalb es mir schwerfällt, substanzielles zu diesem Thema beizutragen.
@L.Trepl, @Balanus: Streit der Weisen
Dem stimme ich vollkommen zu. Allerdings hängt mir dieses Problem auch wieder mit dem Thema zusammen: Wissenschaften neben den harten Naturwissenschaften haben sich bisher kein kohärentes System ihrer eigenen Wissenschaft oder gar ihrer Bezüge zu anderen Wissenschaften erarbeitet – und man redet ihnen (aus meiner Sicht wenigstens auch darum) ständig rein. Denn letztlich erscheint das so wie es der Naturwissenschaftler @Balanus schreibt: Geisteswissenschaften sind alle Wissenschaften, die sich mit den Hervorbringungen des menschlichen Geistes beschäftigen. (Obleich ja auch die Modelle der Naturwissenschaften derartige Hervorbringungen sind.)
Vielleicht ist ein System auch gar nicht möglich, gewiss kein definitives, aber dynamische Arbeitstheorien scheinen mir schon denkbar. Dabei ist mir die Einteilung in Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften (so verbreitet sie auch sein mag) nicht wirklich hilfreich, denn sie verwischt die entscheidenden Grenzen – was Sie oben angesprochen haben und was selbst Wikipedia zu berichten weiß: In den Sozialwissenschaften vermischen sich die Methoden von Natur- und Geisteswissenschaften.
Daher ist mir die besagte Dreiteilung hilfreicher – auch wenn sie genau das tut, was Ihnen wohl suspekt ist, eine Zerlegung in Bestandteile. Aber diese Zerlegung erscheint mir einleuchtend (wenn nicht sogar zwingend) und jedenfalls auf alle Wissenschaften mit Gewinn anwendbar: Regelerkenntnis – Sinnverstehen – Normableitung.
Hier muss ich nachfragen. Denn was für Sie die jeweilige Methode ist, ist relativ klar. Aber wie definieren Sie den jeweiligen Gegenstand?
Zuächst haben Sie Recht, was die Zuordnung betrifft – jedenfalls, wenn man Wikipedia zum Maßstab nimmt: Dann ist meine Tätigkeit allein sozialwissenschaftlich(-philosopisch). Allerdings habe ich fast nichts mit Empirie zu tun, es sei denn auch die theoretische Untersuchung empirischer fundierter Ergebnisse zählte dazu. Und wenn es nach dem Wissenschaftsrat geht, dann bin ich allein und definitiv Geisteswissenschafter. Im obengenannten Dreieck würde ich mich allerdings nicht wirklich zuordnen wollen, denn es geht mir sowohl um Regelerkenntnis als auch um Sinnverstehen als auch um Normableitung.
Ob von Ihnen angesprochene Zerhacken allerdings zwingend Vernaturwissenschaftlichung ist, das wage ich zu bezweifeln. Dabei meine ich nicht die von Ihnen ganz in meinem Sinne kritisierte isolierte Datenerhebung, nicht den jedenfalls manchmal zweifelhaften IT-Einsatz und nicht den Schmalspur-Fernseh-Historiker. Dort geht zuviel verloren.
Mir geht es hingegen um ein gewinnendes Zerlegen mit Hintergrund, was aus meiner Sicht erst zu wirklicher Wissenschaft führt – weil erst dort nämlich Ergebnisse relativ objektiv nachvollziehbar werden. Denn die von Ihnen als frei bezweichneten Methoden beruhen eben leider oft noch auf zu großem Teil an Intuition, die nicht objektivierbar ist. Daher muss man dort intuitiv richtig denkender Fachmann sein, sonst wird es “Murks”.
Ihr Vergleich mit Rechenfehlern ist mir dort auch wieder sehr treffend: Es wird in beiden Fällen das Experiment interpretiert.
In den formalisierten Wissenschaften nach rationalen Regeln – also ist die Interpretation von Jedermann mit diesen Regeln nachvollziehbar.
In den nicht formalisierten Wissenschaften nach intuitiven Regeln – also ist die Interpretation eben gerade nicht objektiv nachvollziehbar, sondern bestenfalls intersubjektiv von jenen Personen, deren Intuition ähnlich geschult ist. Sonst passieren halt einen Unzahl von Rechenfehlern. NUR: Wie zu rechnen ist, das ist den nicht formalisierenden Wissenschaftlern selbst nicht bekannt, sie fühlen es nur. Und sie können es Anderen auch nicht erklären – sondern diese nur auf Berge von Büchern verweisen.
In gewissem Maße zu Recht: Nach diesen Bergen von Büchern ist die Regelerkennungsmaschine (Intuition) des Anderen genauso geeicht wie die eigene. Man kommt dann zu ähnlichen Ergebnissen, man versteht sich.
Nur hat das nichts mehr mit Objektivität zu tun, nicht mit einem Erreichen von Wahrheit oder überhaupt Erkenntnis, sondern das ist eine selbsterfüllende Prophezeiung: Egal zu welchen Theorien man diesen Menschen schult – er wird sie immer als seine erkennen, wenn sich ihm keine Alternativen bieten. Und mit einen umfangreichen und langem Studium erreicht man genau das, der Studierende hat keine Zeit mehr für Alternativen.
Ersterem stimme ich dann vollkommen zu – es geht letztlich immer um die richtige Formung des gesamten Menschen. Letzterem stimme ich daher aber nicht zu – es geht vielleicht methodisch zu und ist vielleicht auch komplizierter, aber nicht mehr wirklich wissenschaftlich. Geschaffen werden nämlich nicht Erkenntnisse, sondern (scheinbar) Erkennende.
Zwei kurze Einwände, denn das führte eigentlich in ein ganz neues Blogthema. Zunächst verweise ich auf die Psychologie und ihre Erkenntnisse von der Objektivität subjektiver Erkenntnisse – mit dem Verfahren der Geisteswissenschaften würden wir heute noch glauben, dass diese zwei Strecken unterschiedlich lang sind. Zahleiche weitere Fehler der menschlichen Heuristik hat Kahneman in einem Buch zusammengestellt: Thinking, Fast and Slow. Der Eindruck, auch aus tausenden Quellen, ist also sehr subjektiv-einseitig – der Fokus bei jeder Aufnahme einer Quelle sehr selektiv.
Außerdem: Das könnte sich ja möglicherweise durch die Vielzahl der Betrachter ausgleichen – nur führt hier Ihr Blogthema die Unmöglichkeit ein. Wer etwas anders (etwa als Naturwissenschaftler) interpretiert, der tut das ja aus Sicht der Geisteswissenschaftler unberechtigt. Was er ja bei entsprechender Bildung auch erkennen würde (stimmt, denn Bildung formt in eine Richtung): Um mitreden zu dürfen, muss er sich vorher durch Unmengen von Büchern mit den bisherigen Sichtweisen kämpfen – und danach hat er (gewollt oder nicht) garantiert die bisherige Perspektive weitgehend übernommen.
Letztlich meinen die nicht formellen Wissenschaften daher, sie würden umfassendere Erkenntnisse gewinnen. Dabei gewinnen sie zwar gewiss breitere und vielleicht sogar teils tiefere – aber gewiss meist einseitigere. Sie sind sich nicht bewusst, dass sie jeden von ihnen akzeptierten Wissenschaftler durch dasselbe Nadelöhr zwingen – und ihm damit genau dieselben Aspekte der Sache als offensichtlichste oder wichtigste darlegen, die ihnen die offensichtlichsten oder wichtigsten waren. Den im Elefantengleichnis beschriebenen, horizonterweiternden Streit der Weisen umgehen sie damit ganz bewußt – je nach wahl der Disziplin werden Nachfolger auf die Stoßzähne gestoßen, auf die Flanke, auf ein Bein, auf den Rüssel, auf ein Ohr oder auf den Schwanz…
Das bestätigt
…den Veranstaltungscharakter der geisteswissenschaftlichen Bemühung.
Im sozialen Gerühre können Mehrheiten gebildet werden und Einsichten sozusagen meta-empirisch zustande kommen.
Das ist auch kein Problem, man nennt es ja auch Geisteswissenschaft, die Beschäftigung mit dem Geist bzw. mit aggregierten sozial interagierenden Welten [1] der Erkenntnissubjekte.
Wichtich aber den Veranstaltungscharakter anzunehmen, der Geist kann nicht so “hart” beforscht werden wie die Sache oder vielleicht besser: Wirklichkeit.
—
Andererseits wird so natürlich auch klar, warum welche -nicht immer als passend empfunden- reinreden.
MFG
Dr. W
[1] die Welt der E-Subjekts ist nicht dieselbe wie die Welt des Seins oder der Wirkung
@ Balanus
„Als Wissenschaftler, die wir sind, müssten wir uns hier die genauen Zahlen anschauen, bevor wir uns weiter zu diesem Punkt äußern. Worauf beruhen unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen?“
Müßten wir uns wirklich die genauen Zahlen anschauen? Die Behauptung, daß ein Elefant größer ist als eine Maus, muß man nicht durch Messungen belegen. – Ich gehe einfach von meiner Beobachtung aus: In Jahrzehnten des Herumsitzens in irgendwelchen Gremien und Gruppen, denen sowohl Geistes- und Sozialwissenschaftler als auch Naturwissenschaftler angehörten, habe ich es noch nie erlebt, daß die ersteren sich in naturwissenschaftliche Fragen einmischten (ich habe es auch noch nie gelesen), das Umgekehrte aber erlebte ich immerzu. Ich halte die Wahrscheinlichkeit, es könnte sich herausstellen, daß es anders ist, wenn man nur ordentlich nachforschte, für vernachlässigbar gering.
„Aber es bleiben doch eben Interpretationen, so fundiert sie auch sein mögen.“
Na ja: Interpretieren müssen Naturwissenschaftler ihre Beobachtungen und Experimente auch, und im Interpretieren pflegen Geisteswissenschaftler wissenschaftlicher zu sein, sie haben da wissenschaftlichen Methoden, Naturwissenschaftler interpretieren eher “frei”. Wenn ich in meinem früheren Leben einen Befund zu interpretieren hatte („warum wächst diese Pflanze hier, dort aber nicht?“), so geschah da viel stärker aus dem Alltagsverstand heraus, mit weniger methodischem Bewußtsein, als wenn z. B. ein Historiker Quellen interpretiert. – Was die Naturwissenschaften typischerweise „härter“ macht, ist, daß sie Daten haben, daß die Sachverhalte, von denen sie ausgehen, idealerweise beobachterunabhängig feststehen und reproduzierbar sind. Natürlich gibt es Daten (etwa archäologische) in den Geisteswissenschaften auch, aber sie spielen bei weitem nicht eine so große Rolle. Ein typisches Vorgehen in den Geisteswissenschaften ist das phänomenologische: Ich gebe meinen subjektiven Eindruck wieder, z. B.: In diesem Land, in dieser Epoche ist der Einfluß des Katholizismus groß. Der typische Geisteswissenschaftler belegt das nicht durch Daten, etwa mit Umfragewerten oder Zahlen von Kirchgängern, sondern sein Objektivierungsverfahren ist: Er stellt diesen Eindruck, der sich aus tausend Quellen speist – je mehr Lebenserfahrung und „Bildung“ er hat, um so mehr – zur Diskussion. Er wird bestätigt, zurückgewiesen, modifiziert. Auf diese Weise kommt man zu weitaus differenzierteren und „tieferen“ Ergebnissen als wenn man formal-naturwissenschaftliche Methoden (Datenerhebung, statistische Sicherung) anwenden würde. Aber auf der anderen Seite findet man im Einzelnen nie sicheren Grund, man kann nicht sagen: genau 83,6 % haben sich zum Katholizismus bekannt, das steht unverrückbar fest. Doch man kann sehr viel dazu sagen, was dieses „Bekennen“ bedeutet (und ob diese 83,6 % überhaupt etwas bedeuten).
„Die vorstehenden Überlegungen sind natürlich sehr knapp, pauschal und grob verallgemeinernd. Aber das liegt nicht nur an mir, sondern auch am Blog-Thema.“
Ja, geht mir auch so. Wenn ich sonst etwas schreibe, kenne ich mich im allgemeinen mit dem Thema recht gut aus. Aber hier schwimme ich, rate herum, und ich finde keine Erklärung, die mich einigermaßen befriedigt. Das Faktum ist aber doch so auffällig und das Thema von beträchtlicher Relevanz, so daß man eigentlich erwarten sollte, daß es dazu eine Menge vor allem soziologischer Untersuchungen gibt; ich kenne sie nur nicht.
@Ludwig Trepl
Mit „Geisteswissenschaften“ habe ich jene Wissenschaften gemeint, die sich, im Gegensatz zu den Naturwissenschaften, mit den Hervorbringungen des menschlichen Geistes beschäftigen, diese verstehen und auslegen wollen. Mir scheint, es liegt in der Natur der Sache, dass es hierbei sehr viel größere Spielräume gibt, als auf einem naturwissenschaftlichen Gebiet. Schließlich ist der menschliche Geist nicht direkt zugänglich, sondern nur seine Äußerungen und Ausprägungen. Und wenn es dann noch um Geschichtliches geht, wenn Personen also nicht mehr nach ihren Motiven und Vorstellungen befragt werden können, verschärft sich das Problem mit dem richtigen Verständnis und der korrekten Interpretation um ein Weiteres.
Sie halten meine Auffassung, dass wohl auch Geisteswissenschaftler auf fachfremden Gebieten hin und wieder unwissenschaftlich mitreden, für falsch. Als Wissenschaftler, die wir sind, müssten wir uns hier die genauen Zahlen anschauen, bevor wir uns weiter zu diesem Punkt äußern. Worauf beruhen unsere unterschiedlichen Wahrnehmungen? (Wobei ich, offen gestanden, eigentlich nur spekuliere, dass es so ist, wie ich vermute).
»Da liegen Sie ganz falsch, und da liegt der Grundirrtum der Naturwissenschaftler: Diese glauben in der Regel, die „Geisteswissenschaftler“ würden „frei“ theoretisieren und interpretieren, d. h. ohne Anwendung wissenschaftlicher Methoden. «
Ich habe ganz bewusst geschrieben: „In Wissenschaftsgebieten, wo es neben der Anwendung wissenschaftlicher Methoden auch noch freies Theoretisieren und Interpretieren gibt, …“.
Und das Wörtchen „frei“ ist natürlich nicht so zu verstehen, als müssten die Überlegungen nicht gewissen wissenschaftlichen Standards genügen. Aber es bleiben doch eben Interpretationen, so fundiert sie auch sein mögen. Und das, meine ich, verringert die Hemmschwelle für den Nichtfachmann, sich auf einem ihm fremden Gebiet zu äußern.
»Man stelle einem Nicht-Fachmann – sei es ein Naturwissenschaftler, sei es ein Student der Sozialwissenschaften in den Anfangssemestern – die Aufgabe, einen simplen Datensatz, der sich bei einer Meinungsumfrage über irgendwelche kulturelle oder politische Dinge ergeben hat, zu interpretieren. Aller Erfahrung nach ist das, was herauskommt, Satz für Satz falsch, einfach Murks, nicht weniger wissenschaftlich unhaltbar als etwa die Auswertung eines Experiments, die eine Unzahl von Rechenfehlern enthält. «
Eigentlich müsste der fachfremde Naturwissenschaftler hier eine weitergehende Interpretation der Daten verweigern, weil unwissenschaftlich. Beim Fachmann mag das anders aussehen, weil er dank seiner Erfahrungen und Kenntnisse die Qualität und Aussagekraft der Daten besser einschätzen kann.
Die vorstehenden Überlegungen sind natürlich sehr knapp, pauschal und grob verallgemeinernd. Aber das liegt nicht nur an mir, sondern auch am Blog-Thema.
@ Balanus
„’reden … auf Gebieten mit, von denen sie nicht das Mindeste verstehen’. (Ich denke, alle tun das mehr oder weniger.”
Nicht ganz. Natürlich, auch Nicht-Wissenschaftler reden auf Gebieten mit, von denen sie nichts verstehen. Sie tun das sogar auf dem Gebiet der Naturwissenschaft, man denke an die „Theorien“, die unter den Leuten über medizinische Fragen im Umlauf sind. Aber Wissenschaftler sollten das nicht tun. Worauf ich aufmerksam machen wollte, ist, daß Wissenschaftler, nämlich Naturwissenschaftler, sich auf dem Gebiet bestimmter anderer Wissenschaften als dem d eigenen sich verhalten wie Nichtwissenschaftler.
Nun behaupten Sie, daß Geisteswissenschaftler das auch tun, und zwar außer auf naturwissenschaftlichem Gebiet. (Ich vermute, mit „Geisteswissenschaftler“ meinen sie nicht nur Geisteswissenschaftler, sondern auch Sozialwissenschaftler und Philosophen.) Das halte ich für einen Irrtum. Sie reden auf dem eigenen Fach fremdem nicht-naturwissenschaftlichem Gebiet im allgemeinen nämlich nur so mit, wie es erlaubt ist. Man kann, bei einem gewissen Grad allgemeiner wissenschaftlicher Bildung, durchaus als Soziologe in der Kunstgeschichte oder der Ethnologie mitreden und umgekehrt. Man pflegt dann nämlich zu wissen, was man sagen kann und was nicht. Das ist nicht so viel anders als in den Naturwissenschaften. In Grenzen kann ein Biologe auch auf dem Gebiet der Geologie oder der Chemie mitreden. Er kennt diese Grenzen und hält sie ein – so wie der Soziologe, der auf dem Gebiet der Kunstgeschichte mitredet. Aber wenn der Biologe über Fragen der Soziologie mitredet, pflegt er keine Grenzen zu kennen.
„Auch Geisteswissenschaftler reden gerne mit auf Gebieten, von denen sie nicht das Mindeste verstehen, ausgenommen vielleicht das Gebiet der Naturwissenschaften. Weil dort ohne die Anwendung wissenschaftlicher Methoden kein Blumentopf zu gewinnen ist. In Wissenschaftsgebieten, wo es neben der Anwendung wissenschaftlicher Methoden auch noch freies Theoretisieren und Interpretieren gibt, fällt es offensichtlich leichter, seine eigenen Überlegungen und Überzeugungen einzubringen.“
Das ist es eben: Da liegen Sie ganz falsch, und da liegt der Grundirrtum der Naturwissenschaftler: Diese glauben in der Regel, die „Geisteswissenschaftler“ würden „frei“ theoretisieren und interpretieren, d. h. ohne Anwendung wissenschaftlicher Methoden. Sie erkennen nicht, daß dieses „freie“ Theoretisieren in der Anwendung wissenschaftlicher Methoden besteht. Sie können nur diese Methoden, vielleicht weil sie nicht oder wenig formalisiert sind, nicht als wissenschaftliche erkennen.
Man stelle einem Nicht-Fachmann – sei es ein Naturwissenschaftler, sei es ein Student der Sozialwissenschaften in den Anfangssemestern – die Aufgabe, einen simplen Datensatz, der sich bei einer Meinungsumfrage über irgendwelche kulturelle oder politische Dinge ergeben hat, zu interpretieren. Aller Erfahrung nach ist das, was herauskommt, Satz für Satz falsch, einfach Murks, nicht weniger wissenschaftlich unhaltbar als etwa die Auswertung eines Experiments, die eine Unzahl von Rechenfehlern enthält.
Der Unterschied ist nur: Die kann man dem, der sie macht, einen nach dem anderen leicht vorführen, und dann versteht er, daß er Fehler gemacht hat.
Das eben geht bei unserer Umfrage-Interpretationsaufgabe nicht. Man muß immer wieder sagen: Wenn du dich fünf Jahre lang durch einen Berg von Büchern gefressen hast, wird dir aufgehen, was dir jetzt unverständlich ist und unverständlich bleibt, selbst wenn ich es zu erklären versuche und du glaubst, es verstanden zu haben. Die Einzelfragen lassen sich eben nicht in dem Maße isolieren wie in den Naturwissenschaften, man ist ständig auf den gesamten, letztlich philosophischen und geistesgeschichtlichen Rahmen verwiesen. Und man lernt im Studium diese Methoden nicht einzeln, nacheinander, aufeinander aufbauend wie meist in den Naturwissenschaften, sondern ständig stürzt die Bekanntschaft mit dem einen Autor wieder um, was man über die anderen Autoren zu wissen glaubte. Es geht keineswegs weniger methodisch-wissenschaftlich zu, nur bedeutet Wissenschaftlichkeit hier etwas Komplizierteres.
Unbelehrbare Zeitgenossen
@Ludwig Trepl:
»Naturwissenschaftler reden, und zwar unbelehrbar, auf Gebieten mit, von denen sie nicht das Mindeste verstehen. «
Ich denke, alle tun das mehr oder weniger. Auch Geisteswissenschaftler reden gerne mit auf Gebieten, von denen sie nicht das Mindeste verstehen, ausgenommen vielleicht das Gebiet der Naturwissenschaften. Weil dort ohne die Anwendung wissenschaftlicher Methoden kein Blumentopf zu gewinnen ist. In Wissenschaftsgebieten, wo es neben der Anwendung wissenschaftlicher Methoden auch noch freies Theoretisieren und Interpretieren gibt, fällt es offensichtlich leichter, seine eigenen Überlegungen und Überzeugungen einzubringen.
Das muss eben
…nicht so schlimm sein, das war wohl auch die Artikel-Idee komprimiert wiedergegeben. Gell?
Wenn’s politisch wird, und in den G-Wissenschaften geschieht dies recht schnell und zuverlässig, ist beim gemeinsamen Herumgerühre letztlich und diskontierend die Meinung aller gefragt, auch wenn es nicht sein muss, dass alle alles sagen, korrekt.
MFG
Dr. W (der gerne auch inhaltsnah wie ergänzend auf diesen Text (“Typ 6”) verweist)
@ Noït Atiga
Ein Hauptproblem dieser Diskussion ist, daß man zwar im Hinblick auf Naturwissenschaft weitgehend dasselbe meint, in den ganzen Rest aber überaus Heterogenes hineinpackt. Mathematik ist keine Geisteswissenschaft, empirische Sozialforschung typischerweise auch nicht, Philosophie sowieso nicht; Sie haben ähnliches ja auch angesprochen. Und daß man Klassifizierungssysteme benutzt, die sich teilweise decken, aber eben nur teilweise. – Die meisten Naturwissenschaften sind normal sciences im Sinne von Kuhn, aber nicht alle. Die Toulmin’schen „kompakten Disziplinen“ decken sich teilweise, aber nicht ganz mit den Normalwissenschaften. Zu „Geisteswissenschaften“ wird in der Diskussion manches gerechnet, was zwar vom Gegenstand her da hingehört, methodisch aber Naturwissenschaft ist usw. Man müßte also immer viel ausführlicher und differenzierter schreiben, um nicht ständig falsch verstanden zu werden.
Mir scheint, daß ziemlich viel von dem, was Sie den Geisteswissenschaften (wohl eher den Sozialwissenschaften?) vorwerfen, Ergebnis des seit geraumer Zeit anhaltenden Prozesses der Vernaturwissenschaftlichung dieser Fächer ist. Das Zerhacken der Philosophie nach dem Muster der Naturwissenschaften in Teilstücke, die für sich, ohne jeweils das Ganze der Philosophie mit zu thematisieren, zu bearbeiten sind, ist Teil des neopositivistischen Programms, Russel soll es zuerst gefordert haben. Daß die Soziologie mittlerweile kaum mehr am Sinn dessen, was sie da tut, und an Theorie interessiert ist, sondern nur noch an Datenerhebung, wie zweitklassige Biologie, kommt daher, daß sie dem kulturellen Druck, der von den Naturwissenschaften ausgeht, nachgegeben hat. Über den Einfluß von IT im Alltags-, d. h. vor allem Antragsgeschäft von Sozial- und Geisteswissenschaften hat oben @ Martin Holzherr geschrieben. Dazu gehört auch: „Und Lehrbücher gibt es mittlerweile leider auch für die meisten Geistes- bzw. Sozialwissenschaften“. Es war selbstverständlich, daß man Schleiermacher und Carus im Original lesen muß, wenn man die Romantik studieren will, und daß man da nicht mit einem Lehrbuch pauken kann, weil es einfach nicht um im gleichen Sinne lehrbares Wissen geht wie etwa in der Geologie; aber man tut halt nun auch, was die „erfolgreichen“ Naturwissenschaften tun.
Das könnte man endlos fortsetzen. Die Folgen liegen auf der Hand. Was in der normalwissenschaftlichen Phase einer Naturwissenschaft möglich ist und sinnvoll, ist dies außerhalb der Naturwissenschaften (und in deren Krisen und Revolutionen) meistens nicht. Ein Historiker, der den Kontakt zur Philosophie verliert, wird zum Stümper und produziert sinnloses Zeug. Das ist bei einem Naturwissenschaftler anders. Kein Chemiker braucht den Kontakt zur Philosophie (also zu den jeweiligen „letzten Grundlagen“), um ein guter Chemiker zu sein. Der typische Fernseh-Historiker aber weiß inzwischen ebenfalls außer von seinem Spezialgebiet so gut wie nichts und erzählt auch für einen Laien wie mich erkennbar nur Stuß, wenn er seine Funde – die er fachmännisch, extrem akribisch zu datieren versteht – zu interpretieren anhebt.
Dennoch, all diese Entwicklungen haben nicht dazu geführt, daß die im obigen Hampicke-Zitat angesprochene Asymmetrie aufgehoben ist. Geistes- und Sozialwissenschaftler, selbst der eben zitierte typische Fernseh-Historiker, pflegen zu naturwissenschaftlichen Fragen zu schweigen, Naturwissenschaftler reden, und zwar unbelehrbar, auf Gebieten mit, von denen sie nicht das Mindeste verstehen.
Herr Trepl
Aber Sie wissen schon, dass ‘liberal’ in den Staaten der Code für “links” ist?!
MFG
Dr. W
IT in den Sozialwissenschaften
Herr Holzherr:
Wieder nicht schlecht beobachtet!, auch bspw. bei Umfragen werden bspw. verstärkt “Meinungen” aus den Wettbüros des Internets eingearbeitet, Stichwort: Nate Silver.
Google als “Alleswisser” (eine Übertreibung), als Psychologe der Massen, in diese Richtung wird es gehen…
Die Theoretisierung hat hintanzustehen, “wg. Komplexität”.
MFG
Dr. W
@Ludwig Trepl: Handwerk-Wissenschaft II
Das war zwar nicht intendiert – aber wundert mich nicht. Zu Poppers großen Zeiten war die Naturwissenschaft im Umbruch, ihm mein Idealwissenschaftler also Vorbild. Zu Kuhns großem Buch war die Naturwissenschaft in geregelten Bahnen – die Geisteswissenschaft hatte ob der Kriege Einiges aufzuarbeiten, war also im Umbruch. Während sich mir die Geisteswissenschaft heute in ruhigem, normalen Fahrwasser zu sicher fühlt – und oft nicht mehr die grundlegenden Bezüge kennt oder hinterfragt. Teils wird sogar allgemein konsentiert, dass die Zeit großer Theorien endgültig vorbei sei…
Allerdings: Der von Ihnen angeführte Bezug zur Philosophie etwa scheint mir kaum noch vorhanden. Wie soll er auch bei einem Studium, in dem nur noch die Schnelligkeit zählt?
Wenn ich ketzerisch formulieren darf: Ja, so ist es. Aber das liegt mir daran, dass Geisteswissenschaft/Philosophie zunehmend Normalwissenschaft ist. Also muss man einen ganz kleinen Bereich beackern, um überhaupt noch etwas zu (er)finden. Im Unterschied zur normalwissenschaftlichen Naturwissenschaft mangelt es aber an einer gescheiten Systematik, anhand derer Geisteswissenschaftler direkt in das Problem einsteigen könnten. Also müssen sie aus dem Wust des Vorhandenen erstmal ihre Fragestellung destillieren.
Aber das ist mir nur ein Rechtfertigungsproblem – kein Problem der faktischen Wissenschaft, oder gar der Wissenschaft.
Obwohl ich bei Ersterem mitgehen würde – bei Letzerem nicht mehr. Es gibt einige Ideen, die schnell entstehen und auch Erkenntnisse paradigmatischer Wissenschaften hinterfragen. Leonardo da Vinci hat Einiges in diese Richtung entdeckt. Und selbst heute dürfte das möglich sein, obwohl es wohl kaum publiziert würde (außer wie damals in Tagebüchern oder neu auf Blogs).
Vermutlich gehört das zu allen Normalwissenschaftlern. Das erklärte auch, warum ich das bisher für Geisteswissenschaftler verallgemeinert habe: Nur die sind mir in letzter Zeit in großer Zahl begegnet und meine naturwissenschaftlichen Vorbilder waren wohl alle solche von Krise oder Umbruch.
Allerdings sind viele heutige Geisteswissenschaftler nicht mehr mit den philosphischen Grundlagen vertraut, rückversichern sich nicht mehr, ja können es nicht mal mehr. Und das alles ohne Pradigmatisierung – was die Sache eben verwerflicher macht als in den Naturwissenschaften. In einem Paradigma zu argumentieren ist nicht problematisch. Die beschränkte eigene Sicht aber für die Wirklichkeit zu halten schon. (Und Lehrbücher gibt es mittlerweile leider auch für die meisten Geistes- bzw. Sozialwissenschaften.)
Ich bin nicht sicher, dass er da wirklich einen Unterschied zwischen kompakten und diffusen Wissenschaften beschreibt. Mir scheint eher, er schreibt von Normalwissenschaftlern und von Entdeckern. Die Disziplin scheint mir dabei nahezu beliebig austauschbar – vorausgesetzt, sie ist nicht so neu, dass Normalwissenschaft noch nicht denkbar ist.
Ist das wirklich ein Auszeichnungskriterium der Naturwissenschaftler – oder nicht doch nur eines der Normalwissenschaftler, egal welcher Disziplin? Denn wirkt nicht das Erfolgsgeheimnis der Naturwissenschaften – nämlich das rigorose Ausblenden – eigentlich in allen Normalwissenschaften? Ich könnte jedenfalls einige Geisteswissenschaftler benennen, die sich mehr zutrauen als entsprechend kompetente Fachvertreter jemals auch nur im Traume behaupten würden.
Kann insofern vielleicht sein: Darum erfolgt die Grenzverletzung, die hier das Thema ist, seitens der Normalwissenschaftler ja im allgemeinen auch in aller Unschuld: sie wissen nicht, daß man das nicht darf; das, was sie gelernt haben, erlaubt nicht, den fundamentalen Unterschied zwischen jenem Gegenstandswechsel Zwischen [X] und [Y] auf der einen Seite, und auf der anderen Seite den Gegenstandswechsel zwischen einer [A] und z. B. jener [B] Frage zu sehen.
@Ludwig Trepl: Feine Banausen II
Das wollte ich mit meiner Erklärung gar nicht bezweifeln. Mir ging es um etwas Anderes: Wenn sich ein Geisteswissenschaftler doch einmal in naturwissenschaftliche Gefilde vorwagt(e) – so untersucht der Naturwissenschaftler dessen Einwürfe nur in den naturwissenschaftlichen Modellen, also rein rational. Soweit sie passen, akzeptiert er sie. Soweit sie nicht passen, weist er sie rational zurück, widerlegt sie also.
Geisteswissenschaftler nun gehen oft (wohl auch wegen der von Ihnen angeführten Herrenmoral) einen anderen Weg: Sie widerlegen nicht die Theorie, sondern werten sie als sinnlos ab. Mir ist das ein bisschen einfach – und verhindert oft inhaltliche Entwicklungen. Denn wenn man sich erstmal mit abwegigen Modellen beschäftigt, gewinnt man oft eine neue Perspektive hinzu. Selbst (gerade) wenn das Modell zu einseitig war.
Im Recht läuft das so mit der ökonomischen Analyse von Rechtsnormen. In der Ökonomik läuft das so mit der psychologischen Analyse von Wirtschaft. In der Soziologie läuft das so mit der theologischen Analyse von Verhalten. Und so weiter… Eigentlich ganz gut, soweit die Wissenschaft das jeweils Eigene nicht aufgibt, sondern erweitert.
Daher oben auch mein Widerspruch gegen das Schrullige der Naturwissenschaftler. Sicher blenden sie oft große Teile aus, aber damit beleuchten sie andere – wichtige, wenn und weil uns die Ausführungen der Naturwissenschaftler schrullig sind.
Ohne Ihre persönliche Erfahrung infrage stellen zu wollen: Ich bin nicht sicher, dass das heute noch gleichermaßen gilt. Mir scheint dort heute ein größerer Einblick in der Schule zu existieren und damit auch für die Schüler größere Wahlmöglichkeiten. Nur verstehen wohl die Eltern das nicht unbedingt, sprich dort wird dann subtil doch nach tradierten Mustern und Wirtschaftlichkeit orientiert.
Anwesende sind doch immer ausgenommen!
Martin Holzherr GW-Fragen mit IT
„In letzter Zeit wollen diverse Geisteswissenschaften diese zunehmende technische Lücke schliessen.(…. Social Self-Organization(Future ICT und Dirk Helbling stehen prototypisch für den technophilen Sozialwissenschaftler, der mit den gleichen Methoden, vor allem aber auch mit der gleichen Informationstechnologie arbeitet wie ETH-Naturwissenschaftler und der konsequenterweise selbst ein ETH-Mitglied ist. (Ist das die Zukunft der Sozialwissenschaften?“
Ich kenne Helbling nicht, aber vielleicht muß man nicht so pessimistisch sein. Sicher, es ist heute oft leichter, Abermillionen für ein Projekt mit riesigem IT-Einsatz, sei es in Natur-, sei es in Sozialwissenschaften einzuwerben, als ein einziges Doktorandenstipendium für eine klassische geisteswissenschaftliche Arbeit. Aber ob „die Arbeit solcher ‚Sozialwissenschaftler’“ wirklich „weit sichtbarer“ ist „als es die Arbeiten von Leuten sind, die in den Hauptwerken ihrer Publikationen die gesamte bekannte Literatur zu ihrem Gebiet in Fussnoten aufführen“, scheint mir nicht ausgemacht. Die Sozial- und Geisteswissenschaftler, deren Arbeit beachtet wird in der öffentlichen Diskussion (und nicht nur von Geldgebern und ihren Gutachtern), sind immer noch eher von der Art eines Luhmann, der auf die Frage, was er an Forschungsmitteln brauche, geantwortet haben soll: einen Bleistift.
Die Riesenprojekte haben oft nur das Ziel, bestimmte neue Technologien anzuwenden – auf Fragen, die trivial, unnütz, oft schon überholt sind und deren einziger Vorzug es ist, daß die Gutachter und Geldgeber sie verstehen. Wenn das Projekt abgeschlossen ist, wird es oft schnell vergessen, so wie meist auch die Wissenschaftler, die solche Art von Forschung betreiben, rasch vergessen werden, wenn sie altersbedingt nicht mehr ihre wissenschaftsorganisatorischen Machtpositionen innehaben. Das ist doch tröstlich.
@ Noït Atiga: Feine Banausen
„Sie brauchen dazu weder Gesprächsführung noch Fragen des Lebenssinns – sie halten sich einfach an Ihre Modelle von Molekülen und Verdauungsvorgängen und weisen dem eingreifenden Geisteswissenschaftler dessen Fehler nach (oder übernehmen dessen sinnvolle Gedanken).“
Wenn es um Fragen des Lebenssinns geht, dann muß man sich eben damit auskennen. In den Modellen von Molekülen und Verdauungsvorgängen kommt der Begriff Lebenssinn aber nicht vor. Umgekehrt kommt in den historischen Wissenschaften Natur als naturwissenschaftlicher Gegenstand durchaus vor, immerzu, aber entweder ist das da nebensächlich oder man grenzt solche Fragen so ein, daß klar wird, daß man selbst nichts dazu sagen kann. Wer über die Pest im Mittelalter schreibt, leugnet weder die einschlägigen medizinischen-biologischen Theorien noch erfindet er eigene, sondern er verweist auf jene. Wenn dagegen ein Naturwissenschaftler über den Untergang der XY-Kultur zu schreiben hat – kommt manchmal vor – dann könnte er ja sagen: Man diskutiert da Ursachen, die mit der Einführung der Sklaverei oder einem religiösen Konflikt zu tun haben. Sagt er aber meist nicht, sondern er denkt sich eine ökologische Ursache aus, einen Klimawandel z. B.
„… warum Ärzte und Juristen aus der Kultur ausgeschlossen sind – mir ist das gar nicht so plausibel, vielmehr scheinen mir gerade letztere recht tief in der Kultur verankert.“
Gewiß, Sie haben schon recht. Ich meinte es so: die Kinder der Ärzte und Anwälte werden sehr oft wieder welche, aus Statusgründen oder weil man gut Geld verdienen kann. Doch wenn sie ihr Studium nach Interesse wählen, dann ist es selten Naturwissenschaft, sondern meist „etwas mit Kultur“.
„…die Korrelation könnte ganz andere Ursachen haben. Es ist ja bekannt, dass Personen aus unteren sozialen Schichten eher auf Nummer sicher studieren – und Naturwissenschaftlern oder Ingenieuren ist ihr Arbeitsplatz gewiss.“
Könnte sicher andere Ursachen haben. Aber daß Naturwissenschaftlern oder Ingenieuren ist ihr Arbeitsplatz gewiß ist, wenigstens sicherer als einem Sozial- oder Geisteswissenschaftler, das stimmt einfach nicht. Es sieht nur so aus, wenn man typische Orchideenfächer nimmt – solche, in denen die Anzahl der Arbeitsplätze etwa der Anzahl der Professoren entspricht; alle 20 Jahre wird eine Stelle frei. Aber das können auch Naturwissenschaften sein.
Ich weiß aus eigener Erfahrung, was der Hauptgrund dafür ist, daß man in den unteren Schichten nicht Geisteswissenschaften studiert: Ich komme da her, und ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, etwa Geschichte oder Ethnologie oder Musikwissenschaft (oder gar Philosophie) zu studieren, das lag einfach außerhalb der Welt, die man da kennt. Naturwissenschaft ist einem zugänglich, man weiß von der Schule her, was das ist. Was die anderen Wissenschaften sind, bekommt man trotz Deutschunterricht usw. einfach nicht mit, der ist für die Kinder aus besseren Kreisen. Natürlich kann man, das kommt schon vor, auch aus diesen Schichten kommend eine Geisteswissenschaft studieren aus sozusagen wissenschaftsexternen Gründen, beispielsweise weil man eine sichere Stelle als Lehrer haben will und die Kombination Geschichte und Englisch für nicht so schwer hält; oder – so der klassische Fall -, weil der Dorfpfarrer einen Bauernbuben ausgesucht hat fürs Theologiestudium.
„Welchen Rangunterschied ahnen sie denn dann hier? Den zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern oder den ihrer sozialen Schichten?“
Ja, den zwischen den sozialen Schichten. Verschiedene Wissenschaften fungieren als Distinktionsmerkmale, so wie auch das Hören verschiedener Arten von Musik (siehe Pierre Bourdieu, „Die feinen Unterschiede“). Dabei ist allerdings der Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften nicht der einzige, worauf es ankommt.
„Und ist das nicht sogar Ausdruck von Macht – gesellschaftlicher Macht?“
Ja, aber es ist eine andere, subtilere Art von Macht als die, an die man meist denkt. Ein Chemiker führt oft einen Konzern, ein Musikkritiker ist oft ein armer Schlucker, aber er ist doch etwas Besseres, einer, der „eingeladen“ wird. Es ist eine Art von Macht, die schon vor 200 Jahren eher Frauen ausübten, also zu einer Zeit, als Frauen machtlos waren wie kaum je zuvor: Die Macht, „einzuladen“. Der junge, bettelarme Dichter, der Philosoph wurde eingeladen, der reiche Kaufmann mußte draußen bleiben.
„’Ihr dagegen könnt nur labern, noch dazu auf eine Art, die keiner versteht.’ (mein Zitat)( Haben sie damit nicht (teilweise) Recht? Leben wir nicht so gut, wegen ihrer Tätigkeit?“
Oh ja, sie haben recht. Die Verachtung ist eine Herrenattitüde, die reichen Nichtstuer verachten die, von denen sie leben, und achten nur die nutzlosen Künste und Wissenschaften, mit denen sie sich vergnügen. Aber leider wird aus der berechtigten Retourkutsche leicht die typische Kultur- und Intellektuellenfeindschaft (und weitgehend auch der Antisemitismus).
„Schreiben wir nicht oft bewusst unverständlich?“
Wenn Sie mich von dem „wir“ ausnehmen: einverstanden.
@all: GW-Fragen mit IT bearbeiten
Das Verhältis Naturwissenschaft Geisteswissenschaft hat sich in den letzten Jarhzehnten auch durch den Einsatz von immer mehr technischen und IT-Mitteln durch die Naturwissenschaftler zugunsten der Naturwissenschaften verschoben.
Astronomen erhalten millionenteure Rechner um die Entwicklung des Universums durchzurechnen, Physiker millionenteure Kernzertrümmerer wie den LHC des CERN’s und dazu informatische Mittel von den besten Leuten. So wurde das World Wide Web praktisch als Nebenprodukt des CERN-Betriebs geschaffen.
In letzter Zeit wollen diverse Geisteswissenschaften diese zunehmende technische Lücke schliessen.
Das Projekt Future ICT will komplexe, globale, sozial interaktive Systeme verstehen und managen und dabei den Focus auf Nachhaltigkeit und Resilienz legen. Schlagwort: “Future ICT – a CERN for the Social Sciences”
Leiter von Future ICT ist Dirk Helbling, der Vorsteher der ETH-Soziologie (” in particular of Modeling and Simulation”
Auf seiner Homepage liest man
– Group Segregation and Urban Violence.
– Rethinking Economics Using Complexity Theory
– Google as God? Opportunities and Risks of the Information Age.
– Frieden schaffen in Jerusalem – mit einer Computersimulation,
– Schweizer Forscher entwickeln Windkanal für den Nahostkonflikt
– Have we evolved to be nasty or nice?
Ein Buch, das vom ihm herausgegeben wurde heisst: Social Self-Organization
Future ICT und Dirk Helbling stehen prototypisch für den technophilen Sozialwissenschaftler, der mit den gleichen Methoden, vor allem aber auch mit der gleichen Informationstechnologie arbeitet wie ETH-Naturwissenschaftler und der konsequenterweise selbst ein ETH-Mitglied ist.
Ist das die Zukunft der Sozialwissenschaften?
Ich meine zu einem grossen Teil wird er das sein. Der viel grössere Mitteleinsatz sowohl von den Mitarbeitern her als auch von den technischen und IT-Mitteln wird die Arbeit solcher “Sozialwissenschaftler” auch weit sichtbarer machen als es die Arbeiten von Leuten sind, die in den Hauptwerken ihrer Publikationen die gesamte bekannte Literatur zu ihrem Gebiet in Fussnoten aufführen.
@Noït Atiga Handwerk & Wissenschaft
Interessant finde ich: Was Sie hier als Naturwissenschaftler beschreiben, ist etwa der Popper’sche Idealwissenschaftler. Wie Kuhn in Opposition dagegen den normal scientist (bei ihm in aller Regel ein Naturwissenschaftler) beschreibt, das ist Ihr Handwerksgeselle. Der typische Geisteswissenschaftler ist bei Kuhn dagegen im wesentlichen Ihr Idealwissenschaftler Popper’scher Art: Es gibt ihn bei Kuhn unter Naturwissenschaftlern nur in den Phasen der Krise und der Revolution, doch die Geisteswissenschaften befinden sich sozusagen immer in der Revolution, sie erreichen nie den Status der normal science. Darum muß der Geisteswissenschaftler (fast) all die Tugenden haben, die nach Popper den idealen Naturwissenschaftler auszeichnen (und einige mehr), und die in der Naturwissenschaft (normal science) nicht nötig sind, ja den Fortschritt behindern.
Einzelheiten:
(“’[W]as die Naturwissenschaftler da [auf nichtnaturwissenschaftlichem Gebiet] sagen, tendiert eher zum Kuriosen, Schrulligen, und der Normalbürger merkt das und wendet sich ab.’ (mein Zitat)(Sicher, denn es ist ungewohnt – als neue Perspektive dem Normalbürger viel zu fremd, um ihm nachvollziehbar zu sein.“
Nein, nicht weil es ungewohnt ist, wirkt es schrullig, man ist ja vielmehr inzwischen ganz gut an diese Leute gewöhnt. Sondern weil es im ganz normalen Sinne schrullig ist. Man kann einfach nicht ohne jede Kenntnis der Sache mit Mitteln, die man beherrscht und die einen ganz anderen Zweck haben, über diese Sache reden, ohne daß es seltsam wird.
„ ‚…in den Geistes- und Sozialwissenschaften besteht in aller Regel ein Großteil der Arbeit darin, überhaupt das Problem zu formulieren.’(Möglich, aber doch nicht sehr wahrscheinlich.“
Doch, so ist es, es ist nicht nur möglich. Man muß sich doch nur mal die jeweiligen Seitenzahlen in typischen Arbeiten ansehen. Sie mögen sagen: Die formulieren das Problem schlecht. Das kann ja sein. Aber sie verwenden einen Großteil ihrer Arbeit darauf, und das tun die Naturwissenschaftler nicht, sie müssen es auch nicht.
„Die ganze Geschichte ist Ihr permanenter Einwand: Darüber könne man nicht reden, wenn man nicht die ganzen Diskussionen kenne.“
Das haben Sie offenbar in den falschen Hals bekommen. Was heißt denn „die ganze Geschichte“? Doch nur, was für die Frage relevant ist (und das ist trivial), nicht „alles“, das gibt es sowieso nicht. Für die Frage beispielsweise nach der Willensfreiheit ist aber so viel relevant, daß es eine ziemliche Anzahl von Büchern füllt, für die Frage des Aufbaus von Atomen auch. Aber Naturwissenschaftler palavern munter über Willensfreiheit und meinen, mit den paar Zeilen, die sie in der Zeitung dazu gelesen haben, auszukommen, während kein Geisteswissenschaftler über Fragen des Atomaufbaus fabuliert, einfach weil er weiß, daß nur Unsinn herauskommt, wenn er nicht eine Menge dicker Bücher dazu gelesen hat – ja, mehr als das, wenn er das Fach nicht studiert hat. Die ganze Geschichte im Sinne von allem, was je über Willensfreiheit oder Atomaufbau gesagt wurde, muß man dazu selbstverständlich nicht lesen, dazu bräuchte es mehrere Menschenleben. Wozu auch – es liegt ja alles gut aufbereitet vor. Aber ein paar Jährchen muß man sich schon Zeit nehmen. Ihre Vorstellungen von der Hopplahopp-Innovation, die einer kluger Kopf hinbekommt ohne langjähriges Studium, sollten Sie einmal einem Naturwissenschaftler erzählen. Der lacht Sie aus.
„…sie verbleiben im intuitiven Zugang zu ihrem Fach. Sie verstehen einander, aber können nicht erklären, warum denn Anderes in diese Denkweise nicht paßt …“
Ziemlich genau das sagt Kuhn vom Naturwissenschaftler, sofern er einer Normalwissenschaft zugehört. Typische Geisteswissenschaftler dagegen können gerade erklären, „warum denn Anderes in diese Denkweise nicht paßt“. Das liegt einfach daran, daß sich die meisten Geisteswissenschaften noch nicht so weit aus der Philosophie gelöst haben. Sie müssen sich vielmehr bei allem, was sie tun, immer durch den Blick aufs Ganze rückversichern, ob das denn auch geht. Eben das ist doch der große Vorteil der Paradigmatisierung der Naturwissenschaften: Man macht an dem winzigen Teilproblem da weiter, wo der Vorgänger aufgehört hat, und glaubt einfach, daß der in allen allgemeineren Dingen recht gehabt hat; man muß nicht, wie noch Newton, bei jedem Schritt alle philosophischen Grundlagen neu diskutieren. Wie die Institution des „Lehrbuchs“ (das ja typische Geistes- und Sozialwissenschaften nicht kennen) diesen Zustand erzeugt, beschreibt Kuhn sehr gut.
Von anderen sind andere Aspekte dieser Sache herausgehoben worden. Gerhard Hard schreibt z. B. treffend über den Unterschied zwischen kompakten und diffusen Disziplinen: In ersteren ist das allgemein-wissenschaftliche Niveau im Schnitt deutlich höher. Ein wissenschaftlicher Dilettantismus, wie er in Geographie oder Geschichtswissenschaften normal ist, kommt in der Physik und Chemie nicht annähernd vor: solche Leute werden gar nicht erst zur Forschung zugelassen. Andererseits sind auch die Ausschläge nach oben in den „diffusen“ Wissenschaften größer. Wissenschaftler von einer Reflektiertheit, einem Horizont, einer methodologischen Bewußtheit, wie man sie etwa unter guten Historikern trifft, sucht man in Physik und Chemie vergebens.
„Der Naturwissenschaftler ist ein Wissenschaftler und daher sind seine rationalen Methoden auf nahezu jeden Gegenstand anwendbar.“
Naturwissenschaften liefern „instrumentelles“ Wissen („Verfügungswissen“), und nur auf Gegenstände, die unter dieser Perspektive betrachtet werden, sind seine Methoden anwendbar. Das aber pflegen viele Naturwissenschaftler nicht zu begreifen und versuchen sie auf Gegenstände anzuwenden, die unter einem ganz anderen Erkenntnisinteresse konstituiert sind.
Mit den rationalen Methoden der Naturwissenschaften kann man (u. U.) leicht von einer Frage der Geologie auf eine Frage der Ausbreitungsbiologie wechseln, was z. B. Paläontologen ja auch ständig tun. Aber man wenn man mit solchen Methoden versucht, die Frage zu beantworten, wieso aus dem römischen Katholizismus der Protestantismus hervorgegangen ist, aus der griechischen Orthodoxie aber nichts Entsprechendes, wird’s einfach schaurig, bestenfalls lustig. Die rationalen Methoden der Naturwissenschaft eignen sich aber nicht nur für diese Art von Fragen nicht, sondern auch nicht für die Frage, wie man denn entscheiden soll, für welche Art von Fragen sie sich eignen und für welche nicht. Das Erfolgsgeheimnis der Naturwissenschaften – nämlich das rigorose Ausblenden – blendet halt auch diese Frage aus.
Darum erfolgt die Grenzverletzung, die hier das Thema ist, seitens der Naturwissenschaftler ja im allgemeinen auch in aller Unschuld: sie wissen nicht, daß man das nicht darf; das, was sie gelernt haben, erlaubt nicht, den fundamentalen Unterschied zwischen jenem Gegenstandswechsel zwischen Geologie und Ausbreitungsbiologie auf der einen Seite, und auf der anderen Seite dem Gegenstandswechsel zwischen einer naturwissenschaftlichen und z. B. jener religionshistorischen Frage zu sehen.
@Ludwig Trepl: Feine Banausen
Das verbindet sich mir: Sie brauchen dazu weder Gesprächsführung noch Fragen des Lebenssinns – sie halten sich einfach an Ihre Modelle von Molekülen und Verdauungsvorgängen und weisen dem eingreifenden Geisteswissenschaftler dessen Fehler nach (oder übernehmen dessen sinnvolle Gedanken). Darum kommt auch kein Ärger im eigentlichen Sinne auf (daher auch bei mir ursprünglich in einfachen Anführungszeichen).
Finde ich interessant. Erstmal natürlich, warum Ärzte und Juristen aus der Kultur ausgeschlossen sind – mir ist das gar nicht so plausibel, vielmehr scheinen mir gerade letztere recht tief in der Kultur verankert.
Weiterhin, davon abgesehen, die Frage nach Ursache und Wirkung. Ich kenne die Studien nicht, aber die Korrelation könnte ganz andere Ursachen haben. Es ist ja bekannt, dass Personen aus unteren sozialen Schichten eher auf Nummer sicher studieren – und Naturwissenschaftlern oder Ingenieuren ist ihr Arbeitsplatz gewiss. Bei Studiengängen in den Kulturwissenschaften ist das eher andersherum, sprich dort studiert man ins Ungewisse – was sich nur Kinder aus besser situierten Familien leisten können, einfach weil deren Studienfinanzierung kein Problem ist, sie also auch nicht unter Rentabilitätsgesichtspunkten studieren.
Ist dann Geisteswissenschaft wirklich etwas Feineres? Oder ist sie es vielleicht gerade wegen ihres Mangels an Wissenschaftlichkeit? Aufgrund ihres künstlerischen Einschlages oder ihres Geruchs von Weltfremdheit?
Welchen Rangunterschied ahnen sie denn dann hier? Den zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern oder den ihrer sozialen Schichten? Mir scheint es eher um letzteren zu gehen, denn Gesprächsführung nach der Oper hat mir mehr mit sozialer Herkunft und sozialem Verhalten zu tun, denn mit dem Studieninhalt.
Und ist das nicht sogar Ausdruck von Macht – gesellschaftlicher Macht? Man redet gar nicht mit den Naturwissenschaftlern, denn sie verstünden einen sowieso nicht – damit hält man seine Einbildung intakt, denn man riskiert eine mögliche Blöße gleich gar nicht. Es ist wie mit der Dienerschaft: Würde man mit ihr diskutieren und einmal rational verlieren, dann wäre das intellektuelle Gefälle verschwunden. Man könnte sein Selbstwertgefühl nicht mehr wahren – denn wenn der Andere genauso intelligent ist, wieso soll er dann unter einem stehen?
Haben sie damit nicht (teilweise) Recht? Leben wir nicht so gut, wegen ihrer Tätigkeit? Schreiben wir nicht oft bewusst unverständlich?
Gibt es doch wenigstens einen Philosophen, dem eine allgemeinverständliche Schrift über Freiheit gelungen ist. Und einen anderen versteht man auch gut mit Alltagswissen. Und selbst für Juristen scheint es einfacher zu gehen. Also vielleicht ist manches Fachchinesisch gar nicht so zwingend?
@ Noït Atiga: Banausen und feine Leute
„Psychologisch könnte man sich also fragen, ob es nicht vielleicht genausoviele Übergriffe von GW in die andere Richtung gibt – die nur eben darum keine emotionale Reaktion erzeugen, weil NW ihren ‘Ärger’ rational ausdrücken können.“(
Nein, diese Übergriffe gibt es definitiv nicht. Ich habe sie in vielen Jahrzehnten, erst als reiner Naturwissenschaftler und dann als Wissenschaftler in interdisziplinären Zusammenhängen, jedenfalls noch nie erlebt, das Umgekehrte dagegen in zahllosen Fällen (und ich habe mich selber beteiligt). Und ihren Ärger könnten die Naturwissenschaftler gerade nicht rational ausdrücken – wo sollten sie das denn gelernt haben? Sie sind Spezialisten für Gegenstände wie Moleküle oder Verdauungsvorgänge, nicht für Gesprächsführung oder Fragen des Lebenssinns.
Psychologisch ist aber etwas anderes interessant, etwas, was wir überhaupt noch nicht angesprochen haben: Geisteswissenschaften sind etwas Feineres. Viele soziologische Studien haben gezeigt, was ohnehin jeder mitbekommt, der sich in diesem Milieu aufhält: Wer aus unteren sozialen Schichten kommt, studiert, wenn er studiert, Natur- und Ingenieurwissenschaften, wer aus oberen kommt, studiert etwas, das mit Kultur zu tun hat, wenn er nicht gerade die väterliche Arzt- oder Anwaltspraxis übernehmen muß.
Und man kennt es ja auch sonst: Wenn sich die feinen Leute gebildet unterhalten, beispielsweise nach der Oper, und ein Naturwissenschaftler oder Ingenieur ergreift das Wort, verstummen die anderen peinlich berührt oder wechseln die Gesprächsgruppe. Beide Seiten, Geistes- und Naturwissenschaftler, wissen oder ahnen diesen gesellschaftlichen Rangunterschied (es ist ein ganz anderer Rangunterschied als der Unterschied im Hinblick auf Macht und Einfluß!) und entwickeln darum die bekannten üblen Gewohnheiten: die einen den Hohen Ton, die Haltung des „der versteht es ja sowieso nicht“, weshalb man gar nicht mit ihm argumentiert, obwohl man es könnte, wie seinerzeit die Herrschaft gegenüber dem Dienstpersonal. (Wenn die Naturwissenschaftler sich ins Gebiet der Geistes- und Sozialwissenschaften einmischen, pflegen deren Vertreter nicht zu argumentieren, sondern vornehm-pikiert zu schweigen, bis sie unter sich sind; was aber auch ein ganz vernünftiges Verhalten ist, denn Argumentieren wäre wohl sowieso vergeblich.)
Die anderen entwickeln das Ressentiment des Zu-kurz-Gekommenen, das man durch den typischen Banausen-, also Handwerkerstolz kompensiert: Was wir tun, hat Hand und Fuß, Ihr dagegen könnt nur labern, noch dazu auf eine Art, die keiner versteht. Die Naturwissenschaftler und Ingenieure selbst versteht man zwar auch nicht, aber da ist es klar: Um über das Innere eines Motors zu sprechen, braucht man halt eine Fachsprache. Aber muß der Soziologe soziologenchinesisch sprechen, wenn er über die Verdummung der heutigen Jugend spricht? Damit gehe ich doch täglich um, da kann ich doch in meiner Sprache mitreden!
@Ludwig Trepl: Handwerk & Wissenschaft
Sicher, denn es ist ungewohnt – als neue Perspektive dem Normalbürger viel zu fremd, um ihm nachvollziehbar zu sein. Das geht nämlich intuitiv nur bei etwa gleicher Sichtweise. Der Normalbürger müsste also von seiner Intuition abstrahieren (mit Kahneman ins rationale System 2 wechseln), um die Gedankengänge nachzuvollziehen. Aber das kann er nicht, weil ihm sein intuitives System (System 1) bereits vorher antwortet: Schrullig, also unnütz. Aber diese Antwort ist eben meist die Antwort auf eine ganz andere Frage – hier die nach dem Gefallen der Theorie, nicht jene eigentliche nach deren Überzeugungskraft.
Die Naturwissenschaftler haben insofern meist eine intensivere Schulung weg von dieser Intuition, sie misstrauen dieser nunmehr. Sie wissen, dass fast ihr alle wissenschaftliche Erkenntnis erstmal widerspricht. Sie wechseln daher in ein formales System und denken dann dort rational (System 2). Das passt auch zu den Erkenntnissen der Verhaltensökonomik: In einer Fremdsprache gelangen wir viel eher zu rationalen Ergebnissen als in unserer Muttersprache. In der Fremd- oder Formalsprache müssen wir soviel Aufmerksamkeit investieren, dass die intuitiven Antworten ausgeschaltet werden – wir also jedes Ergebnis rational ableiten. (Wenn sie dann zu vertraut wird, dann gibt es auch intuitive Anwendungen – etwa von Wurzeln wie bei S. Ramanujan.)
Möglich, aber doch nicht sehr wahrscheinlich. Um das Problem so zu verstehen wie bisher, dazu muss man sich viel anlesen. Aber um ein Problem zu sehen, reicht es vollkommen, die Praxis zu kennen. Wenn man dann entsprechend systematisiert, so kann man eine Lösung anbieten. Die muss keineswegs die Optimale sein (dazu braucht man dann wieder größere Kenntnis des Althergebrachten), aber eine Lösung.
Aber nicht selten ist sie einfacher als tradierte Lösungen – denn: Sie vernachlässigt gerade alle Traditionen und damit alle bisherigen Wege. Nicht umsonst stammen innovative Lösungen oder Lösungswege meist von jungen Wissenschaftlern, nicht Etablierten. Letztere denken viel zu sehr in den althergebrachten Bahnen. Dafür können die Etablierten viel besser bestehende Wege ausdifferenzieren oder optimieren.
Darum haben Sie ja für die faktische Geistes- und Sozialwissenschaft (auch Philosophie) vollkommen Recht: Dort wird Ausdifferenzierung oder Optimierung gewünscht – und darum werden weder Fremdeinsteiger noch Neulinge akzeptiert, denn deren Lösungen sind oft radikal anders.
Die ganze Geschichte ist Ihr permanenter Einwand: Darüber könne man nicht reden, wenn man nicht die ganzen Diskussionen kenne. Das ist eben kein Einwand in einer Diskussion. Auch wenn man sich für eine Publikation die gerade aktuellen Ansichten anschaut und mit ihnen auseinander setzt.
Aber in Diskussionen ist das anders. Dort erwartet man vom kompetenten Kollegen dann einfach die entsprechenden Einwände. Und das machen die meisten Geisteswissenschaftler nicht. Dabei sollten sie doch entweder die Diskussion kennen – und dann mit dem schlagenden Argument antworten können, oder neugierig sein und den Gedankengang nachvollziehend betrachtend kritisieren – also mit ihrem Wissen hinterfragen. Wenn die Regale der Diskussion nur als Beschäftigungstherapie gebraucht werden, nach dem Motto lies erst mal, dann sehen wir weiter, dann sind sie nutzlos.
Ja, warum denn? Warum gelingt es Geisteswissenschaftlern nicht, Studienanfängern oder Laien kurz und prägnant den Inhalt ihres Faches zu vermitteln?
Die Antwort ist recht einfach und aus der Pädagogik bekannt: Man muss eine Stufe weiter im Verstehen sein, damit man quasi aus der Metaebene den abweichenden Weg des Lernenden analysieren kann. Nur erreichen Geisteswissenschaftler kaum je diese Metaebene – sie verbleiben im intuitiven Zugang zu ihrem Fach. Sie verstehen einander, aber können nicht erklären, warum denn Anderes in diese Denkweise nicht passt – aber dem Problem selbst (jedenfalls in Aspekten) möglicherweise genauso angemessen ist.
Wenn man so will sind Geisteswissenschaftler meistens perfekte Handwerker – von denen sich Lehrlinge oder Gesellen sehr viel abschauen können. Und irgendwann, nach langer Lehrzeit werden diese Lehrlinge oder Gesellen dann auch die richtigen Schritte zur richtigen Zeit vornehmen und vielleicht intuitiv das Eine oder Andere verbessern. Das ist schon in der Hermenutik angelegt, die ja auf ganz langsames Verbessern des Verstehens ausgerichtet ist – wie beim Handwerksgesellen (der allerdings jedenfalls früher auf Wanderjahre ging, um sich von vielen Meistern etwas abzuschauen).
Aber diese Handwerker können keine Frage nach dem Warum beantworten (was wirklichen Handwerkern ganz klar ist): Warum muss man das so oder so machen? Warum ist denn dieser Weg falsch? Warum ist denn diese Lösung keine? Warum sehen das alle anderen anders? Warum gibt es verschiedene Schulen, die doch scheinbar beide erfolgreich sind? Ihre Antwort: Mund halten, zuschauen und lernen.
In den Naturwissenschaftlern trennen sich Handwerker und Wissenschaftler – erstere nennen sich Ingenieure und letztere Naturwissenschaftler. Und beide arbeiten perfekt zusammen, Theorie und Praxis befruchten sich gegenseitig. Der Naturwissenschaftler kann daher auch vielfach erklären, warum etwas so und nicht anders gemacht werden muss – auch wenn es die Ingenieure teils schon früher intuitiv so gehandhabt haben. Andererseits bringen die Wissenschaftler den Ingenieur teils auf neue Gedanken.
Daher waren Ihre Vegleiche oben bezeichnend:
1. Der Mechaniker ist ein Handwerker und daher beschränkt sich seine intuitive Kunst auf das erlernte Handwerk, also die Mechanik (zum Handwerk der Staatsführung ist er nicht geeignet).
2. Der Geisteswissenschaftler ist ein (verkappter) Handwerker und daher beschänkt sich seine intuitive Kunst auf das jeweils erlente Handwerk, also seine jeweilige Disziplin. Will er anderswo mitreden, dann muss er das neu erlernen.
3. Der Naturwissenschaftler ist ein Wissenschaftler und daher sind seine rationalen Methoden auf nahezu jeden Gegenstand anwendbar. Wechselt er das Fach, so muss er also nicht neu lernen – sondern sich nur in ein neues Modell eindenken. Gerade wenn er Physiker ist, dann hat er diese Flexibilität aber sowieso schon gelernt, denn in der Physik gibt es ja verschiedene Modelle. (Aber er ist meist kein guter Ingenieur, ihm fehlt die handwerkliche Intuition.)
Mit diesem Bild wird vielleicht auch dort Manches verständlicher: Ein Handwerker regt sich über den vorlauten Gesellen auf (GW) – ein Wissenschaftler fragt neugierig nach (NW). Ein Geselle muss langsam Verstehen lernen (GW) – ein Junior-Wissenschaftler muss selbständig denken (NW). Einem Gesellen lehrt man das Fach (GW) – einen Nachwuchs-Wissenschaftler schult man in allgemeinen Denkwerkzeugen (NW). Ein Geselle ist aufmerksam in seinem Fach (GW) – ein Nachwuchs-Wissenschaftler hinterfragt Alles (NW). Ein Geselle tüftelt an Feinheiten und hat damit oft Erfolg (GW) – ein Nachwuchs-Wissenschaftler entwirft kühne Modelle und fällt damit oft auf die Nase, um sogleich wieder neu anzufangen (NW). Ein Geselle glaubt dem Meister (GW) – ein Nachwuchs-Wissenschaftler fordert seinen Mentor heraus (NW). Ein Geselle vergleicht sein Meisterstück mit dem Bisherigen (GW) – ein Nachwuchs-Wissenschaflter testet sein Modell an der Wirklichkeit (NW). Ein Meister verwirft jede radikale Neuerung (GW) – ein Wissenschaftler testet sie wissbegierig (NW). Der Meister ist verärgert über den anmaßenden Kollegen (GW) – der Wissenschaftler streitet rational mit diesem Kollegegen (NW).
@Ludwig Trepl: Das Dritte
Ob der Probleme der Zweiteilung mit manchen Wissenschaften erinnere ich eine Dreiteilung – nämlich zusätzlich die Entscheidungswissenschaften. Allerdings waren mir die Kriterien immer die von Regelerkenntnis, Sinnverstehen oder Normableitung (ich weiß aber nicht woher das kommt).
Mathematik und Logik wären dann eher an der Spitze des Dreiecks (Normableitung). Recht, Ethik und Sprachwissenschaften haben zwar etwas von allem – aber mehr Sinnverstehen und Normableitung. Während jedenfalls die (neo)klassische Ökonomie eher zwischen Regelerkenntnis und Normableitung liegt. Und die Philosophie eigentlich von allem gleich viel enthält, also irgendwo in der Mitte zu verorten wäre.
Aus meiner Sicht hat diese unterschiedliche Einteilung auch Bedeutung für Ihre Ursprungsfrage: Je nachdem, was man für bedeutsam erachtet, ergeben sich wohl andere Probleme mit dem Hineinreden. Dann würde sich aber auch erklären, warum Ihnen gerade die Ökonomen aufgefallen sind – dort geht es ja vorwiegend um Regelerkennntis und damit das den Naturwissenschaftlern Eigene. Und die mehr bei der Normvorgabe angesiedelten Wissenschaften könnten die Naturwissenschaftler ebenfalls als ihr Gebiet betrachten, weil sie ja an Ableitung von Vorgaben für Experimente gewöhnt sind.
@ Noït Atiga Wissenschaftlich – Anspruch
Ich verstehe das, was Sie hier ausführen, nur teilweise, und was ich verstehe, halte ich meist für falsch.
„ob Geschichte, Soziologie, Ehtik, Recht, Politik oder Ökonomie – überall kann das Empirische in Regeln gegossen werden. Und überall haben NW durchschnittlich recht viel Erfahrung, sie leben ja in diesen Systemen und systematisieren das Erlebte gewiss deutlicher als Otto Normalbürger …“
„In Regeln gegossen …viel Erfahrung“ stimmt schon, aber beim Systematisieren auf Gebieten, die keine naturwissenschaftlichen sind, pflegen die Naturwissenschaftler dem Otto Normalbürger nichts voraus zu haben, eher umgekehrt – was die Naturwissenschaftler da sagen, tendiert eher zum Kuriosen, Schrulligen, und der Normalbürger merkt das und wendet sich ab. Sie verhalten sich wie der Mechaniker, der Angelegenheiten der Staatsführung nach dem Modell des Maschinenreparierens denkt, weil dies nun einmal seine Welt ist.
Es reicht halt nicht, wenn man ans Systematisieren gewöhnt ist, man muß vor allem erst mal das Problem verstehen. Das ist in den Naturwissenschaften im allgemeinen kein Thema, denn das Problem liegt gewöhnlich, durch die Forschungstradition vorgegeben, auf der Hand, nur um die Lösung muß man sich bemühen. Innerhalb der naturwissenschaftlichen (szientifischen) Tradition soll das erstmals mit dem Aufkommen der neuen Systemwissenschaften, vor allem des operation research, deutlich geworden sein. Aber in den Geistes- und Sozialwissenschaften besteht in aller Regel ein Großteil der Arbeit darin, überhaupt das Problem zu formulieren. Und welche Probleme man da hat, läßt sich mit den Mitteln, die man als Naturwissenschaftler hat, nun einem nicht verstehen, man müßte noch mal zu studieren anfangen. Mit den Begriffen, die da zentral sind, kann man nichts anfangen, weil Naturwissenschaften nun einmal wesentlich darin bestehen, ohne solche Begriffe auszukommen (man denke an Begriffe wie Sinn, Wert, Handlung, Sollen – das haben wir ja schon -zig mal diskutiert; auch Begriffe , die ähnlich aussehen und die auch die Naturwissenschaften verwenden, unterscheiden sich völlig; ich habe, als Relikt meiner naturwissenschaftlichen Herkunft vermute ich, bis heute nicht richtig begriffen, was „Vergesellschaftung“ in den Gesellschaftswissenschaften heißt).
„Das könne man nicht diskutieren, wenn man nicht die ganze Geschichte kenne. Das ist NW ein Nicht-Argument – entweder haben sie etwas Brauchbares gefunden oder man kann die Nutzlosigkeit zeigen.“
Das ist falsch. Man muß in den Geisteswissenschaften nie die ganze Geschichte kennen (was soll das überhaupt heißen: die „ganze“ Geschichte?), sondern nur das für die jeweilige Frage Relevante, und das ist in den Naturwissenschaften kein bißchen anders. Haben Sie denn noch nie das Diskussionskapitel einer naturwissenschaftlichen Arbeit gelesen? „Und warum soll es auf die Regale von Diskussionen (Ludwig Trepl, 30.07.2013, 12:02) ankommen, wenn man daraus nicht konkrete Argumente für eine Diskussion herausziehen kann?“ Na eben: Weil und wenn – selbstverständlich nur wenn – man daraus konkrete Argumente für eine Diskussion herausziehen kann. Eben deshalb muß auch ein Geisteswissenschaftler Regale von biologischen Diskussionen gelesen haben, wenn er zu einer biologischen Frage etwas sagen will. Das weiß er, er weiß auch, daß er diese Berge von Literatur nicht schnell mal lesen kann, und darum hält er zu dieser Frage den Mund.
Und das ist es eben: Der typische Naturwissenschaftler müßte das doch auch wissen, aber er hält nicht den Mund, siehe obiges Zitat von Hampicke (der Ökonom ist, aber – ich kenne ihn – von Naturwissenschaft, jedenfalls von einem naturwissenschaftlichen Fach, bestimmt nicht weniger versteht als Sie).
Regale von Büchern ohne bezug auf die eine konkrete Frage muß man beim Studieren lesen, weil man sonst die einzelne Frage gar nicht versteht. Da allerdings ist von den Geisteswissenschaftlern mehr verlangt als von den Naturwissenschaftlern. Ich mußte nicht erst jahrelang studieren/lesen, um zu verstehen, worum es in meinem Fach prinzipiell geht, das wußte ich – wie fast alle – hinreichend von der Schule her. In den Geisteswissenschaften (und Sozialwissenschaften, gar in der Philosophie) gibt es das kaum. Man hat nach zwei Jahren Studium vielleicht das Gefühl, verstanden zu haben, worum es in dem Fach oder bezüglich zentraler Begriffe geht, ein Jahr später merkt man, daß man es völlig falsch verstanden hatte, glaubt aber, es jetzt zu verstehen, und so geht das noch jahrelang weiter. In den Naturwissenschaften läßt sich ein Problem meist gut in Einzelteile zerlegen, die man auch für sich einigermaßen verstehen kann, weshalb auch jemand, der gar nicht eine bestimmte Naturwissenschaft studiert hat, sondern etwas Technisches oder Interdiszipliniäres wie etwa Agrarwissenschaft, ohne weiteres naturwissenschaftliche Arbeiten schreiben kann. Die Spezialisierung von so einem Fach aus auf so etwas wie Soziologie aber bedeutet eine Art zusätzliches Studium aufzunehmen.
@Galilei
Diese Kritik wird aber auch von manchen Leuten an den Naturwissenschaften angebracht.
Beispiel Galilei: Er hat viele seiner Berühmten Experimente niemals durchgeführt. Sie wurden ihn später nur unterstellt.
Auch bei Newton usw. gab es noch Mängel und Dinge, die man nicht erklären konnte.
Solche Aussagen beziehen sich zumeist auf statistische Tendenzen, es sind kein echten Allaussagen.
Wie kann man denn echte kausale Beziehungen von statistischen Tendenzen unterscheiden?
Meines Wissens gibt es kein klar definiertes, wissenschaftliches Verfahren dafür.
Mein Versuch
Ich würde folgende Erklärungen anbieten:
1. Da man sich meistens, wenn von Wissenschaft die Rede ist, auf Naturwissenschaften bezieht, und auch Wissenschaftstheoretiker und -historiker meist zuerst Naturwissenschaften meinen, hat sich bei vielen Leute die Vorstellung durchgesetzt, die Arbeitsweise der Naturwissenschaften sei die Wissenschaft, ja das Wissen, schlechthin.
Dabei scheinen mir Historiker usw. durchaus über aussagekräftige Methoden zu verfügen.
2. Das ist viel relevanter: Während man sich als desinteressiertern Laie mehr oder weniger von Fragen der Physik, Kosmologie oder Biologie entfernt halten kann, ist das bei anderen Themengebieten naturgemäß nicht möglich. Das wäre die Soziologie, Psychologie, Medizin, Ökonomie usw.
Auch, in bedeutenden Maße, Philosophie und Fächer, die sich mit Literatur und Kunst beschäftigen.
Wem ist das nicht schon mal passiert, dass ein Künstler, den man gar nicht mag, von der Fachwelt gefeiert wurde oder dass eine TV-Show, die man sehr mag, von Intellektuellen als schlecht bewertet wird.
In diesen Fällen betreffen die Meinungen der Experten auch den Laien unmittelbar, so dass er guten Grund hat, sich selbst eine Meinung zu bilden. Sonst verbleibt er in Unmündigkeit über einen Bereich seines eigenen Lebens.
Diese Leute werden wohl nicht wissen, dass die Ökonomie sehr wohl mit Formeln arbeitet. Beispielsweise mit der Laffer-Kurve. Oft arbeiten sogar Politologen mit mathematischen Verfahren man sehe sich nur den “Unmöglichkeitssatz von Arrow” an!
Und selbst die vielgescholtenen Philosophen bedienen sich gelegentlich Formeln. Das berühmteste Beispiel dürfte wohl Wittgenstein sein, in dessen 1. Hauptwerk sich eine Formeln findet oder Spinoza, der sich Philosophiebuch nach Art mathematischer Beweisführung geschrieben hat, mit Axiomen und Postulaten, Satz, Beweis, ggf. Anmerkung oder weitere Schlussfolgerung.
@ Webbaer
“oft Linke, zuletzt Obama”
Faß ich’s noch? Obama ist ein Linker? Und ich dachte, Sie wären ein Liberaler. Nun aber reden Sie wie wie einer von der CSU, für den alle außer den 15 % vom rechten Rand Linke sind.
@ Ludwig Trepl @ Noït Atiga ganze Geschichte prüfen?
31.07.2013, 16:50
„Aber die Verbindung mit d. h. impliziert (und das tun nur Geisteswissenschaftler), dass man sich für wissenschaftliches Denken zu jedem Problem erstmal die gesamte Wissenschaftsgeschichte anschauen müsse“
-> Wenn man einen absolut bedingenden Faktor im System eindeutig identifiziert hat, dann brauch niemand mehr notwendigerweise die gesamte Wissenschaftsgeschichte inhaltlich zur Kenntnis nehmen. Jedenfalls nicht, um die darin versteckten Bedingungen einzubeziehen, wenn dieser entdeckte Faktor verlässlich einflußreicher sei.
Ich ziele da auf die “unsichtbare Hand” eines Marktes ab, deren Funktion ich meine zu kennen (die aber nicht von einer logisch schlüssigen Marktlage und üblichen Hoffnungen auf ein vermutetes Ausgleichprinzip hinsichtlich Preis/Leistungsverhältnis liegt). Wenn man zum Beispiel die Nachfrage steuern kann, erübrigen sich für den partiellen Markt alle anderen Bedingungen – welche man dann nicht mehr kennen muß.
Darüber hinaus ist der Konsummarkt ja stärker vom Kunden abhängig, als andere Märkte von notwendigen Gebrauchsgegenständen. Und der Kunde ist ein Mensch, welcher in eine Gesellschaft mehr oder weniger eingebunden ist, die regelmässigen Veränderungen unterliegt. Was also vor hundert Jahren eindeutig gültigkeit hatte, ist heute möglicherweise keine Erwähnung mehr wert, weils eben auf die Gesellschaft nicht mehr anwendbar ist.
Arghh
* Herr Holzherr, Verzeihung!
Herr Hoffmann
, seit eh und je sind speziell politisch angelegte Kräfte als Nobelpreisträger implementiert und gestärkt worden, oft Linke, zuletzt Obama, der mit seiner Kairoer Rede und dem angestoßenen sogenannten Frühling (Tschechen schämen sich hier) das anleierte, was Carter mit dem Sturz des Schah ebenfalls tat.
MFG
Dr. W
@Ludwig Trepl “Bezug aufs Thema”
Vor der Einmischung nicht sicher sind Fächer, Schulen und Forschungsgebiete, wo Werturteile explizit oder implizit eine Rolle spielen. Das macht den Unterschied aus zwischen der Palöoklimatologie und der Untersuchung der Gründe für den Zerfall des römischen Reichs. Bei paläoklimatologologischen Forschungen geht es um die Korrektheit: wie zuverlässig konnten beispielsweise die Temperaturen der Letzten Eiszeit anhand von Proxies ( Messungen an Zeitzeugen, die indirekt Auskunft über die damalige Temperatur geben ) rekonstruiert werden. Beim Zerfall des römischen Reichs geht es um solch konkurrierende Theorien wie “Zerfall infolge Dekadenz” oder “Zerfall durch potenter gewordene Anreifer und Invasoren”. Doch mit dem Begriff Dekadenz sind wir mitten im Wertekanon. Was bedeutet “Dekadenz”, wie äusserst sie sich und welche Gesellschaftsschichten sind oder werden “dekadent”?
Noch deutlicher werden die Wertekonflikte in der Ökonomie. Paul Krugman erhielt zwar seinen Nobelpreis für Ökonomie wegen einer Arbeit über internationalen Handel und Arbeitsteilung, die voll war von schönen mathematischen Formeln. Aber in der Praxis – als New York Times – Kolumnist war und ist er alles andere als wertneutral. Er bekennt sich zum Keynesianismus, konkret dazu, langanhaltende Rezessionen mit viel Geld wegzuschwemmen. Wenn er sich gegen Austerität (Sparen) wendet, dann explizit, weil er sozial denkt und die Schwachen vor dem Zugriff durch die “Falken” bewahren will, welche durch Austerität – nach seiner Auffassung – vor allem die Schwächeren ins Elend und die Arbeitslosigkeit führen wollen. Er geriert sich in seinen NYT-Kolumnen also nicht nur als Ökonom, sondern auch als Parteilicher, was bereits im Motto Conscience of a Liberal” deutlich wird.
Die Geisteswissenschaften, die unser Leben am stärksten beeinflussen sind zudem diejenigen wo am wenigsten auf Experten gehört wird. Vor Gründung der Eurozone warnte eine gewichtige Gruppe von Ökonomen vor den Folgen einer Währungsunion in einem so ungleichgewichtigen Staatengebilde wir der EU. Entschieden haben aber die Politiker. Und die schwächeren Staaten meinten gar, durch “Einheirat” ins Geldsystem der Reicheren und Erfolgreichen, bekämen auch sie mehr ab. Die Eurokrise enttäuscht diese Erwartungen nun aufs Schwerste.
Fazit: Sogar Experten täuschen sich in Dingen, die das Menschliche Denken und Händeln betreffen und wo Werturteile eine Rolle spielen. Volk und Politiker täuschen sich vielleicht sogar noch mehr, doch das hält sie nicht davon ab, ihnen nicht genehme Experten zu ignorieren.
BTW
, was halten Sie von der Sicht, dass die Geisteswissenschaften den Geist der Erkenntnissubjekte zu bearbeiten suchen und dass der Geist in einer anderen Welt stattfindet als in der Welt der Natur, in einer Tochterwelt?
MFG
Dr. W (der u.a. die Sache mit dem Krieg als naturwissenschaftlich betrachtbar ablehnt)
@ Noït Atiga: Und das Dritte? (
Rickert hat sinngemäß gesagt, alle real existierenden Wissenschaften seien auf einem Kontinuum zwischen typischen Geistes- und typischen Naturwissenschaften angeordnet. Nach Regeln und Gesetzen sucht man in allen Kulturwissenschaften, auch in Literaturwissenschaften oder Sprachwissenschaften, in den Rechtswissenschaften und der Ökonomie und was es da alles noch gibt. In den Naturwissenschaften ist es entsprechend. Der Kern heißt „Physik“, aber z. B. in der Biologie, vor allem der Evolutionsbiologie findet man vieles, was man normalerweise für typisch für die Geisteswissenschaften hält.
Und Max Weber hat geschrieben: „Je mehr es sich um einfache Klassifikation von Vorgängen handelt, die als Massenerscheinungen in der Wirklichkeit auftreten, desto mehr handelt es sich um Gattungsbegriffe, je mehr dagegen komplizierte historische Zusammenhänge in denjenigen ihrer Bestandteile, auf welchen ihre spezifische Kulturbedeutung ruht, begrifflich geformt werden, desto mehr wird der Begriff – oder das Begriffssystem – den Charakter des Idealtypus an sich tragen. Denn Zweck der idealtypischen Begriffsbildung ist es überall, nicht das Gattungsmäßige, sondern umgekehrt die Eigenart von Kulturerscheinungen scharf zum Bewußtsein zu bringen.“ Der Unterschied zwischen Relevanz und Art des Gebrauchs von „Gattungsbegriffen“ und „idealtypischen Begriffen“ (die auf die Eigenart eines individuellen Gegenstands gerichtet sind) kennzeichne den Unterschied zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Je mehr „Massenerscheinungen“ in einer Sozialwissenschaft eine Rolle spielen, desto mehr nähert sich die Arbeitsweise dieser Wissenschaft der der Naturwissenschaft an.
Sprachwissenschaft, soweit sie nicht historische ist, dürfte sich in diesem Schema kaum fassen lassen. Vor allem aber sollte man bedenken, daß diese Einteilung nicht die Wissenschaft einteilt, sondern nur die empirischen Wissenschaften, daß also die Formalwissenschaften (Mathematik, Logik) sowieso herausfallen, die Philosophie ohnehin, und daß etwa die normativen Wissenschaften (Recht, Ethik, in gewisser Weise auch Ökonomie und Sprachwissenschaft) Sonderprobleme stellen.
Danke
für die Ergänzungen, Herr Trepl.
Einen schönen Sonntag noch!
MFG
Dr. W
Wissenschaftlich – Anspruch&Wirklichkeit
Die Wissenschaft als Idee wollte ich nicht in Frage stellen, insofern stimme ich Ihnen also wieder zu. Mir ging es nur darum, ob diese Unterscheidung noch eine Bedeutung haben kann bei der Beschreibung des aktuellen Zustandes – und mir scheint das eben nicht mehr der Fall. Wenn ich Ihre Antwort richtig interpretiere, dann sehen Sie das wohl ähnlich. Mit den Methoden und Richtungen bin ich nicht ganz einverstanden, aber das hatten wir ja schonmal (ich tendiere dort eher in ähnliche Richtung wie Feyerabend).
Zur Frage warum sich Naturwissenschaftler (NW) einmischen hat die Diskussion um die Nebenschauplätze aus meiner Sicht eine neue Erkenntnis gebracht: So wie Sie die Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften vornehmen – sind NW methodisch zwingend besser gerüstet als Fachvertreter. NW sind Regel-Erkenner. Wo es um Regeln geht können sie aus der Empirie diese leicht ableiten. Und weil sie wissenschaftlich geformt sind, tun sie das mit allem Erlebten automatisch – daher sind sie für Regeln oft kompetenter als viele GW (denn die werden überwiegend hermeneutisch geschult). Kurz NW-Regelheuristik schlägt GW-Hermeneutik, denn GW sind dann oft sprachlos.
Das trifft eigentlich für alle von Ihnen genannten Bereiche zu, ob Geschichte, Soziologie, Ehtik, Recht, Politik oder Ökonomie – überall kann das Empirische in Regeln gegossen werden. Und überall haben NW durchschnittlich recht viel Erfahrung, sie leben ja in diesen Systemen und systematisieren das Erlebte gewiss deutlicher als Otto Normalbürger und vermutlich teils stringenter als GW, ja sogar als die Spezialisten. Außerdem systematisieren sie nicht gleichermaßen isoliert wie GW, NW vereinen einfach alle Erfahrungen in einem Modell – während GW separieren. Und dass NW in gewissen Gebieten nicht mitreden, hängt wohl nicht so sehr mit deren komplizierten Modellen zusammen als vielmehr mit dem geringen Kontakt der NW zu diesen Bereichen – wo hat man denn im Alltag mit Archäologie zu tun oder mit Linguistik. Auch den Mathematikern können sie nicht reinreden, weil deren Erkenntnis eben gerade nicht auf Destillation von Regeln aus Empirie beruht.
Aber wo es um Regelerkenntnis geht, haben NW das bessere Handwerkszeug. Sie werden darin umfassend geschult. Für die Ökonomik hatte ich das ja auch oben (31.07.2013, 15:26, ähnlich Martin Holzherr 30.07.2013, 14:21) schon angesprochen, dass NW mit den modernen aber komplexen mathematischen Modellen aufwachsen und diese dann ganz natürlich auf alles Erlebte anwenden. Zwar ist ihr Erfahrungsschatz oft einseitig bzw. nicht repräsentativ, dafür kombinieren sie die Disziplinen und kompensieren so manche Einseitigkeit der GW-Spezialisten.
Dazu kommt: NW bilden spontan Hypothesen (ich hatte das in meinem ersten Kommentar mit den Erfindern angesprochen 30.07.2013, 14:27) – sie entwerfen Modelle und sind gewohnt, dass man diese dann argumentativ hinterfragt oder widerlegt. GW verwirrt dieses Vorgehen und ohne ausreichendes Nachdenken gelingt ihnen meist weder das Hinterfragen noch das Widerlegen, daher reagieren sie meist so ähnlich wie Sie oft hier: Das könne man nicht diskutieren, wenn man nicht die ganze Geschichte kenne. Das ist NW ein Nicht-Argument – entweder haben sie etwas Brauchbares gefunden oder man kann die Nutzlosigkeit zeigen. Galileo Galilei hatte das mit der Gleichsetzung von Kompetenz mit Wissenschaftlichkeit problematisiert, 30.07.2013, 01:35.
Galileo Galilei hatte schon darauf hingewiesen (29.07.2013, 14:17), dass sich NW gegen reinen Glauben wehren – aber vieles in GW ist Glauben. Ja selbst das Logikverständnis ist dort oft nicht ausreichend geschult (Was man da manchmal so für unlogische Argumente hört…). D.S. hatte ein anderes Problem mit Hinblick auf die Gender-Forscher angesprochen (29.07.2013, 18:29, Galileo Galilei hat das unter Verweis auf Alice Miller vertieft und umgeformt, 30.07.2013, 21:55): GW haben ihren Forschungsgegenstand oft (einseitig) erlebt – und geben doch vor, davon zu abstrahieren. NW haben Geisteswissenschaftliches oft ebenfalls erlebt, aber anders. Die NW präsentieren also ein Modell aus ihrer Perspektive und das wird von den GW nicht verstanden, obwohl vielleicht genauso (viel/wenig) repräsentativ. Paul Stefan hatte auf die Bedeutung der Intuition in den GW hingewiesen (29.07.2013, 20:28) – aber wenn die eine Rolle spielt, warum sollen dann NW nicht mitreden können, mit ihrer Intuition? Anders gefragt, warum soll eine Intuition besser (wissenschaftlicher) sein als eine andere – wenn sich beide nicht rational darlegen lassen? Und warum soll es auf die Regale von Diskussionen (Ludwig Trepl, 30.07.2013, 12:02) ankommen, wenn man daraus nicht konkrete Argumente für eine Diskussion herausziehen kann? Kurz: Der NW sieht nirgendwo den Vorsprung des GW, denn ihm ist Wissenschaft explizite Begründung und Zurückweisung – während GW explizit nur Nachvollziehbarkeit suchen (Noït Atiga, 30.07.2013, 14:27). Also wollen NW auch ein explizites Eingehen auf ihre Einwände, fehlt es daran, dann können sie berechtigt mitreden. Anders als Ludwig Trepl meint (31.07.2013, 11:10), scheinen mir die NW daher schon das Autoritäts-Vorurteil ggü. den GW zu haben – nur wird es von den GW permanent negiert, sie können ja auf die Entwürfe der NW nicht inhaltlich antworten.
Die von Ludwig Trepl empfundene Abwertung der GW durch NW (30.07.2013, 15:26) hat dann auch einen wahren Kern, aber aus meiner Sicht nicht die dort zitierte Prognose etc., sondern die fehlende explizite Herleitung oder Erklärung. GW können NW nicht verachten, denn deren Schritte sind unzweideutig publiziert – dort beruft sich keiner auf Kompetenz oder Intuition. Wenn ein NW-Student eine geniale Lösung hat, wird er genauso geschätz wie ein NW-Professor (ähnlich auch für völlig Fachfremde). Ein entsprechender GW-Student würde meist abgewertet – er solle erst mal alles Althergebrachte studieren, das kenne man alles schon. Was auch stimmt, denn das Unbekannte versteht der GW-Gebildete nicht mehr oder nur als unvollkommene Darstellung einer ihm vertrauten Sicht, anderes passt nicht zu seiner Intuition. Darum scheint fraglich, ob die Paradigmatisierung den Charakter verdirbt oder nicht doch die Gestattung einer wissenschaftlichen Berufung auf Intuition, also Hermeneutik.
Auch hatte ich das Problem angesprochen, dass GW von der Irritation durch NW angeregt werden könnten (31.07.2013, 17:50). Dann wäre nämlich deren Anmaßung keine mehr, weil die GW ihrerseits antworten könnten. Außerdem hatte ich erwähnt (01.08.2013, 17:12), dass NW im gerade betrachteten Modell arbeiten – was wiederum mit expliziter Wissenschaftlichkeit geht, bei intuitiven Teilen aber auf emotionalen Widerstand stößt, der allerdings nicht auf das konkret Vorgebrachte bezogen verbalisiert werden kann und sich daher als Verärgerung äußert. Psychologisch könnte man sich also fragen, ob es nicht vielleicht genausoviele Übergriffe von GW in die andere Richtung gibt – die nur eben darum keine emotionale Reaktion erzeugen, weil NW ihren ‘Ärger’ rational ausdrücken können.
Kurz: Vielleicht ist die Einmischung der Naturwissenschaftler nicht ein merkwürdiges, ihrem sonst so stolz hochgehaltenen wissenschaftlichen Anspruch entgegengesetztes Verhalten, sondern gerade die Verwirklichung dieses wissenschaftlichen Anspruches?
Bezug aufs Thema
Die Kommentare in diesem Blog haben die Eigenart, rasch die Verbindung zu dem Artikel zu verlieren, um den es eigentlich gehen sollte. In den letzten paar Dutzend Kommentaren ist die Frage nicht mehr aufgetreten, warum die Naturwissenschaftler denn so ein merkwürdiges, ihrem sonst so stolz hochgehaltenen wissenschaftlichen Anspruch entgegengesetztes Verhalten zeigen, wenn es um nicht-naturwissenschaftliche Themen geht.
Eines ist mir aber doch aufgegangen: Um den Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Nicht-Naturwissenschaften geht es gar nicht. Mathematik ist ja ganz und gar keine Naturwissenschaft. Aber in die Angelegenheiten der Mathematiker würden sich Naturwissenschaftler nicht einmischen. Nun, Mathematik ist „hart“. Doch sie würden sich auch z. B. in die Linguistik nicht einmischen, und auch einen Archäologen würden sie kaum berichtigen, wenn er eine Keramik der altiranischen Kultur zuordnet. Es scheint erst mal, daß die Notwendigkeit von Spezialistenwissen, kenntlich meist an einer esoterischen Fachsprache, abschreckend wirkt.
Was sind nun positiv die Fächer, die vor der Einmischung nicht sicher sind? Vielleicht hilft ja, was weit oben einmal angesprochen wurde: Es gibt Wissenschaften, in denen kommen wir nicht vor, und andere, in denen kommen wir selbst als Gegenstand vor. In den Naturwissenschaften kommen wir nicht vor, und die Inhalte der Naturwissenschaft müssen uns nicht interessieren, wenn wir nicht gerade ein technisch zu lösendes Spezialproblem haben. Aber die Inhalte der Geschichtswissenschaften, der Soziologie, der Ethik, der Rechtswissenschaften, der Politikwissenschaften, der Ökonomie usw. interessieren uns unausweichlich und immerzu, denn es geht im Leben immer darum, in jedem Augenblick. Man kommt nicht umhin, dazu eine Meinung zu haben, man kann nicht sagen, wie etwa bei einer Frage der Zellphysiologie der Sauergräser: interessiert mich nicht.
Damit ist aber noch nicht beantwortet, wieso man die Fachkompetenz der dafür zuständigen Wissenschaftler nicht achtet (es sei denn, es handelt sich um unzugängliches Spezialistenwissen, s.o.). Um das zu erklären, muß man wohl doch vor allem auf die negativen Wirkungen der Paradigmatisierungsprozesse sehen.
@ Noït Atiga (Stand der) Wissenschaft
Diese Prämisse [„absolutes Wissen“] wurde nicht aufgegeben, sondern radikal verändert. Wir wissen ja, daß zwischen dem Stand der Wissenschaft und dem, was in wissenschaftliches Wissen angestrebt wird, ein Unterschied ist. Darum nur ist überhaupt Forschung nötig. Das absolute Wissen hielt man für etwas, was man besitzt (alles Wissenswerte steht schon bei Aristoteles, man muß ihn nur zu interpretieren wissen) oder doch besitzen kann. Es ist dann zu einer regulativen Idee geworden, also zu etwas, von dem man weiß, daß man es nie besitzen wird (das macht das Wesen von „Idee“ aus), worauf man aber, aber eben nur als regulative Idee, doch nicht verzichten kann.
Wenn Sie fragen: „denn woran wollen wir derartiges methodisch begründetes Wissen erkennen?“ so wäre zu antworten: ob es methodisch begründet ist, kann man im Prinzip schon wissen, denn man kann im Prinzip wissen, was die richtige Methode ist: wir kennen, im Prinzip wenigstens, die Logik, und die Methode muß „logisch“ sein. Aber der andere Teil, der zum Wissen hinzukommen muß, die Empirie, ist für alle Zukunft offen, nie wissen wir, ob sie unser vermeintes Wissen nicht doch noch über den Haufen wirft.
Aber: Das fundamentale Nichtwissen, ob der jeweilige Stand der Wissenschaft „wissenschaftliches“ Wissen im alten Sinne ist, hebt nicht die Notwendigkeit dieser Differenz (Stand der Forschung als Faktum, „wissenschaftliches Wissen“ als Idee) auf. Am Stand der Wissenschaft muß immer Kritik geübt werden, er soll also überwunden werden. Aber dieser Stand soll ja nicht in irgendeine Richtung verlassen werden, sondern (durch weitere Forschung) in die richtige, diejenige, welche jene regulative Idee vorgibt; vermeintliches Wissen soll durch wirklich wissenschaftliches Wissen ersetzt werden. Das geschieht, indem auf der Seite der Methodik die jeweiligen Methoden immer wieder (auf ihren eigenen Grundlagen, andere haben wir nicht: wir fragen immer, ob das „logisch“ ist, was wir machen) überprüft und verbessert werden und in dem auf der Seite der Empirie beobachtet wird, was bisher nicht beobachtet wurde.
@Ludwig Trepl: Und das Dritte?
Was sind dann in dieser Sicht die Ökonomie oder die Rechtswissenschaften in ihren anderen Aspekten, also eigentlich fast allem was nicht Geschichte der Ökonomie oder des Rechtes ist? Unter Gesetzen stehend trifft es ja auch nicht wirklich.
Und sind nach dieser Einteilung nicht die meisten Geisteswissenschaften eigentlich methodisch Naturwissenschaften – etwa Literaturwissenschaften oder Sprachwissenschaften suchen ja auch nach Regeln und Gesetzen, das wäre ja dann nach der Unterscheidung Naturwissenschaft, oder?
@ Dr. Webbaer:
„Was wollen die G-Wissenschaften (eigentlich) wissen und wie genau ist der Krieg bzw. dessen Ausbruch bzw. dessen Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs ein naturwissenschaftliches Phänomen?“
Nach den klassischen Differenzierungen (vor allem Rickert) richtet sich die Naturwissenschaft, im formalen, methodologischen Sinn, auf die Welt als „unter Gesetzen stehend“. Sozialwissenschaft, die nach gesetzmäßigen Zusammenhängen zwischen z. B. Hunger und Ausbruch von Revolten fragt, ist nicht Geisteswissenschaft, sondern im methodologischen Sinn Naturwissenschaft, sie untersucht dieses Phänomen „als Natur“. Geisteswissenschaft ist „idiographisch“ („das Besondere beschreibend“) (Windelband) und trennt das, was interessiert, vom Uninteressanten, Auszublendenden nicht wie die Naturwissenschaft nach der Prinzip der Relevanz für die Entdeckung allgemeiner Gesetze, sondern nach dem Prinzip des „Kulturwerts“, der „Bedeutung“ in jeweiligen Kulturen (was das ist, darüber müßte ich mich längere auslassen). Darum interessiert sich die Geisteswissenschaft für Goethe, aber nicht für seinen Koch, der ja für die Naturwissenschaft nicht weniger interessant wäre. Und wenn sie sich mal für den Koch interessiert, dann nur aus dem Grund, daß er eben der Koch von Goethe war.
Und was interessiert sie an Goethe? Nicht das, was er mit möglichst vielen gemeinsam hat – das würde die Naturwissenschaft interessieren. Diese interessiert an einem individuellen Käfer nicht das, was diesen Käfer als Individuum von allen anderen unterscheidet, darauf achtet sie vielmehr gar nicht. Sondern was er mit allen seiner Art oder mit allen Insekten gemeinsam hat, interessiert. An Goethe interessiert aber gerade das, was ihn und nur ihn auszeichnet. Nicht jede Marotte, sondern das, was „geistesgeschichtlich“ bedeutend ist, etwa, weil es Auswirkungen auf das allgemeine Denken der Deutschen in der Kaiserzeit hatte usw.
Typisch für diese Geisteswissenschaften sind die historischen Wissenschaften. Ökonomie, Rechtswissenschaften u. a. sind auf diese Weise nur in Aspekten getroffen. Reicht das erst mal?
@Ludwig Trepl: Definitionswege
Sicher ist man das manchmal auch froh über vorangestellte Definitionen. Aber mein Problem dort ist: Die Freude ist oft eine falsche Freude, denn mit derartiger Definition kommt man nur bei wenig oder keinem Vorverständnis weiter. Meist sind sie trügerisch.
Das gilt mir dann ganz besonders für Ihr Beispiel “Freiheit”: Wenn ich dort anfangen sollte mit einer klassischen Definition, dann müsste ich den ganzen Text schon vorwegnehmen. Daher würde ich eher ein paar mir treffende Bilder zur Einführung verwenden (auch wenn man darin durchaus Teile einer disjunktiven Definition sehen kann).
Der Essay geht in meine Richtung – trifft sie aber doch nicht ganz. Vermutlich erklärt der Unterschied auch meine Begriffswahl (holistisch).
Adornos Essays sind eher Ausschnitte und damit im Hinblick auf die von Ihnen allein als wissenschaftlich bezeichneten, systematischen Darstellungen unvollständig. Mir schwebt aber eher ein Mittelding vor, wenn Sie so wollen ein systematischer Essay – auch wenn das eigentlich ein Widerspruch ist. Doch dieser Widerspruch wird in den Naturwissenschaften gelebt und trotz anderen Erkenntniszieles scheint er mir auf Philosophie wie Geisteswissenschaften übertragbar:
Jedes Modell ist ein Essay (Versuch, Entwurf) – und wird doch von der Wissenschaft kontinuierlich entwickelt, also präszisiert, korrigiert und erweitert. Die Begriffe sind als Teile dieses Modells darin gefangen und ihr genauer Gehalt bestimmt sich aus der aktuellen Sturktur des Modells.
Darum ist mir die Beschreibung holistisch – weil das Ganze stets mehr ist als alle Teile, weil Modell und Teile ihre Dynamik verlieren würden, gestaltete man sie isoliert. Und darum scheint mir ein solcher Aufbau dann sogar wissenschaftlicher als der bisher (gerade in Deutschland) nur als wissenschaftlich angesehene klassisch-systematische.
@Ludwig Trepl: (Stand der) Wissenschaft
Da bin ich ganz bei Ihnen – unter diesem Aspekt ist dann auch die Theorie nicht begründetes Wissen, wenn die Handschrift sie widerlegt.
Aber mir scheint diese Unterscheidung nicht besonders hilfreich – denn woran wollen wir derartiges methodisch begründetes Wissen erkennen? Mir ist dort kein Weg ersichtlich. Und wenn wir immer nur den Stand der Wissenschaft erkennen können – warum sollen wir dann einen Unterschied zwischer der Wissenschaft und dem Stand der Wissenschaft machen?
Mir scheint daher Ihre Bezeichnung als im alten Sinne treffend – dieser Sinn stammt noch aus der Zeit, als man an die Möglichkeit absoluten Wissens glaubte. Unter dieser Prämisse ist nämlich die Unterscheidung sehr sinnvoll. Aber wenn man diese Prämisse aufgibt?
Herr Trepl
Gerne mal erläutern:
Was wollen die G-Wissenschaften (eigentlich) wissen und wie genau ist der Krieg bzw. dessen Ausbruch bzw. dessen Wahrscheinlichkeit des Ausbruchs ein naturwissenschaftliches Phänomen?
MFG
Dr. W
@ Martin Holzherr und +/- alle
„Sollen Begriffsdefinitionen, Axiome, Modelle, Mathematisierungen in der Geisteswissenschaft verstärkt eingesetzt werden? …. Philosophen beispielsweise trotzdem lieber bei allgemein verständlichen Worten und Begriffen bleiben …“
Das Allerwichtigste: Philosophie ist keine Geisteswissenschaft. „Geisteswissenschaft“ wird üblicherweise das genannt, was man einst richtiger als „(historische) Kulturwissenschaft“ bezeichnet hat. Die Geisteswissenschaften sind empirische Wissenschaften und genauso aus der Philosophie hervorgegangen wie die Naturwissenschaften als der andere Zweig der empirischen Wissenschaften (und in jeder systematischen Philosophie ist beiden ihr Ort zugewiesen, heute wie früher).
Daß „Philosophen … trotzdem lieber bei allgemein verständlichen Worten und Begriffen bleiben“ ist in der Philosophie spätestens seit Leibniz ein Thema. Vor allem im logischen Positivismus ist der Versuch von zentraler Bedeutung gewesen, die „natürliche“ Sprache durch eine exakte Kunstsprache zu ersetzen. Dieser Versuch ist dort als undurchführbar aufgegeben worden. – Wenn man diese Diskussionen nicht kennt, ist es völlig sinnlos, über diese Frage zu diskutieren, man wird nur auf Lösungen kommen, die schon einmal vorgeschlagen worden sind und fallengelassen werden mußten. Und ich habe den Eindruck, daß diese Diskussionen hier in den Kommentaren ziemlich unbekannt sind.
– Auch wenn die Philosophen in aller Regel „bei allgemein verständlichen Worten und Begriffen bleiben“, so werden diese Begriffe doch mit einer Umsicht und Genauigkeit erforscht und differenziert und präzisiert, von der man in den Naturwissenschaften nicht einmal träumen kann. Naturwissenschaftler pflegen Nominaldefinitionen für bestimmte begrenze Zwecke (und in der Physik unter der Idee, universell anwendbare Definitionen zu erreichen) zu erstellen, sie erforschen nicht die Begriffe („Realdefinition“: Feststellung ihrer Bedeutung durch Analyse ihres Gebrauchs, statt Festlegung). Das tut man aber in der Philosophie und auch in manchen Geistes- und Sozialwissenschaften in großem Umfang und man erforscht sie nicht nur im deskriptiven Sinne, sondern auch im normativen, unter dem Gesichtspunkt ihrer Erklärungskraft.
„Der Modellansatz scheint aber mindestens in einigen sozialen Wissenschaften fruchtbar.“
In den Geistes- und Sozialwissenschaften werden seit eh und je Modelle verwendet, man nennt es nur recht selten so (in letzter Zeit vornehmlich aus antragstechnischen Gründen – das naturwissenschaftliche Vokabular hören Geldgeber gerne – allerdings häufiger). Auf den Begriff gebracht wurde das vor allem in einem Rahmen, der Sozialwissenschaften explizit als historische Kulturwissenschaften verstand, nämlich bei Max Weber. Was seitdem alles so entwickelt wurde an einflußreichen Methoden (man denke an die „Diskursanalyse“), baut darauf auf, ist oft dasselbe unter anderem Namen. Die Weber’schen „Idealtypen“ sind Modelle, allerdings solche, die nur für ein „historisches Individuum“, etwas „So-und-nicht-anders-Gewordenes“ gelten und von nichts anderem als diesem einen singulären Sachverhalt gelten sollen. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu den typischen naturwissenschaftlichen Modellen. Im Hinblick auf die Forderungen Präzision und logische Konsistenz aber steht man hier den naturwissenschaftlichen Modellen nicht nach. Ob die Modelle/Idealtypen quantitativ sind, hängt davon ab, ob Quantifizierung möglich ist (das geht in Natur- wie in Sozialwissenschaften oft einfach nicht) und ob sie sinnvoll ist. Für die typischen geisteswissenschaftlichen Fragen – man denke an die alte Kontroverse um „Erklären und Verstehen“ – ist sie in aller Regel sinnlos.
Ich habe bei der Diskussion hier den Eindruck, daß niemand eine Ahnung davon hat, was die Geisteswissenschaften eigentlich wissen wollen. Die seit über 200 Jahren anhaltende Diskussion vor allem unter Historikern über den Charakter ihrer Wissenschaft scheint unbekannt. Man empfiehlt Methoden, wie sie in den Naturwissenschaften erfolgreich sind, ohne zu berücksichtigen, daß die Geisteswissenschaften etwas ganz andere wissen wollen als die Naturwissenschaften, daß sie keine „Gesetzeswissenschaften“ sind, daß sie nicht prognostizieren wollen und auch nicht im Sinne der Naturwissenschaften erklären. Natürlich kann man an einen typisch geisteswissenschaftlichen Gegenstand eine typisch naturwissenschaftliche Frage stellen (z. B. „unter welchen Bedingungen bricht nach welcher Zeit mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Krieg aus“). Aber das ist eben eine naturwissenschaftliche Frage, man betreibt Naturwissenschaft im methodologischen Sinne, wenn man das fragt, allerdings an einem für Naturwissenschaften untypischen Gegenstand. In den Geisteswissenschaften interessiert so etwas nur am Rande.
Das eine ist
eine noch nicht falsifizierte Theorie,
…, das andere keine Wissenschaft, wenn die Wissenschaft als soziale Veranstaltung verstanden wird.
MFG
Dr. W
@ Noït Atiga Vergessenes Wissen
„Solange kein Wissenschaftler um diese verstaubte Handschrift weiß, gehört deren Inhalt nicht zur Wissenschaft. Erst wenn sie im Betrieb wieder aufgenommen wird, erst dann gehört sie zur Wissenschaft als solcher.“
Das scheint mir ein recht verzwicktes Problem. Man könnte in Ihrem Sinne wohl sagen: Wenn die Handschrift völlig vergessen ist, dann ist es eine Sache der Forschung, sie zu finden, sie gehört noch nicht zur Wissenschaft als solcher. Es ist so wie bei einer geologischen Theorie, die durch Bohrung an einer bestimmten Stelle widerlegt werden könnte, aber da hat noch keiner gebohrt. Die Theorie ist aber dann jetzt schon objektiv falsch, nur weiß es die Wissenschaft noch nicht.
Die Verwirrung kommt wohl dadurch zustande, daß man nicht sauber zwischen „Stand der Wissenschaft“ und „wissenschaftlich“ im alten Sinne unterscheidet. „Stand der Wissenschaft“ ist das, was man jetzt für wahr hält (und ohne weitere Forschung auch für wahr halten muß). „Wissenschaftliches“ im alten Sinne ist methodisch begründetes Wissen, und da ist jene geologische Theorie eben kein Wissen, sie ist ja falsch, die Methode war vielleicht unzureichend. Der Stand der Wissenschaft ist ein jeweiliges Faktum, „Wissenschaftliches Wissen“ im alten Sinne ist die in der Wissenschaft immer nötige und wenn’s gut läuft wirksame regulative Idee.
@ Noït Atiga Definitionen
„…den verwendeten Begriffen lange Ausführungen vorauszugehen, wie diese Begriffe verwendet werden und warum so und nicht anders.(Das ist eine Herangehensweise und es ist die heute überwiegende. Sie macht das Lesen recht schwierig …. Eine andere ist die holistische Definition der Begrifflichkeiten. Also ihre (jedenfalls teils) implizite Definition im konkreten Gebrauch“
Beides ist üblich, es ist nicht das eine älter und verbreiteter als das andere, noch machen es die einen so, die anderen so, allenfalls überwiegt bei einem Autor mal das eine, mal das andere, aber gewöhnlich macht es ein und derselbe Autor mal so, mal so. Auch ist es nicht so, daß das eine schwieriger zu lesen wäre als das andere usw., sondern das kommt auf die Umstände an. Manchmal ist man froh darüber, daß eine explizite Definition vorangestellt wird, manchmal freut man sich, daß die Definitionen sich im konkreten Gebrauch ergeben. Ich hatte allerdings die Fälle vor Augen, in denen eine implizite Definition nicht möglich ist, wo es ganz unumgänglich ist, erst mal klarzulegen, in welchem Sinne man z. B. das Wort „Freiheit“ verwendet, sonst kann man gar nicht anfangen mit dem Text. – Natürlich gibt es Philosophen, die mehr wissenschaftlich-systematisch, andere, die mehr literarisch schreiben (Kirkegaard, Nietzsche, Adorno u.v.a.) , und es gibt Vorzüge der einen Schreibweise in mancher, der anderen in anderer Hinsicht. Der Klassiker, in dem die Vorzüge der Schreibweise, die Sie bevorzugen, dargestellt sind, ist Adornos Essay „Der Essay als Form“.
Wieso Sie die eine Methode holistisch nennen, verstehe ich allerdings nicht. Ich kann keine Verbindung zu einem der üblichen Verwendungsweisen von „holistisch“ erkennen.
@Frank Wappler: Wörter- & Funktionenbuch
Sie sind nicht unbedingt allzu viele – obwohl der Wortschatz vieler Geisteswissenschaftler dann doch wieder sehr groß ist. Aber selbst wenn man sich auf wenige Wörter beschränkte und diese eindeutig definierte, erklärte man damit nur Teile der Begriffe, die Assoziationen der Denker und der Leser wären immer noch deutlich zahlreicher. Man schaue nur mal in den Grimm und sehe, welcher Aufwand dort für einzelne Wörter betrieben wird (z.B. für das oben von @Ludwig Trepl benutze iglauben).
Und selbst wenn man wenige, nehmen wir mal an neue Wörter mit wenigen bekannten Wörtern definierte – die feinen Nuancen im Verständnis dieser zur Definition verwendeten Wörter wirkten sich irgendwann garantiert aus.
Schlimmer noch ist unsere Tendenz, alles Neue in unser bestehendes Denksystem einzubauen. Wir würden den Begriff dann doch wieder irgendwie assoziieren – und jeder würde es anders tun. Dieses Risiko vermindern die Naturwissenschaften, indem die Begriffe mit dem jeweiligen Modell gelernt werden. Jeder kennt das aus deren Hilfswissenschaft, aus der Schul-Mathematik: Dort müssen die Schüler erstmal lange alle Operationen üben, bevor mit Subtrahieren, Addieren, Multiplizieren und Dividieren alle dasselbe assoziieren (wie auch mit Multiplikator, Nenner, Zähler etc.).
Dabei wird die Stimmigkeit immer wieder kontrolliert, werden die Lernenen immer wieder dazu angehalten, die Rechenschritte (= Denkabläufe) auch darzulegen, damit deren richtiges Verständnis kontrolliert werden kann. Und hier geht es nur um sehr wenige Operationen und Begriffe. Und es sind sich alle einig über das Modell.
Der Sommer klammert bloß …
Noït Atiga schrieb (02.08.2013, 14:38):
> Ein Wörterbuch hilft aber auch nicht wirklich weiter, denn Wörterbücher erklären Begriffe durch andere Begriffe […]
Wenn das die Auffassung von einem “Wörterbuch” ist, und es deshalb offensichtlich unter dem Problem der “Endlosschleife” (von Erklärungsversuchen bzw. Referenzierung, die in eine endlosen Kette oder sogar eher ein endloses Geäst von Begriffen führt) leidet, dann hätte ich im ursächlichen Kommentar (01.08.2013, 17:22) wohl besser von einem “Alphabet” (aus wenigen axiomatischen Begriffen) geschieben, und von “Transkriptionstabellen“, die sich zwischen den verschiedenen Alphabeten individueller Beteiligter wohl vereinbaren lassen dürften.
Die Begriffe, die unbedingt vorauszusetzen/zuzugestehen sind, um die Frage “Was meinst du mit <…> ?” überhaupt in Betracht ziehen zu können, sind doch sicherlich nicht allzu viele (?): …
… aber nicht einfacher!
Martin Holzherr schrieb (02.08.2013, 11:28):
> Ein Beispiel für ein in den Sozialwissenschaften eingesetztes Modell ist Standard social science model, welches (vereinfacht) die Annahme vieler Sozialwissenschaftler modelliert, der Mensch sei sozial, nicht biologisch determiniert.
> Solch ein Modell genügt den Ansprüchen der Naturwissenschaften zwar wohl nicht,
Man wüsste jedenfalls z.B. die (formal ähnlich einfache) Annahme zu vermeiden, “die Durchschnittsgeschwindigkeit eines Autos sei von der Pfadlänge der befahrenen Strecke determiniert, nicht von der Dauer der Streckenbelegung”.
> es ist aber sehr hilfreich, wenn man weiss, dass bestimmte Wissenschaftler diese Grundannahmen machen, denn es lässt die Einzelaussagen dieser Wissenschaftler in einem bestimmten Licht erscheinen.
Bzw. im durch endloses Gerühre angeheizten (Ver-)Glühen.
@Webbaer: Paradigmenwechsel=Umkrempeln
Das widerspricht sich – Paradigmenwechsel sind ein Umkrempeln des bisherigen Vorgehens.
Und die Zerlegung von Kräften in ihre Einzelteile war für die Physik ein solcher Paradigmenwechsel – der ihr enorme Möglichkeiten erschlossen hat. Warum sollte ein ähnlicher Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften per se ausgeschlossen sein?
Axiomatiken
Herr Atiga, es handelt sich naturwissenschaftlich bei Axiomen um bestimmte Setzungen oder Würdigungen auf Grund bekannter vglw. stabiler Sachlagen – eben auf die Natur bezogen.
Axiomatiken sind insofern statisch, werden aber im Rahmen neuer Erkenntnis fortlaufend geprüft und im Rahmen sogenannter Paradigmenwechsel bedarfsweise neu aufgebaut.
Die moderne Wissenschaftlichkeit ist ein dynamischer anthropogener Prozess und benötigt keine vorschlauen Denker, die das bisherige Vorgehen umkrempeln wollen.
Sie ist bezogen auf den Bereich der Natur ein ständiges Gerühre, bestimmte Standards nutzend.
HTH
Dr. W
@all: Induktiv-deduktive Modelle
Sicher brauchen die Geisteswissenschaften allesamt Begriffe und ist mathematische Modellierung für sie noch bei Weitem undenkbar. Dabei liegt mir der Ursprung dieses Problems aber weniger in einer Vorliebe der Philosophen für allgemeinverständliche Worte oder Begriffe, als im geringen Komplexitätspotential aller bisherigen ‘Mathematisierungen’, was dann zu besagter Vorliebe führt.
Darum ist mir aber auch die axiomatische Bestimmung von Begriffen problematisch – denn damit werden die Begriffe deutlich ärmer als sie es in ihrer natürlichen Form sind. Dazu kommt das oben schon Geäußerte: Aus so definierten Begriffen kann man nicht mehr herausholen, als man vorher hineingelegt hatte. Was wirklich spannend ist, das sind ihre Beziehungen bzw. Interaktionen und die werden selten definiert – unterliegen dann also dem Allgemeinverständnis.
Ein Wörterbuch hilft aber auch nicht wirklich weiter, denn Wörterbücher erklären Begriffe durch andere Begriffe – die oft dann wieder mit diesen Begriffen erklärt werden. Gute Wörterbücher enthalten noch einige Beispiele, die man aber auch erst mit einiger Vorkenntnis richtig versteht. Rein deduktiv kommt man also nicht zum Ziel – aber das versuchen die Geisteswissenschaften überwiegend.
Sinnvoller scheint mir der ‘induktiv-deduktive’ Weg der Naturwissenschaften, besonders der Physik – und das meinte ich mit Rückführung auf Grundlagen, nämlich das Einbauen in ein System und das Ableiten der bisherigen und neuer Details aus demselben, mit ggf. aufgrunddessen erfolgender Korrektur des Systems etc. Allerdings meinte ich damit noch nicht einmal das Einbauen in die Philosophie, sondern erst einmal das Einbauen verschiedener (später aller) Erkenntnisse einer Disziplin in ein ihr eigenes, umfassendes Modell.
Dabei scheint mir der Weg der Physiker sehr hilfreich: Man entwickelt individuelle Modelle für alle beobachtbaren Phänomene – versucht aber gleichzeitig, diese aufeinander zu beziehen. Also definiert man nicht wirklich allgemeine Begriffe oder Regeln, sondern erstmal spezielle für bestimmte Ausschnitte. Und schaut dann nach Ähnlichkeiten mit Konzepten auf anderen Bereichen. Dann kann es zwar durchaus noch konkurrierende Modelle geben – aber sie lassen sich darüber vergleichen, wie viel sie wie gut erklären oder vorhersagen.
Dabei sind aber die Axiome nicht statisch, sondern werden mit neueren Erkenntnissen zu Details auch ihrerseits umgestaltet. Die Entwicklung läuft also dauerhaft in beide Richtungen – was umso leichter geht, je besser die Ableitungspfade bekannt sind. Dass dieser Weg in den Geisteswissenschaften derzeit systematisch betrieben würde, scheint mir nicht so.
Das müsste dann aber auch für die Philosophie gelten. Also müsste sie sich nicht nur auf die Suche immer neuer Philosophien machen, sondern zumindest die aktuell vertretenen Ansichten in ein gemeinsames Modell zu integrieren versuchen. Wenn man so will: Sie müsste (wie ursprünglich die Physik) die offensichtlichen Kräfte zerlegen in die ihnen zugrundeliegenden Kraftanteile oder Grundkräfte, also vektorisieren.
Hätte das die Philosophie einmal geschafft (wobei derartige Modelle immer nur vorläufig sein können, weil sich die Menschen und deren Umfeld entwickeln), dann könnten auch die anderen Wissenschaften wieder daran angebunden werden – und es gäbe dann eben nicht viele übergreifende Modelle, sondern ein übergreifendes Modell.
Das liegt in weiter Ferne. aber man könnte zwischenzeitlich durchaus nur Teilbereiche verbinden – wie es ja die Physik sukzessive mit ihren Theorien der Grundkräfte gemacht hat. Und dort zeigt sich auch die oben von mir angesprochene Modellbezogenheit der naturwissenschaftlichen Begriffe – was in der Elektrostatik gilt, gilt zwar nicht in der Magnetostatik, aber im übergreifenden Modell der Quantenelektrodynamik sind sie dann doch vereint. Wobei diese Vereinigung für gewisse Anwendungsbereiche dann doch wieder aufgeweicht wird, weil ein bestimmtes vereinfachendes Modell dort anschaulicher und doch ausreichend ist (dazu gerade Joachim Schulz: Wellen, Teilchen und die Quantenphysik).
Klug
angemerkt, Herr Holzherr, das stark näherungsweise Herangehen bestimmter Wissenschaft wird erst durch die Kontextualisierung verständlich und einordbar.
Am Fachvokabular und an Definitonen kommt man also erst recht nicht vorbei, kA, was anderslautende Meinungsäußerungen hier genau anrichten wollten.
MFG
Dr. W
Fortsetzung Modelle
Ein Beispiel für ein in den Sozialwissenschaften eingesetztes Modell ist Standard social science model, welches (vereinfacht) die Annahme vieler Sozialwissenschaftler modelliert, der Mensch sei sozial, nicht biologisch determiniert.
Solch ein Modell genügt den Ansprüchen der Naturwissenschaften zwar wohl nicht, es ist aber sehr hilfreich, wenn man weiss, dass bestimmte Wissenschaftler diese Grundannahmen machen, denn es lässt die Einzelaussagen dieser Wissenschaftler in einem bestimmten Licht erscheinen.
Modelle in den Geisteswissenschaften
@Ludwig Trepl, @Frank Wappler, @Noït Atiga
Sollen Begriffsdefinitionen, Axiome, Modelle, Mathematisierungen in der Geisteswissenschaft verstärkt eingesetzt werden? Das ist die Richtung in die sich die Diskussion in den letzten Kommentaren hinbewegt.
Mein Eindruck ist, dass dies schon mehrmals versucht wurde, dass aber Philosophen beispielsweise trotzdem lieber bei allgemein verständlichen Worten und Begriffen bleiben und erwarten, dass der Leser/Zuhörer, die Bedeutung und Beziehung dieser Begriffe durch die Verwendung in den philosophischen Texten und Vorträgen selbst erschliesst.
Die Attraktivität von “mathematisierten”, axiomatisierten philosophischen Aussagen ist nämlich sehr gering.
Der Modellansatz scheint aber mindestens in einigen sozialen Wissenschaften fruchtbar. Modellieren bedeutet ja, eine vereinfachte Welt, – die Modellwelt -, aufzubauen, in der die Beziehungen zwischen den Modellelementen klaren Regeln folgen. Für Dinge in der Realität gibt es dann korrespondierende Elemente in der Modellwelt. Ein Beispiel ist das
@ Noït Atiga Definitionen
„… allgemein, also modellunabhängig sind sie nicht sinnvoll definier- und bewertbar. Das gilt auch in den Naturwissenschaften – dort ist jeder Begriff in seinem Modell definiert, keinen kann man außerhalb des Modelles definieren oder ohne das Modell von einem guten oder schlechten Begriff sprechen. (Und das ist jedem Naturwissenschaftler klar – während Geisteswissenschaftler dort oft an Allgemeingültigkeit glauben.“
Ich verstehe nicht, wie Sie das meinen. Die Naturwissenschaften sind „nomothetisch“ (Windelband), sie suchen nach streng allgemeingültigen Gesetzen, die durch Verknüpfung streng allgemeiner (universeller) Begriffe formuliert werden. Daß ein Begriff nur unter bestimmten Vorannahmen (das meinen Sie wohl mit Modell) gilt, verschiebt das nur, denn das Modell soll ja auch allgemeingültig sein: man sucht es zu verbessern (man verändert es, man präzisiert den Anwendungsbereich …), wenn sich herausstellt, daß das nicht so ist.
„Darum schrieb ich ja auch, dass es in der Geisteswissenschaft um die Rückführung auf die Grundlagen gehen müsste – damit könnte man nämlich ein übergreifendes Modell für alle existierenden und kommenden Theorien bilden.“
Hmm, wie meinen Sie das? Rückführung auf die Grundlagen könnte doch hier nur heißen, die jeweilige Geisteswissenschaft in ein System, d. h. in die Philosophie als System einzubinden. Dann hätte man übergreifende Modelle für alle existierenden und kommenden Theorien – so viele, wie es Philosophien gibt, und mit deren Änderung würden sich die Modelle ändern, und in dem Streit um die wahre Philosophie ginge es immer auch um die wahren Geisteswissenschaften. – Das tut man hier gewiß selten, heute seltener als früher, aber tut man es seltener als in den Naturwissenschaften? Mein Eindruck ist das nicht.
.
Noït Atiga schrieb (01.08.2013, 13:07):
> Definition hilft nicht weiter, wenn deren Begriffe wieder anders verstanden werden usw.
Man gelangt dort in eine Endlosschleife [oder zumindest -kette] der Begriffe, die über Begriffe nicht gelöst werden kann!
Natürlich muss man sich zunächst auf begriffliche Axiome festlegen (lassen).
Und zwar, notwendiger Weise, gerade und ausschließlich diejenigen, die den Fixpunkt des beschriebenen Problems ausmachen:
Welche begrifflichen Selbstverständlichkeiten muss man Jedem zugestehen, so “dumm” er/sie/es sich darüberhinaus auch darstellen mag, den man (guten Gewissens) nach einer Definition (eines) seiner Begriffe fragen würde; und/oder von dem man umgekehrt, gefragt würde?
Die (wenigen) dazu erforderlichen Begriffsaxiome kann man sicher voraussetzen; ein “Wörterbuch”, das deren verschiedene individuelle sprachlich/symbolische Ausdrucksformen in Verbindung setzt, dürfte sich vereinbaren lassen. Und alle anderen Begriffe sind aus diesem Fundus zu konstruieren.
Dieser Ansatz ist in der Physik (Einstein, Kretschmann, Robb, …) vielleicht schon weiter gediehen, als in anderen Wissenschaften; vielleicht nennt man ja die Durchsetzung dieses Ansatzes am besten an sich “Physik”.
@L. Trepl: Arbeit mit/zwischen Begriffen
Das ist eine Herangehensweise und es ist die heute überwiegende. Sie macht das Lesen recht schwierig und ob der Definitionen kopflastig. Und sie führt (aus rein psychologischen Gründen) nur selten zum gewünschten Ergebnis, denn diese Definitionen haben für den Leser (trotz bestem Willen) nur geringe Bedeutung – sie prägen sich ihm nicht ein.
Eine andere ist die holistische Definition der Begrifflichkeiten. Also ihre (jedenfalls teils) implizite Definition im konkreten Gebrauch – und die haben sowohl Wittgenstein als auch Nietzsche recht häufig genutzt. Auch Luhmann hat gerade in seinem Hauptwerk (Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie) so gearbeitet: Alle Definitionen der Begriffe eines Modells gehören zusammen und sie erschließen sich erst aus dem Modell, wie dieses sich aus den Begriffen.
Aber dort muss sich der Leser eben auf eine Reise mitnehmen lassen – also nicht sogleich bei der ersten ihm falschen Anwendung eines Begriffes dem Autor widersprechen, sondern sich fragen wie denn der Begriff gemeint sein könnte – damit dessen Gebrauch stimmt. Man kann also erst am Ende eines Werkes dasselbe wirklich kritisieren und meist nur in seiner Gesamtheit.
Was ein guter Begriff von Wahrheit, von Reflexion, von Liebe, von Ehrfurcht, von Herrschaft usw. ist, das erschließt sich dann immer nur aus dem Kontext – allgemein, also modellunabhängig sind sie nicht sinnvoll definier- und bewertbar. Das gilt auch in den Naturwissenschaften – dort ist jeder Begriff in seinem Modell definiert, keinen kann man außerhalb des Modelles definieren oder ohne das Modell von einem guten oder schlechten Begriff sprechen.
Und das ist jedem Naturwissenschaftler klar – während Geisteswissenschaftler dort oft an Allgemeingültigkeit glauben. Darum schrieb ich ja auch, dass es in der Geisteswissenschaft um die Rückführung auf die Grundlagen gehen müsste – damit könnte man nämlich ein übergreifendes Modell für alle existierenden und kommenden Theorien bilden. Dann könnte man sich dort auch wissenschaftlicher, also rationaler abstimmen.
Diese Ansicht teile ich nicht und darum vermischte ich nichts. Solange kein Wissenschaftler um diese verstaubte Handschrift weiß, gehört deren Inhalt nicht zur Wissenschaft. Erst wenn sie im Betrieb wieder aufgenommen wird, erst dann gehört sie zur Wissenschaft als solcher.
Natürlich es wichtig, auch alte Argumente wieder aufzugreifen – aber das ist nicht das Anliegen der Wissenschaft im Sinne aktueller Erkenntnis(gewinnung), sondern eher der historischen Herangehensweise. In den Naturwissenschaften ist diese Trennung auch ganz klar – was man mal so dachte, das gehört zur Geschichte der Wissenschaft. Erst wenn ein positiver Wissenschaftler Teile dieser Geschichte wieder aufnimmt, erst dann gehören diese Gedanken wieder zur Wissenschaft.
Darin liegt sicher auch ein Grund der von Ihnen im Ursprungsbeitrag angesprochenen ‘Übergriffe’ der Naturwissenschaftler – sie arbeiten in dem gerade betrachteten Modell, eine Allgemeingültigkeit suchen sie nicht. Was dann aber aus Sicht der Geisteswissenschaftler zu Verletzungen führt, weil das ja ganz andere Bereiche verschieben würde. Nur gehören die eben nicht zwingend zum Modell, jedenfalls nicht für den Naturwissenschaftler.
@ Noït Atiga: Arbeit an Begriffen
„Leider begehen dann aber die ach so Schlauen nicht selten genau den Fehler, dessen Erkennbarkeit Sie den Dümmsten zuschreiben: Sie streiten sich fruchtlos weil sie stets davon ausgehen, die anderen würden die Begriffe genauso verstehen – schließlich habe man definiert. Aber diese Definition hilft nicht weiter, wenn deren Begriffe wieder anders verstanden werden usw.“
Ja, und (u.a.) deshalb ist die Arbeit an den Begriffen eine Hauptaufgabe in einer Vielzahl von Disziplinen. Man macht oder hält sich an eine Nominaldefinition, aber die Leser glaubt, hier liege eine andere zugrunde, eine, die ihm bekannt ist, und schon redet man aneinander vorbei. Darum muß an Begriffen gearbeitet werden, darum pflegen z. B. in der Philosophie den verwendeten Begriffen lange Ausführungen vorauszugehen, wie diese Begriffe verwendet werden und warum so und nicht anders. Und ein Großteil der Arbeit besteht hier genau darin, Begriffe in Auseinandersetzung mit dem bisherigen Gebrauch besser zu fassen. Was ist ein guter Begriff von Wahrheit, von Reflexion, von Liebe, von Ehrfurcht, von Herrschaft usw.? Das haben auch Wittgenstein und Nietzsche nicht anders gemacht.
Im übrigen ist das in den Naturwissenschaften zum beträchtlichen Teil auch nicht anders. In der Biologie muß man, vor aller Kausalforschung und Quantifizierung, die Vielfalt der Natur auf Begriffe bringen, und diese Begriffe lassen sich nicht einfach nach Belieben festlegen, sondern es ist ein langwieriger Forschungsprozeß, der gewöhnlich von einem Begriff der Alltagssprache zu einem ganzen System von ähnlichen, aber doch unterschiedenen Begriffen führt, die kaum jemals als endgültig angesehen werden können und die selten kontextunabhängig verwendet werden können. Man fängt an mit teils metaphorisch, teils ziemlich wörtlich gemeinten alltagssprachlichen Begriffen (Zelle, Kern, Art, Individuum, Gesellschaft, Migration, Invasion, Räuber, Beute, Parasit usw.) und präzisiert und differenziert sie. Das ist und bleibt ein Hauptteil der Arbeit der Biologie. Nur in Physik und Chemie ist es etwas anders.
„… dann kann man ihm [dem Doktoranden] nicht nur keinen Vorwurf machen, sondern dann hat er richtig gehandelt, wenn er die aktuellen Zusammenstellungen und Aufsätze zum Thema ausgewertet hat. Fehlt diese Widerlegung in diesen Werken, dann gehört sie eben nicht zum derzeitigen Stand der Wissenschaft – warum auch immer.“
Da vermischen Sie etwas, was man klar trennen muß. Im Betrieb der Wissenschaft sieht man aus Praktikabilitätsgründen vieles nach. Den Doktoranden tadelt man gewöhnlich nicht, wenn er nur die aktuellen Zusammenstellungen und Aufsätze zum Thema ausgewertet hat, man verzeiht es ihm sogar, wenn er sich bei Dingen, die nicht sein engeres Fach betreffen, allein an Überblicksarbeiten hält (um so mehr lobt man ihn, wenn er auch da das Original verwendet). Ja, es gibt Fächer, die sich so wasserdicht vom Fortgang der Wissenschaft insgesamt abgeschottet haben, daß man es einem auch nachsieht, wenn er selbst den aktuellen Stand in den Fragen, zu denen er unmittelbar arbeitet, nicht kennt (der hier manchmal mitdiskutierende @Geoman könnte Ihnen ein Lied davon singen).
Aber in der Wissenschaft (im Unterschied zum Betrieb derselben) ist es ganz anders. Wenn in einer verstaubten und vergessenen Handschrift aus dem 17. Jahrhundert die Widerlegung einer Behauptung steht, dann ist sie eben widerlegt. Die Behauptung muß fallengelassen werden, da kann man nicht sagen: Die Widerlegung ist in der Literatur, die den heutigen Stand der Wissenschaft repräsentiert, nicht zu finden, also können wir bei dieser Behauptung bleiben.
@Ludwig Trepl: Begriffe & Konzepte
Selbst wenn es nur zu deren Hauptaufgaben gehört (was ich auch meinte), ist es eine Hauptaufgabe – und schon das ist zu bezweifeln.
Um Ihr Beispiel aufzunehmen: Bezeichne A etwas vor Gericht als Kuh und B dasselbe als Pferd. Geht es nun um Begriffe, dann werden sie sich fruchtlos streiten – und das tat die Jurisprudenz lange Zeit und tut es leider heute noch teils. Eigentlich aber geht es um die Frage, warum sie zu diesen unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Und wenn man dieses Warum klärt, dann löst sich der Fall recht leicht. Die dahinterstehenden Interessen sind aber nur ein Teil dieses Warums.
Leider begehen dann aber die ach so Schlauen nicht selten genau den Fehler, dessen Erkennbarkeit Sie den Dümmsten zuschreiben: Sie streiten sich fruchtlos weil sie stets davon ausgehen, die anderen würden die Begriffe genauso verstehen – schließlich habe man definiert. Aber diese Definition hilft nicht weiter, wenn deren Begriffe wieder anders verstanden werden usw. Man gelangt dort in eine Endlosschleife der Begriffe, die über Begriffe nicht gelöst werden kann! Ja teils erst durch Begriffe entsteht, denn mit der Anschauung oder dem ständigen Hinterfragen der Begriffe wäre Einigung jedenfalls nicht selten leichter – auch weil selbst Wissenschaftler in den Kahnemanschen zwei Systemen denken.
Und den Streit, den Sie zum Betrug anführen, den gibt es so ähnlich auf recht vielen Gebieten – trotz aller Definitionsversuche. Natürlich gibt es klare Fälle, aber mit den Definitionen glauben sich die Diskutierenden einig in den Grundlagen und sind es doch nicht. Das ist in Recht und Politik gerade sehr schön zu beobachten: In Europa versteht nämlich jede Nation die Rechtsnormen der EU oft nach Ihrer Sicht und glaubt, das sei die einzig richtige. Aber das ist wirklichen Rechts- oder Kulturvergleichern schon immer bekannt gewesen – nur sind die selten.
Und das gerade die Aufweichung der althergebrachten Begriffe helfen kann, das hat Wittgenstein ja unter Beweis gestellt.
Nun, wenn das für die These des Doktoranden zentral ist – dann gehört diese Nachprüfung zu der auch von mir geforderten Verteidigung. Ich sehe also nicht, inwiefern wir aneinander vorbei schreiben.
Wenn es aber eines unter vielen kleinen Indizien ist, die der Doktorand für eine größere Theorie heranzieht – dann kann man ihm nicht nur keinen Vorwurf machen, sondern dann hat er richtig gehandelt, wenn er die aktuellen Zusammenstellungen und Ausätze zum Thema ausgewertet hat. Fehlt diese Widerlegung in diesen Werken, dann gehört sie eben nicht zum derzeitigen Stand der Wissenschaft – warum auch immer.
@Noït Atiga Geschichte o. Aktualität?
Wir reden aneinander vorbei. Sie schweifen in wolkigen Höhen, ich rede über ganz Handfestes. Man kann allerlei dazu sagen, wie notwendig Dummheit, Engstirnigkeit, Mißachtung aller Regeln für den Fortschritt der Wissenschaft sind, das ist seit Kuhn ein Gemeinplatz. Aber ich meine so banale Dinge wie: Da schreibt einer in seiner Doktorarbeit, daß die Rundkeramiker im heutigen Burgund gesiedelt haben, und in der Prüfung sagt ihm dann einer, daß man längst nachgewiesen hat, daß das auf einer Fehlinterpretation einiger Fundstücke beruht, in Wirklichkeit sind es die Querkeramiker gewesen. Da können Sie Ihre ganze Revolutionsrhetorik aufbieten: Der Doktorand steht ziemlich dumm da. Sie können auch nicht geltend machen, daß jener Nachweis der Fehlinterpretation in einer Schule erfolgte, die der des Doktoranden sehr fern ist: Wenn es nicht Differenzen sind, die die konkrete Frage betreffen – etwa daß die Schule des Doktoranden jene Interpretationsmethoden, mit denen die Widerlegung erfolgte, nicht anerkennt, wofür er dann aber Begründungen anführen muß –, dann hilft ihm das gar nichts. Und das ist in keinem Fach anders. – Auf diese Weise wird auch nicht „jede Innovation … blockiert“. Vielmehr kann man von einer Innovationen nur reden, wenn man zeigen kann, daß sie nicht ein alter Hut ist und nicht bereits widerlegt.
@Noït Atiga Begriffswissenschaften?
„Es gehört ja zu den Hauptaufgaben dieser Disziplinen [Jura, Philosophie], Begriffe – die im Alltag und in den Wissenschaften ständig neu entstehen – zu erforschen und dabei nach Möglichkeit exakt zu definieren […](Dass es deren Hauptaufgabe ist, das wird oft noch so gesehen – aber das ist zu bezweifeln.“
Gehört zu den Hauptaufgaben, habe ich geschrieben, nicht ist die Hauptaufgabe. Das wäre etwas ganz anderes. Egal worum es in der Juristerei gehen mag – manchmal geht es in der Tat „um die richtige Auf-Lösung der konkreten Interessen-Gegensätze“, wie Sie schreiben –, ohne Präzisierung der Begriffe geht auch das nun einmal nicht. Da kann nicht der eine sagen: das war Betrug und der andere, das war keiner: wenn sie nicht eine präzise Definition dessen haben, was sie unter diesem Begriff verstehen, reden sie einfach aneinander vorbei, oder glauben sich einig, sind es aber nicht usw. In der Philosophie ist es nicht anders. Das ist eine Binsenweisheit, die der Große Revolutionär mal wieder nicht sehen will. Leider kommt auch er nicht darum herum, sich ständig an sie zu halten, wenn er sich nicht der jedem, auch dem Dümmsten einsichtigen Kritik aussetzen will, daß man sich ziemlich fruchtlos streitet, wenn der eine „Kuh“ zu dem sagt, was der andere „Pferd“ nennt, und das nicht merkt.
Möglicherweise meinen wir trotzdem alle ungefähr dasselbe oder zumindest in wesentlichen Teilen, trotzdem ist mein Eindruck der, dass wir aneinander vorbeischreiben.
Ich klinke mich hier auch aus.
@Herr Atiga: Jenau
Und darum war es früher schlechter als jetzt. – Seinerzeit haben sich einige im Rahmen der Aufklärung erhoben und Standards (vgl. ‘standhardt’, ‘Standarte’ und so) gesetzt um u.a. das Falsifikationsprinzip, die Abhängigkeit des Erkenntnissubjekts vom Wissen oder andersherum, durchzusetzen.
Das gelang hauptsächlich unter Beruf auf die Naturwissenschaften und deren (zeitnahe) Korrektheit.
Das grundsätzliche Problem, das das Erkenntnissubjekt (der Mensch, vs. Bär) hat, besteht darin, dass langfristige Prognosis schwierig fällt.
Man hat es vor ca. 500 Jahren beginnend, die Antike zitierend, tatsächlich geschafft eine evidenzbasierte Wissenschaftlichkeit zu implementieren.
Das war alles andere als selbstverständlich.
Und man war dann auch so offen um anderem Spielraum zu lassen, auch um das Grobe das Politische betreffend wissend.
Ans Religiöse wollte man auch nicht primär.
MFG
Dr. W (der sich nun ausklinkt)
@Dr. Webbaer: Warum?
Warum sollte denn die empirische Sozialforschung nicht zum Status sogenannter harter Wissenschaften gelangen können?
Das ist doch ein Postulat, welches nur auf dem heutigen Zustand dieser Wissenschaften beruht. Man denke einmal ein paar hundert Jahre zurück und dann sieht es bei den sogenannten harten Wissenschaften fast genauso weich aus wie heute in der empirischen Sozialforschung, wenn man ein paar tausend Jahre zurückgeht dann ganz gewiss.
Und die Forschungsgegenstände der Sozialwissenschaften sind nunmal sowohl um Größenordnungen komplexer als auch um Längen weniger repetitiv – also man kann daher ihre exakten Grundgesetze nur deutlich schwerer ableiten. Eine Kugel kann der einzelne Forscher tausende Male rollen lassen und die Formel dann immer genauer an die nur leicht veränderten Umstände anpassen. Einen Menschen kann kein Forscher je nur zweimal mit unterschiedlicher Entwicklung untersuchen. Dort ist also sehr viel mehr Näherung nötig und damit der Anfangsfehler auch deutlich größer.
@Herr Atiga: Die
Empirische Sozialforschung hält sich am Empirischen fest, gelangt aber nie zum Status harter (s.o.) Wissenschaftlichkeit.
Es tut nicht weh dies anzuerkennen.
MFG
Dr. W
@Ludwig Trepl: Geschichte o. Aktualität?
Dort gibt es aus meiner Sicht eine bedeutende Unterscheidung zwischen den Naturwissenschaften und den Geistes/Sozialwissenschaften.
Einfach nur eine Lösung anbieten wird auch in den Naturwissenschaften niemand, wenn sie sich mit dem aktuell Gebräuchlichen widerlegen lässt. Das ist das von Ihnen als Diskussion und von mir als Verteidigung Angesprochene. Aber das bezieht sich auf den aktuellen Zustand.
Kein Naturwissenschaftler wird dort je alles berücksichtigen, was jemals darüber gesagt wurde. Und zwar nicht nur weil er es nicht kann (also nicht nur faktisch), sondern weil es für die Wissenschaft unsinnig ist, ja sogar kontraproduktiv: Entweder sind ähnliche Entwürfe oder Einwände Teil des aktuellen Systems – dann werden sie quasi automatisch berücksichtigt. Oder sie sind Geschichte – dann wird dieses Denken neu aufgenommen und zwar aus einer anderen Perspektive.
Die Geschichte wäre dort (für die aktuelle Wissenschaft) vorerst nur Ballast – denn durch die Auseinandersetzung damit würden die Gedanken des Autors schon in die Richtung der geschichtlichen Gedanken geformt. Sie würden abgeschliffen und könnten sich nur noch in den bestehenden, notwendigerweise reduzierten Aspekten einbringen. Die Wissenschaft müsste also verflachen – denn innovative Impulse bekäme sie nicht mehr. Was übrigens in vielen Geisteswissenschaften nicht ganz falsch ist – wegen deren methodischen Anforderungen geht ihnen das Leben verloren.
Wenn Sie es mit Kuhn (bzw. Lakatos oder Feyerabend) wollen: Geduldet wird nur noch der Normalbetrieb. Jede Innovation wird blockiert, denn sie genügt ja bereits nicht den Grundanforderungen der Wissenschaft, sich alles Althergebrachtes angelesen zu haben. So aber werden die Probleme und die Knoten in den Köpfen tradiert. Würde man innovative Lösungen zulassen – dann könnte sich ein wahrer Dialog entspannen, von dem sowohl die Althergebrachten als auch die Innovatoren profitierten (wie es bei den Naturwissenschaften oft ist bzw. war).
In dem Sinne gehören auch Ihre Beschränkungen auf den Rahmen der Schule bzw. auf den Gegenstandsbereich zur Normal-Science. Man beackert nur seinen kleinen Bereich – und verliert dabei sowohl das Große Ganze aus dem Blick als auch all die (Quer-)Verbindungen zu anderen Bereichen.
@Ludwig Trepl: Begriffswissenschaften?
Dass es deren Hauptaufgabe ist, das wird oft noch so gesehen – aber das ist zu bezweifeln. Die ‘Rechtswissenschaft’ hat das schon einige Zeit jedenfalls teils erkannt, denn man hat sich im letzten Jahrhundert von der sogenannten Begriffs-Jurisprudenz zur Interessen-Jurisprudenz gewandelt. Es geht eben nicht eigentlich um Begriffe, die sind Schall und Rauch – und aus ihnen kann man nicht mehr herauslesen als man vorher hineingelegt hat. Sondern es geht um die richtige Auf-Lösung der konkreten Interessen-Gegensätze. Begriffe helfen dort wenig – bei keinem einzigen problematischen Fall bringen sie die Lösung.
Darum sind die Juristen eigentlich gar nicht mehr soweit weg von den Naturwissenschaften. Es fehlt ihnen nur noch in größerem Maße deren praktischer Rahmen. Er fehlt ihnen, weil die Konzepte noch nicht ausreichend auf ihre grundlegenden Faktoren zurückgeführt wurden und weil daher vieles noch intuitiv läuft (und laufen muss).
Aber die Juristen haben das vor allem durch die anderen Disziplinen und anderen Sprachen gelernt – durch die Irritation der Praxis, durch jene Autoren, die eben gerade nicht das Althergebrachte kannten oder beachteten, sondern sich selbständige völlig neuartige Gedanken gemacht haben – und es denn klassischen Juristen überließen, sich daran abzuarbeiten. Das irritierte und eröffnete den Dialog, der bei einer klassischen Herleitung im Anschluss an alles bisher gedachte gar nicht möglich gewesen wäre. Das betrifft sowohl die Arbeiten aus soziologischer als auch aus ökonomischer Perspektive – die sich eben nicht in die ursprünglich hermeneutische Arbeitsweise einfügen. Und das betrifft heute auch ganz besonders die Vorgaben aus Brüssel.
Die Soziologen sind insofern sowieso noch etwas offener (außer gewisse oben schon angesprochene Gender-Forscher) und auch die Psychologen sind es. Problematisch sind dann aber die Philosophen – deren begriffliche Exaktheit ist oft nur Abschirmung gegen innovatives Denken. Und dass es auch dort anders geht, das haben sowohl Wittgenstein als auch Nietzsche wohl ausreichend bewiesen.
@Holzi: Klingt
solid.
Einwände wären hier eher im bewussten Glaubensentscheid zu finden, der zur gepflegten Kooperationsvariante führt und die zugehörige Ethik entstehen lässt.
Fehlgeleitete diesbezügliche Glaubensentscheide hätten vielleicht bspw. das Internet und das Hervorkommen der zitierten Einsicht unterbunden.
MFG
Dr. W
@ Galileo Galilei: Eitelkeit
Mit dem Hinweis, daß es schmerzhaft ist, Lebenszeit verschwendet zu haben, haben Sie auf etwas aufmerksam gemacht, das ich übersehen hatte. Ich hatte nur auf den Schmerz durch verletzte Eitelkeit und Stolz hingewiesen. Daß große Persönlichkeiten oft über solchen Niedrigkeiten stehen: geschenkt. Aber im Normalbetrieb ist es jedenfalls so, daß ein Wissenschaftler, egal welchen Faches, sich in seinem Stolz und seiner Eitelkeit verletzt fühlt, wenn man ihn auf einen Fehler aufmerksam macht. Ich kenne doch meine Kollegen, und ich kenne mich selbst.
Sie schreiben: „…die Lebenszeit und Leidenschaft die darauf verwendet wird und das ist sicher annähernd gleichbedeutend mit dem Weltbild, das Sie meinen.“
Nein, das meine ich nicht.
Erstens: Die Leidenschaft pflegt (siehe Kuhn) in Normalwissenschaften, aber auch in vielen nicht-paradigmatisierten Geisteswissenschaften (siehe die berühmte Stelle in Max Webers „Wissenschaft als Beruf“) die Leidenschaft des Rätsellösers zu sein, also eines sehr eingeschränkten, wenn auch scharfsinnigen Kopfes. Bei Kuhn denkt der überhaupt nicht über den Sinn seiner Arbeit, ihre Relevanz für Welt und Wissenschaft insgesamt nach (und soll es auch nicht), bei Weber reicht es, wenn er sich die Relevanz einbildet („Und wer also nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe der Wissenschaft nur ja fern.“), und so ist es faktisch auch meist.
Zweitens: Aber auch wenn der Naturwissenschaftler seine Leidenschaft wirklich in einen größeren Zusammenhang stellen kann – besonders in Zeiten der Krise und Revolution können das ja sogar Naturwissenschaftler, die fangen dann in Scharen zu philosophieren an –, ist es doch nicht das Weltbild, das ich meinte, welches da umgestürzt wird. Denn der Mensch, also auch der Forscher selbst kommt in diesem Bild von der „Welt“ nicht vor: Es ist eben in Wirklichkeit nur ein Naturbild, kein Weltbild, das von Einstein oder von Darwin umgestürzt wurde. In diesen beiden Fällen wurde – was nicht gerade häufig ist – der Umsturz aber außerhalb der Naturwissenschaften aufgegriffen, das neue Nazurbild im Hinblick auf seine Weltbildrelevanz diskutiert, aber das ist eben keine Sache der Naturwissenschaften mehr. Biologen, die über die Frage diskutieren, ob es einen Schöpfer gibt oder ob der Mensch frei ist, tun das nicht als Naturwissenschaftler, auch wenn sie das in ihrer philosophischen Naivität meist glauben. Sie dilettieren vielmehr in einem anderen Fach.
Ein Sozialwissenschaftler aber, der sich einer neuen Theorie etwa über Rolle der Geschlechter, der sozialen Klassen, der Nationen usw. zuwendet, muß von einer Theorie lassen, in der er selbst vorkommt, und zwar als Handelnder, damit als moralisch zu Beurteilender, als einer, der sich rechtfertigen muß. Er hat, explizit oder implizit, eine Theorie darüber, daß sein Geschlecht eine bestimmte Rolle zu spielen hat und daß die Rolle, die er selbst spielt, gerechtfertigt ist, er hat eine Theorie darüber, daß Unternehmer die Gesellschaft am Leben halten oder aber sie nur ausbeuten usw.; oder ein idealistischer Philosoph, der sich von Nietzsche im Hinblick auf Fragen der Herrenmoral überzeugen läßt: Das ist wie ein Kirchenaustritt, da bricht nicht ein Bild über bestimmte Aspekte der Natur zusammen, die einen nichts angehen müssen, sondern schlechthin alles bricht zusammen, was ihn unausweichlich angeht und ihm bisher heilig war.
@ Noït Atiga: Juristen-Exaktheit
„Das scheint mir mehr ein frommer Wunsch denn Realität zu sein. Selbst unter den bestgeformtesten Juristen oder Philosophen ist lange nicht jeder Begriff exakt definiert“.
Natürlich nicht. Man kann sogar sagen, daß unendlich viele Begriffe der von ihnen benutzten nicht exakt definiert sind: Es gehört ja zu den Hauptaufgaben dieser Disziplinen, Begriffe – die im Alltag und in den Wissenschaften ständig neu entstehen – zu erforschen und dabei nach Möglichkeit exakt zu definieren (im allgemeinen unter Benutzung nicht exakt definierter Begriffe), und damit werden diese Disziplinen am Ende aller Tage noch nicht fertig sein. Aber es ist für sie eben Hauptaufgabe, man weiß um die Problematik und man weiß, wie man vorzugehen hat.
Die Naturwissenschaften (und viele andere positive Wissenschaften) aber können, weil sie andere Hauptaufgaben haben, mit diesem Problem locker („unwissenschaftlich“) umgehen und tun es auch; sie wissen nicht um das Problem und können damit auch nicht umgehen. Dennoch müssen sie ständig Begriffe, selbsterzeugte und aus der Alltagssprache übernommene, benutzen. Daß sie dabei wegen dieses lockeren Umgangs ständig Fehler machen, die ein Philosoph nie machen würde, hindert den Fortschritt dieser Wissenschaften kaum.
@ Noït Atiga ganze Geschichte prüfen?
„Aber die Verbindung mit d. h. impliziert (und das tun nur Geisteswissenschaftler), dass man sich für wissenschaftliches Denken zu jedem Problem erstmal die gesamte Wissenschaftsgeschichte anschauen müsse“
Das bezieht sich darauf, daß ich geschrieben habe, man dürfe in der Wissenschaft nichts behaupten „…ohne eingehende Prüfung der Sache, d. h. z. B. ohne jeden Versuch nachzuprüfen, was man darüber bisher alles schon gedacht und herausgefunden hat.“
Da ist das „d. h.“ schon am Platze (von dem fehlenden Komma nach dem „z. B.“ wollen wir mal absehen). Es ist völlig trivial und hat nichts mit „einem gewissen Wissenschaftsverständnis“ zu tun: Man muß tatsächlich versuchen, immer alles zu berücksichtigen, was bisher zur eigenen Behauptung gesagt wurde. Denn diese könnte ja schon einmal aufgestellt und widerlegt worden sein. Und dann ist sie wissenschaftlich wertlos, so sehr sie auch äußeren Zwecken, z. B. der Kariere, dienen mag, wenn keiner den Mangel bemerkt. Daß faktisch nicht immer so umfassend geprüft wird wie geprüft werden sollte, in belanglos – wenn man „Wissenschaft“ in einem normativen Sinne gebraucht, und das tue ich hier. „Man muss das Problem erkennen und für dieses Problem eine elegante Lösung anbieten“ reicht da nicht. Das ist eine Regel, die in den Kontext of discovery gehört. Die elegante Lösung könnte von jemandem bereits als falsch erkannt worden sein. In den formalisierten naturwissenschaftlichen Texten gibt es ein extra Standard-Kapitel zur Prüfung dieser Frage, „Diskussion“ steht darüber.
Und tatsächlich bemüht man sich auch faktisch sehr darum, diese Regel zu befolgen. Man hat mit dem Bemühen faktisch auch meist guten Erfolg. Selbst in Fächern, in denen man sich in Schulen einigelt und die anderen Schulen kaum kennt, gibt man sich Mühe, und man hat da die Erleichterung, daß ein Gegenargument aus einer anderen Schule oft den gesamten Kontext dieser anderen Schule voraussetzt und nicht gilt, wenn man diesen verläßt. Man muß darum nicht, wenn man z. B. eine marxistische Theorie hat, alle gegen den Marxismus insgesamt vorgebrachten Argumente etwa aus der neopositivistischen Richtung berücksichtigen, es reicht, daß man im Rahmen des Marxismus richtig argumentiert – die Einwände gegen den Marxismus insgesamt sind in Arbeiten anderer, auf die man sich beruft, bearbeitet (ob zureichend oder nicht, ist für unsere Frage irrelevant).
Und in den positiven Wissenschaften insgesamt, egal ob Natur- oder Kulturwissenschaften, gibt es eine andere Erleichterung, nämlich die Einteilung in weitgehend getrennte Gegenstandsbereiche. Man muß nicht, wie in der Philosophie, bei jedem einzelnen Argument immer den gesamten Rahmen mit überprüfen. Ein Botaniker muß sich nicht die gesamte Wissenschaftsgeschichte ansehen, es reicht, wenn er die Literatur zu der von ihm untersuchten Pflanzengattung und darin die auf seine Frage bezogenen Stellen ansieht, die aber vollständig. Und das tut er im allgemeinen auch.
Economy as social/bio/math science
Nirgends treffen sich Psychologie, Soziologie, Statistik/Mathematik, Population/Individuum so stark wie in der Ökonomie. Und kein wissenschaftlicher Bereich ist heute so stark in Bewegung und Unruhe wie dieser.
Das lässst sich leicht an Aussprüchen der “grossen” Ökonomen festmachen:
Adam Smiths “unsichtbare Hand” würden wir heute unter dem Kapitel Schwarmverhalten abhandeln:
“Swarm behaviour, or swarming, is a collective behaviour” wobei gilt: “Collective animal behavior describes the coordinated behavior of large groups of similar animals and the emergent properties of these groups“
John Maynard Keynes“In the long run we are all dead” würden wir bei den dynamischen Systemen ansiedeln, wo die dynamische Gegenwart wichtiger ist als der Gleichgewichtszustand (Gleichgewicht=Tod).
Hyman P. Minskys Minsky Moment: “Minsky said, banks and other commercial lenders extend credit to ever more dubious borrowers, often creating new financial instruments to do the job. … Then, at the top of the market some smart traders start to cash in their profits – just before the crash arrives” würden wir heute als inhärente Instabilität von dynamischen Systemen interpretieren oder als Räuber-Beute-Verhalten a la Lotka/Volterra
Kurzum: Bis heute war das Objekt der Makrooökonomie so schwer zu verstehen wie das Leben selbst. Und weil wir das unberechenbare Leben noch kaum verstehen verstehen wir auch die Ökonomie noch nicht.
Man könnte
sich darauf einigen, dass manches, das an den Bildungsstätten betrieben wird, an sich wissenschaftsfern und soziale Veranstaltung ist.
Dies mit hoher Sicherheit zu erkennen, könnte bspw. einem Physiker leichter fallen, korrekt.
Die Wirtschaftswissenschaften sind bspw. eng an die Werte der Aufklärung gebunden und mathematisieren typischerweise dementsprechend langfristig & optimistisch, auch was die Gesellschaftsteilnehmer und deren antizipierte Interessen betrifft.
Ist der einzelne Teilnehmer aber bspw. ein Hedonist, kann er daran nicht Gefallen finden, auch und gerade wenn das generationenübergreifende Gemeinwohl gemeint ist und hält sich in der Folge bspw. an Keyne’s ‘In the long run we are all dead.’ fest.
In dem Moment, in dem die Wissenschaftlichkeit (oder: “Wissenschaftlichkeit”) politisch wird, soll jeder mitquatschen dürfen.
Der “harte” (s.o.) Physiker mag das beispielsweise eher erkennen.
MFG
Dr. W
Ökonomie bes. naturwissenschaftsnah
Bei der Ökonomie können die Naturwissenschaftler noch aus einem anderen Grund gut mitreden – ihre mathematischen Modelle sind vor gut 100 Jahren aus der damals schon nicht mehr ganz aktuellen Naturwissenschaft abgeleitet worden.
Und die Ökonomie hat es lange versäumt, die ganzen neuen Modell-Entwicklungen etwa der Chaos-Theorie nachzuvollziehen. Dort sind nun heute viele Naturwissenschaftler rein vom Handwerkszeug deutlich besser gewappnet als die meisten (neo)klassische Ökonomen. Und auch wenn es mittlerweile einige andere Zweige der Ökonomik gibt, werden die leider oft nicht wirklich wahrgenommen.
Die Ökonomie
ist halt ziemlich “weich” und lädt zum mitreden ein. Der Grad der “Härte” einer Wissenschaft bestimmt den Kreis der zulässigen Mitredner.
Grundsätzlich ist es gut, wenn eine Fachkraft auch zu fachfremden Gebieten streut.
Warum bspw. “harte” Physiker zu vielen fachfremden Themen eine öffentliche Meinung haben? – A: Weil sie oft dazu befähigt sind.
Ausnahmen: Gibt es.
MFG
Dr. W
Holzherr schrieb (was von Quantifizierung in Geldwertem)…
-> Oh ja, ich empfehle, bevor weiter unqualifiziert über Quantifizierung philosophiert wird, das Wesentlichste auf dieser Welt ganz im Sinne der Quantifizierbarkeit (und der kapitalistischen Be-/Verwertungslogik)endlich den Menschen einen Preis zu geben. Freilich der populierten ethischen Werte angemessen hoch – schlicht den Menschen zum Teuersten… Unbezahlbarsten zu machen. Hauptsache unverhandelbar, wie er derzeit leider ist.
Ein Haufen ökonomischer Scheingefechte hätten auf der Stelle ein Ende. Und wohl auch entfremdetes Elite-Denken, welches sich zu angemessener Perspektive wandelt.
Benchmarking humanities & social science
Die Frage (Zitat Trepl)“nach der „Bedeutung“, dem „Kulturwert“” wird heute immer mehr zurückgedrängt durch die Frage nach dem messbaren Erfolg, die Institutionen wie Schule, Gefängnis, Psychiatrie&Psychologie-Therapie oder die Verwaltung erreichen. Was in den USA schon lange ein Sport ist, hat inzwischen auf weite Teile der zivilisierten Welt übergegriffen: Die Quantifizierung, das Benchmarking. Das Benchmarking der Anstrengungen von Schulen und Lehrern (Pisa), von Verwaltungen, von Glück (Benchmarking Happiness), die Anheftung von Preisen an Naturgüter und Arten und Benchmarking scientific output in the social sciences and
humanities oder auch Peace Consolidation Benchmarking
Gut verständlich wird dieser Quantifizierungswahn, wenn es um den Geldbeutel geht. Die meisten Italiener haben wohl den Eindruck, dass sie zuviel Steuern zahlen für das, was der Staat ihnen bietet. Wie gut wird ein Italiener in der Schule auf das Leben vorbereitet, welche Qualität und Quantität haben die italienischen Strassen, Eisenbahnen und andersweitige Infrastruktur gemessen am eingesetzten Steuergeld? Das dürfte Italiener schon interessieren, wenn die meisten auch im Gegensatz zu den US-Bürgern nicht an das Benchmarking glauben.
Wenn von solchen Quantifizierungen auch die Geisteswissenschaften betroffen sind ,so heisst das
1) Gewisse Geisteswissenschaften (oder Teile davon) sind als Kostenfaktoren in der Gesellschaft angekommen (ist doch gut oder?)
2) Für nicht quantifizierbare, z.B. geisteswissenschaftliche Tätigkeiten, kann oder soll man auch kein (Steuer-)Geld ausgeben
3) Empfohlene Methoden und Vorgehensweisen (z.B. der Kriegsführung, des Lehrens) werden anhand ihres Erfolgs (was immer das heisst) miteinander verglichen
Schlussbemerkung: Wenn Benchmarking bedeutet: “Wieviel erhalte ich für mein Geld?” dann muss offensichtlich ein Gut vorliegen, das einen Preis hat, der angemessen oder auch überrissen ist. Es gibt schon Kulturen, in denen es nicht abwegig ist, allem einen Preis anzuheften. Wenn etwas Geisteswissenschaftliches verpreist werden kann, wird es in solchen Kulturen wohl von vielen erst wahrgenommen.
@ Martin Holzherr
„In der Pädagogik sollen also nicht mehr Autoritäten wie Jean Piaget mit ihrer aus dünner Luft geborener Theorie der kognitiven Entwicklung das Sagen haben, sondern aktuelle Ergebnisse aus Hirnuntersuchungen sollen uns zeigen, was wirklich abläuft im Hirn.“
Aber „was wirklich abläuft im Hirn“ ist nur ein Moment dessen, was wirklich abläuft im Leben derer, um die sich die Pädagogik zu kümmern hat, ein Moment neben vielen, vielen anderen, die nicht weniger wirklich sind oder besser: die als Momente gar nicht wirklich sind, sondern Abstrakta. Erst alles zusammen ergibt das „Wirkliche“.
„Wo naturwissenschaftliche/mathematische Ansätze ein ursprünglich geisteswissenschaftliches Gebiet erhellen können, indem sie Empirie mit Theorie verbinden, sollen sie eingesetzt werden. Für mich sind also Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie und Ökonomie zugänglich für naturwissenschaftliche Ansätze.“
Noch viel mehr. Man denke etwa an die enorme Wirkung, die „szientifisches“, wenn auch nicht kausalanalytisches Denken in Gestalt des Strukturalismus in der Linguistik, in der Ethnologie und in vielen anderen Gebieten hatte.
Naturwissenschaftliche/mathematische Ansätze kann man auf alle Objekte anwenden, die die Geisteswissenschaften untersuchen (wohlgemerkt: die Geisteswissenschaften, nicht etwa die Philosophie; Geisteswissenschaften sind empirische Wissenschaften). Alle Objekte der Geisteswissenschaften sind, nach den klassischen Theorien (insbesondere Rickert) eben auch Natur und man kann sie als Natur (d. h. unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Gesetze, denen sie unterliegen) untersuchen.
Nur bekommt man damit nichts heraus im Hinblick auf die Fragen, die die Geisteswissenschaften (Kulturwissenschaften) zu eben diesen Wissenschaften machen, die Fragen nach der „Bedeutung“, dem „Kulturwert“ oder wie man es immer genannt hat. Man kann in den historischen Wissenschaften nach naturwissenschaftlichem Vorbild bedingte Prognosen erstellen (z. B. hinsichtlich des Eintretens einer Wirtschaftskrise oder eines Krieges). Aber auch wenn man die noch so sehr verbessert, ist man den spezifisch historischen (geisteswissenschaftlichen) Fragen kein bißchen nähergekommen.
@Balanus: Relevanz des Fachfremden
„ist es nicht so, dass fachfremde Einlassungen einen positiven, ja belebenden Effekt auf die Geistes- und Kulturwissenschaften haben können, wie man zum Beispiel an der Diskussion um die Willensfreiheit sieht?“
Das ist wohl so. Umgekehrt ist dieser Einfluß aber eher stärker, Paradebeispiel: liberale Gesellschaftstheorien und Darwin’sche Theorie. Es wird nur weniger bemerkt, weil die Naturwissenschaftler das nicht thematisieren (denn das ist ja keine Naturwissenschaft, die sie da betreiben müßten), während es zum Geschäft von Geistes- und Sozialwissenschaftlern und Philosophen gehört, das zu thematisieren. – Das mit der Willensfreiheit halte ich allerdings eher für ein schlechtes Beispiel, das gehört mehr in den Bereich der intellektuellen Moden als in den der Wissenschaft.
Der wichtigste Punkt in diesem Zusammenhang scheint mir, daß – mal wieder nach Kuhn – dieser belebende Effekt in paradigmatisierten Wissenschaften (also typischerweise eher in Naturwissenschaften) nur in Phasen der Krise und der Revolution stattfinden kann, weil in der Zeit der normal science Mechanismen wirken, die Außeneinflüsse sehr effektiv ausschalten, und es sogar dem Fortschritt dieser Wissenschaften bzw. Phasen der Wissenschaftsentwicklung dienlich ist, wenn Außeneinflüsse ausgeschaltet werden.
Das scheint mir auch den Alltagserfahrungen in den Wissenschaften zu entsprechen: Der normale Naturwissenschaftler bekommt von all den philosophischen Diskussionen um sein Fach herum überhaupt nichts mit. Philosophen und Sozialwissenschaftler pflegen zu wissen, wer Maturana und Varela sind und was die Autopoiesistheorie ist. Als ich noch normaler Biologe war, wurde ich von einigen aus jenen Fächern gefragt, was ich davon halte; ich hatte aber die Namen noch nie gehört und kannte vermutlich keinen Fachkollegen, der sie gehört hatte. Das konnten meine Gesprächspartner gar nicht verstehen. Aber in manchen Teilen der Biologie, solchen, die sich nicht in der Phase der Normalwissenschaft befinden – das trifft z. B. auf Teile der Evolutionsbiologie zu –, kennt man diese Namen und die Theorie wird lebhaft diskutiert.
@ D.S.
„…. muss ich Ihnen, Herr Trepl, widersprechen.(Dass jeder zu allem eine Meinung hat ist völlig in Ordnung. Auch und insbesondere, dass Naturwissenschaftler, als Teil der Gesellschaft, eine Meinung über ebendiese haben, soweit eben wie Sozialwissenschaftler auch.(Darüber hinaus aber haben Sozialwissenschaftler zur Gesellschaft auch noch eine wissenschaftliche, mehr oder minder fundierte, Meinung. Diese haben Naturwissenschaftler zur Gesellschaft in der Regel nicht und reagieren pikiert, wenn Sozialwissenschaftler ihnen das zu verstehen geben“.
Da widersprechen Sie mir nicht, ich habe meine Auffassung im obigen Artikel nur nicht verständlich genug ausgeführt. Jeder, ob Wissenschaftler oder nicht, on zuständiger Wissenschaftler oder nicht-zuständiger, kann, ja sollte zu gesellschaftlichen Fragen eine Meinung haben. Aber er sollte auch bereit sein, sie zu überprüfen und gegebenenfalls aufzugeben. Und da gibt es ein sinnvolles Vorurteil: Leuten, die das Fach gelernt haben (darunter solchen, die eine „wissenschaftliche, mehr oder minder fundierte, Meinung“ haben), glaubt man erst einmal (Klassiker dazu: Gadamer zur Autorität). Man darf ihnen natürlich nicht bedingungslos glauben, sondern muß sich die eigene Prüfung vorbehalten. Und da gibt es eine Asymmetrie: Dieses sinnvolle Vorurteil haben alle Wissenschaftler gegenüber naturwissenschaftlichen Aussagen immer, die Naturwissenschaftler gegenüber geistes- und sozialwissenschaftlichen und philosophischen Aussagen sehr oft nicht.
Ihre Formulierung „Darüber hinaus aber haben Sozialwissenschaftler zur Gesellschaft auch noch eine wissenschaftliche, mehr oder minder fundierte, Meinung“ weist auf eine Schwierigkeit hin. Hat der Sozialwissenschaftler zur Gesellschaft neben („darüber hinaus“) seiner „politischen“ Meinung, die er als Bürger oder als Mitglied einer Interessengruppe hat, noch eine wissenschaftliche Meinung? Er selbst würde das wohl ablehnen. Seine politische Meinung folgt für ihn typischerweise wohl aus seiner wissenschaftlichen Theorie. In dieser aber stecken, irgendwie wissenschaftlich oder unwissenschaftlich verarbeitet, die außerwissenschaftlichen Einflüsse, die Interessen, die ihn zu einer bestimmten Position treiben, die Weltanschauungen, denen er unbemerkt oder aber reflektiert anhängt. – Das scheint mir übrigens bei den Naturwissenschaften auch nicht anders. Auch naturwissenschaftliche Theorien sind in die Natur „hineingesehene“ (politische) Weltanschauungen, und ob man denen anhängt oder nicht, liegt auch an handfesten Interessen, die man hat. Ja, man muß wohl sagen: die Naturwissenschaftler merken das im allgemeinen nicht, sie glauben, ihre Theorien kämen einfach durch vorurteilsfreie Beobachtung der Natur zustande. Sozialwissenschaftler merken es schon eher, es gehört ja zu ihrem Geschäft, so etwas zu untersuchen.
@Galileo Galilei
mir ging es nicht um Intuition oder Empathie, auch wenn die Naturwissenschaftler hier zu solchen Erklärungen neigen, ich kann es aber nicht anders angehen, also geschenkt.
Nunja, von den mir persönlich bekannten Gender-Adepten kann ichs beschwören – beweisen wäre wohl unangemessen. Von weltweit prominenten Vordenkern, z.B. Judith Butler, ist das gesichert/öffentlich dokumentiert. Ansonsten munkelt es so in der Soziologie-Szene, und ganz im Ernst, wenn Sie Interviews von den Herrschaften lesen und diese Vibe nicht empfangen, dann weiß ich auch nicht.
zur Ruhe der Soziologie:
Toleranz hat sich bewährt. Irgendwann läuft sich soetwas von alleine tot und hat vielleicht dennoch etwas gebracht, und wenns in diesem konkreten Gebiet nichts ist, dann vielleicht für die Methodenforschung in puncto Involviertheit und Distanz.
Ansonsten unterliegt die Soziologie, wie andere Disziplinen auch, Moden und Machtverteilungen. Wer sich jetzt öffentlich gegen Genderisten wendet, womöglich ad hominem, der bekommt keinen Fuss mehr in die Tür, und wäre er/sie drin, würde die Zeit bis zum Ruhestand bitter und isoliert – meine Prognose.
Der Tonfall gegen Gender Studies/Genderisten-Kritiker ist eigentlich entlarvend, denn wissenschaftlicher Disput sieht anders aus. Üblich ist das jedoch bei Apologeten einer Weltanschauung gegenüber Kritikern derselben (z.B. Religiöse versus Skeptiker).
Ansonsten Empfehle ich die Doku von Harald Eia zum Thema – Norwegen ist schon weiter, mehr verrate ich nicht. Wäre auch ein anderes Thema.
@D.S 8:32
Ich weiß, was sie meinen, wenn Sie von der Schwierigkeit reden, das eigene Selbst vom Forschungsgegenstand zu lösen.
Alice Miller als eine der bekannteren Sozial- und Erziehungswissenschaftler hat sehr offen davon gesprochen, dass Psychologen oft nur deshalb anderen Menschen helfen können, weil sie bestimmte bewusste oder unbewusste Erfahrungen teilen oder zumindest aufgrund der eigenen Erfahrungen eine besondere Fähigkeit oder zumindest Feinfühligkeit besitzen, die Empfindungen des Klienten wahrzunehmen. Insofern ist ein wesentlicher Teil der psychologischen Professionalität, die Gefühle die das Gegenüber auf einen selbst projeziert wahrzunehmen, darauf einzugehen, zu durchleben und sich dennoch nicht durch das Gegenüber vereinnahmen zu lassen. Ich nehme an, das ist, was Sie (auch) meinen.
Alice Miller hatte aber auch eine sehr klare, humanistisch nachvollziehbare und geschichtlich begründete Haltung dazu, zu was Unterdrückung und Diskriminierung alles führen kann.
Deshalb haben mich Ihre Aussagen zur personellen Zusammensetzung der Genderforschung auch ein bisschen erschrocken, mit dem Blick darauf, dass diese Leute die Sprache in ihrem Sinne prägen wollen und sich ein Harald Martenstein (Die Zeit) dazu genötigt sieht einer genderwissenschaftskritischen Kolumne in der nächsten Beilage den Hinweis folgen zu lassen, dass er es als unwissenschaftlich Ansieht, als Nazi oder Chauvinist bezeichnet zu werden – mit der hierfür angemessen Ironie unterlegt.
Sollten Ihre Behauptungen auch empirisch belegbar sein, stellt sich mir die Frage, wie die anderen Sozialwissenschaften immernoch so ruhig bleiben können und man immernoch von Forschern und Wissenschaftlern spricht, denn erhebliche verbale Gewaltanwendung scheint diese Wissenschaft bereits zu stützen und zu fördern.
@L. Trepl. um 12:00 Uhr: Eitelkeit
Hallo Herr Trepl,
“Zur Kränkung und zum Schmerz, den man in den verschiedenen Wissenschaftsarten erfahren kann: Ich vermute, Sie beide zielen auf sehr verschiedenes.
@ Galileo Galilei spricht von der Kränkung der eigenen Eitelkeit und ähnlichem.”
Nein, ich habe nicht von Eitelkeit oder Gekränktheit gesprochen und auch nicht davon, dass Naturwissenschaftler, Physiker oder Mathematiker nicht auch mit Fehlern zurechtkämen. Die größten Naturwissenschaftler, waren oft absolut uneitle und pragmatische Persönlichkeiten, wenn man dem glauben darf, was über sie geschrieben wird.
Ich habe davon gesprochen, dass auch Naturwissenschaftler und Mathematiker sich oft jahrelang mit Leidenschaft einem Problem widmen, an einer Erklärung für ein natürliches Phänomen arbeiten, eine Theorie postulieren an deren Richtigkeit sie natürlich glauben und bei der sich dann zeigt, dass sie widersprüchlich ist. In der Mathematik und Physik bedeutet das oft (nicht immer) die völlige Wertlosigkeit der Arbeit bzw. ganz von vorn anzufangen. Es ist nicht die Eitelkeit das Entscheidende, sondern die Lebenszeit und Leidenschaft die darauf verwendet wird und das ist sicher annähernd gleichbedeutend mit dem Weltbild, das Sie meinen.
Anfang des 20. Jahrhunderts vor Einsteins bahnbrechender Theorie geriet die Physik in eine Sackgasse. Es zeigte sich die Unvereinbarkeit vieler Theorien, die notwendig gewesen wäre um bestimmte Phänomene zu erklären, es gab die Vorstellung vom “Ätherwind” im All ohne dessen Existenz einige Hypothesen wertlos waren. Wie wir heute Wissen gibt es im All keinen Wind und der war nach Einstein auch nicht mehr nötig. Was glauben Sie wie viele Weltbilder Einstein über den Haufen geworfen hat ;-).
Ein tragisches Beispiel für die Härte der Mathematik ist Gottlob Frege der von dem Fehler in seinem Weltbild so niedergeschlagen war, dass er seine Arbeit in der Logik völlig aufgab. Zyniker werden jetzt vielleicht sagen, er war Philosoph und kein Mathematiker, aber das ist Unsinn. Er ist vielleicht ein versöhnliches Beispiel für die Nähe verschiedener Disziplinen. Von Eitelkeit zu sprechen wird der Arbeit die es bedarf eine naturwissenschaftliche oder mathematisch Arbeit zu verfassen, die überhaupt erst von den anderen Mathematikern beachtet wird jedenfalls absolut nicht gerecht.
Wir reden daher vielleicht von verschiedenen Dingen, vielleicht aber auch nicht. Mit Sicherheit rede ich jedenfalls nicht von Eitelkeit erst recht nicht von Eitelkeit der Naturwissenschaftler im Allgemeinen.
Der Egalitarier als Popanz
Ludwig Trepl schrieb (29. Juli 2013, 08:05):
> […] als Bürger eine Meinung zu einer Frage, in der sich Ökonomen, Soziologen oder Politologen, die mit in der Runde sitzen, von Berufs wegen auskennen. Die Naturwissenschaftler sind offenbar nicht in der Lage zu erkennen, daß der Besitz dieser Meinung sie noch nicht qualifiziert, in einer wissenschaftlichen Diskussion über den Gegenstand, auf den sich diese Meinung richtet, mitzureden. […] Wie kommt das?
Zumindest unter Physikern scheint es ja bewährter Brauch, zumindest im Prinzip jedem (Identifizierbaren) ein Mindestmaß an beobachterischen Fähigkeiten zuzugestehen und diese ernstzunehmen;
sei es abstrakt, dass (vgl. Ann. Phys. 17, 891, 1905):
,
oder konkreter, dass (vgl. PRL 3, 439, 1959):
.
Und manche naturwissenschaftliche Modelle sind so … empfindlich, dass ein einziger Messwert, gewonnen aus der Bewertung nur weniger Beobachtungsdaten, ausreichen könnte, um ein bestimmtes Modell experimentell zu falsifizieren. (Z.B. das Modell, dass “Vulkan XY, der bis vor einer halben Million Jahren regelmäßig ausbrach, nie wieder ausbrechen wird”.)
Andere Fakultäten pflegen eventuell einen robusteren Umgang.
> Aber den Naturwissenschaftler, der in Fragen der Ökonomie als Erster eine Meinung hat, alles besser weiß und sich durch nichts belehren läßt […]
So ein’ hat ich auch mal.
@ Galileo Galilei
„Deswegen ist Herr Trepl auch sehr unobjektiv, wenn er die Nicht-Einmischung von Ökonomen in naturwissenschaftliche Fragestellungen so darstellt, als hätten Ökonomen einfach mehr Anstand als Naturwissenschaftler.“
Das wäre zwar eine interessante Frage, aber ich habe nicht behauptet, daß die Ökonomen mehr Anstand haben. Ich habe vielmehr vermutet, daß es vor allem eine Frage des Horizonts, der „Bildung“ ist: Man weiß als Naturwissenschaftler typischerweise nichts über das Gebiet der anderen und glaubt, im allgemeinen durchaus guten Gewissens, da könne man schon mitreden. Oft ist das verbunden damit, daß man die anderen für schlechte Wissenschaftler hält, weil sie bestimmte Dinge nicht können, die man selber kann – die man aber natürlich in dem anderen Gebiet auch nicht könnte (es liegt nicht an einer minderen Qualität der ökonomischen Wissenschaft, daß sie Wirtschaftskrisen nicht so genau voraussagen kann wie die Astronomie den Planetenlauf) oder um die es dort schlechterdings nicht geht. Letzteres betrifft etwa die Frage der Prognosen in Fächern, die Aufgaben haben, bei denen es auf Prognosen gar nicht ankommt, typischerweise solche, die „Orientierungswissen“ und nicht „Verfügungswissen“ liefern.
Daß solche Abwertungen umgekehrt nicht passieren – man findet kaum Philologen, die die Naturwissenschafter verachten, weil diese ihnen im Hinblick auf die zur Textinterpretation erforderlichen Fähigkeiten weit unterlegen sind – scheint mir weniger eine Frage des Anstands, des Charakters oder von sonst etwas ins Moralische Gehörigem, als des Nichtwissens. Man hat solche Fähigkeiten als Naturwissenschaftler nicht nur nicht, sondern hat auch noch nie davon gehört, daß es dergleichen überhaupt gibt. Umgekehrt hat zwar der Philologe nicht die Fähigkeiten, die es braucht, um ein Experiment durchzuführen, aber er weiß, daß es solche Fähigkeiten gibt und daß man sie braucht, wenn man Experimente durchführen will. – Allerdings kann man immer sagen, daß es ganz allgemein ein moralisches Gebot (ganz besonders für Wissenschaftler) ist, sich zu bilden, dieses Nichtwissen zu beheben.
Es handelt sich, nach Kuhn und anderen Wissenschaftstheoretikern (z. B. Toulmin), hier jedoch nicht um eine Grenze, die Natur- von Sozial- und Geisteswissenschaften trennt, sondern paradigmatisierte von nicht-paradigmatisierten (oder kompakte von diffusen) Wissenschaften; Naturwissenschaften sind lediglich unter den ersteren häufiger. Wenn eine Wissenschaft, egal was ihr Gegenstand ist, paradigmatisiert wird, wird eine ungleich „tiefere“ Gegenstandsbearbeitung möglich, doch um den Preis einer enormen Horizontverengung. Ja, diese ist Bedingung dafür, daß der Gegenstand in einer Tiefe und mit einer Genauigkeit erforscht werden kann, die sonst nicht im Entferntesten erreicht werden könnte. Der Kuhn’sche Normalwissenschaftler ist extrem engstirnig, viel engstirniger, „ungebildeter“ nicht nur als ein Wissenschaftler aus einem nicht-paradigmatisierten Gebiet, sondern auch als ein typischer Nichtwissenschaftler. Aber gerade deshalb ist die paradigmatisierte Wissenschaft so erfolgreich. Und man könnte die Frage stellen, ob diese Verengung nicht auch den Charakter verdirbt. Kuhn legt eine solche Interpretation nahe. Doch finden sich auch Wissenschaftstheoretiker, die zeigen, daß gerade das „diffuse“ Wesen der nicht-paradigmatisierten Wissenschaften den Charakter verdirbt, allerdings an anderen Stellen; es gibt schöne Texte von Gerhard Hard darüber (z. B. „Die Disziplin der Weißwäscher“, über die Geographie).
@Ludwig Trepl: Tiefere Ursachen?
Das von Ihnen angesprochene Problem liegt aus meiner Sicht tiefer. Es hängt mit einem gewissen Wissenschaftsverständnis zusammen, das ich nicht teile, Sie aber hier auf den Punkt bringen:
Aus meiner Sicht ist die Verbindung mit d. h. falsch. Zwar sollen Wissenschaftler nicht wie Laien diskutieren und nicht ohne Nachdenken über die Sache. Aber die Verbindung mit d. h. impliziert (und das tun nur Geisteswissenschaftler), dass man sich für wissenschaftliches Denken zu jedem Problem erstmal die gesamte Wissenschaftsgeschichte anschauen müsse – bevor man dazu eine qualifizierte Meinung abgeben könne. So hat kein genialer Erfinder gearbeitet – wer nämlich erstmal alle Nuancen bisheriger Lösungen aufnehmen muss, der kann nicht mehr frei denken. (Übrigens haben das auch einige Philosophen teils nicht getan, etwa Wittgenstein.)
Andersherum wird mir ein Schuh draus: Man muss das Problem erkennen und für dieses Problem eine elegante Lösung anbieten. Anschließend muss man sie gegen Einwürfe verteidigen und dazu ihre Vor- und Nachteile mit denen der anderen Lösungen vergleichen. Obwohl man natürlich für die Erkenntnis des Problems schon gewisses Wissen braucht.
In der Naturwissenschaft funktioniert das letztlich auch so, denn die Verteidigung erfolgt anhand der Experimente und der theoretischen Erklärungskraft. Die Naturwissenschaftler haben allerdings einen großen Vorteil: Sie teilen heute einen Rahmen, in dem sich jede neue Theorie bewähren muss – und daraus ausscherende Theorien haben es schwer. Aber dennoch leichter als in den Geisteswissenschaften: Denn dass eine Theorie aus dem Rahmen fällt, das sieht jeder sofort.
In der Geisteswissenschaft fehlt schon dieser geteilte Rahmen. Fast jede geisteswissenschaftliche Theorie hat aber einen solchen Rahmen – und ist sich dieses Rahmens meist selbst nicht bewusst. Darum insistieren Geisteswissenschaftler ja auch so auf dem Anlesen des Althergebrachten, denn die Theorien verstehen und Mitreden könne eben nur, wer alles bisher Gedachte studiert hat. Und wer den so Sozialisierten unverständliche Kritik anbringt, der hat nur noch nicht ausreichend verstanden.
Beides stimmt auch in gewisser Hinsicht – denn viele Teile der Theorien funktionieren nur intuitiv (wie es oben angesprochen wurde). Sie funktionieren also nicht wissenschaftlich nachprüfbar, sondern nur bei Menschen mit ähnlichem Hintergrund auf Erfahrungsbasis, hermeneutisch. Sie funktionieren insofern wie die Laien-‘Erkenntnis’.
Dem könnte man abhelfen, aber dazu müssten die Geisteswissenschaften ihren Kinderschuhen entwachsen. Sie müssten sich auf die Suche ihrer jeweiligen impliziten Grundlagen machen. Und das tut heute fast keine der Geisteswissenschaften. Es wird ‘argumentiert’ und letztlich glaubt sich jede Seite im Recht, glaubt jede an das Unverständnis der anderen – statt die Diskussion auf jenes (metaphysische) Niveau zu heben, wo die wirklichen Unterschiede deutlich werden. Will man das mit der Naturwissenschaft vergleichen, so müsste die Geisteswissenschaft ein Formelsystem finden, aus dem sich durch Eingabe der Randparameter die Ansichten aller Menschen zu einem Problem ableiten lassen.
Das scheint mir mehr ein frommer Wunsch denn Realität zu sein. Selbst unter den bestgeformtesten Juristen oder Philosophen ist lange nicht jeder Begriff exakt definiert – ja wohl nicht einmal definierbar, denn jede Definition muss auf ein Begriffssystem zurückgreifen und damit auf nie ganz zu beseitigende Ungewissheiten oder Nuancen. Wir lernen Sprache intuitiv und diese Unterschiede werden zwar bei den Definitionen nicht offensichtlich – aber sie wirken sich dann bei den Problemdiskussionen aus. Darum gibt es in beiden Fächern zahlreiche Schulen – die sich bekriegen und gegenseitig entsprechend abwerten.
Ich denke, dass hier noch ein ganz anderer Unterschied relevant ist – gerade auch im Hinblick auf Ihre Ursprungsfrage: Der Naturwissenschaftler lernt komplett explizit zu denken, zu schlussfolgern und zu formulieren – der Geistes-/Sozialwissenschafler lernt (zumindest auch) implizit Gedachtes nachvollziebar zu formulieren.
Das führt dann auch zu der unterschiedlichen Herangehensweise an andere Wissenschaften. Der Naturwissenschaftler nimmmt die Formulierungen wie sie sind als explizite, arbeitet mit ihnen und kritisiert daran. Der Geistes-/Sozialwissenschaftler muss sie verstehen, intuitiv aufnehmend studieren und dann nachvollziehbar Neues daraus machen – was ihm mit naturwissenschaftlichen Problemen naturgemäß schwerfällt. Zumal der Naturwissenschaftler ihm seine Fehler auch vorrechnen könnte und würde – was der Geisteswissenschaftler mit den Vorschlägen des Naturwissenschaftlers auf geisteswissenschaftlichem Gebiet nicht kann, er kann ja seine Intuitionen nicht begründen.
Sehr schön merkt man das übrigens an Anfängerarbeiten in den Geisteswissenschaften – will man dort weiterhelfend korrigieren, dann muss man sich viel intensiver mit den Fragen beschäftigen, als bei Arbeiten fortgeschrittenerer Studierender. In den Naturwissenschaften scheint mir das genau anders herum zu sein.
Keine abgesteckten Gebiete!
Schon mein Mathematiklehrer war der Überzeugung, es gebe auch ausserhalb der eigentlichen Naturwissenschaft Dinge, die man zwar (noch) nicht ausreichend exakt und naturwissenschaftlich angehen könne, die aber doch zu wichtig seien, als dass man sie den Geisteswissenschaftlern überlassen könne. Denn was ihn an den “social sciences” und “humanities” am meisten ärgerte, waren die dreisten Annahmen und Behauptungen, die seiner Meinung nach so leicht vom Tisch gewischt werden konnten, wie eine störende Mücke vom Lehrpult.
Wenn Ludwig Trepl in Bezug auf die unqualifizierte Einmischung einiger MINTler in Gebiete, in denen sie sich nicht auskennen, schreibt: “Die Naturwissenschaftler sind offenbar nicht in der Lage zu erkennen, daß der Besitz dieser Meinung sie noch nicht qualifiziert, in einer wissenschaftlichen Diskussion über den Gegenstand, auf den sich diese Meinung richtet, mitzureden.”, so hat er bestimmt recht. Oft ist der Hintergrund dieser MINTler-Arroganz die fehlende Anerkennung für die betreffende “Wissenschaft”. Doch einfach seine fremdgebildete, auf der naturwissenschaftlichen Ausbildung basierende Meinung kundzutun, ist tatsächlich nicht befriedigend, und eine naturwissenschaftliche “Neugründung” eines Fachgebiets wäre in der Meinung vieler Naturwissenschaftler angezeigt. Ludwig Trepl beobachtet gut, wenn er schreibt:
“Nicht selten ist es, daß Naturwissenschaftler glauben, die ökonomischen, soziologischen usw. Fragen mit ihren eigenen Mitteln, also naturwissenschaftlichen, beantworten zu können.”
Tatsächlich ist das Fachgebiet der Ökonomie einfach zu wichtig, um es Ökonomen zu überlassen. Eine Ökonomie, die auf naturwissenschaftlichen Grundlagen basieren würde, könnte das Schicksal von Millionen bis Milliarden Menschen verbessern und sie vor Finanz- und Wirtschaftskrisen wie derjenigen von 2008 bewahren. Hätte es eine empirisch oder naturwissenschaftlich basierte Ökonomie schon in den 1930er Jahren gegeben wäre Europa und den USA die wirtschaftliche Depression und womöglich sogar der 2. Weltkrieg erspart geblieben.
Und tatsächlich bemühen sich nun auch Physiker, Mathematiker und Statistiker darum, die Ökonomie neu zu begründen und sie als dynamisches, nichtlineares System zu modellieren (siehe How we can predict the next financial crisis)
Pädagogische und psychologische Fragestellungen wiederum sollen neurokognitive Untersuchungen auf eine wissenschaftliche Basis gestellt werden. In der Pädagogik sollen also nicht mehr Autoritäten wie Jean Piaget mit ihrer aus dünner Luft geborener Theorie der kognitiven Entwicklung das Sagen haben, sondern aktuelle Ergebnisse aus Hirnuntersuchungen sollen uns zeigen, was wirklich abläuft im Hirn.
Persönliches Fazit: Wo naturwissenschaftliche/mathematische Ansätze ein ursprünglich geisteswissenschaftliches Gebiet erhellen können, indem sie Empirie mit Theorie verbinden, sollen sie eingesetzt werden. Für mich sind also Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie und Ökonomie zugänglich für naturwissenschaftliche Ansätze.
Insititutionen wie das MIT oder die ETH haben erst in den letzten Jahren versucht auch in Bereiche vorzudringen, die vorher den Geisteswissenschaften vorbehalten waren. Beispiele dafür sind:
– Das ETH Risk Center welches Systemaspekte von so unterschiedlichen Risiken wie Erdbeben und Finanzcrashs untersucht
– Sustainability Transitions Research Network welches gesellschaftliche und ökonomische Systemwechsel untersucht
– Cognitive Neuroscience and Neuropsychiatry welche erstmals durch Hirnuntersuchungen die Ursachen von Depression, Schizophrenie und vieler anderer Hirnzustände untersuchen will
Das Feld, welches die Naturwissenschaften beackern, ist die Grundlage von allem, was da wächst und überhaupt wachsen kann. Zumindest sehen es Naturwissenschaftler so, naturbedingt.
Wenn nun ein Geistes- oder Kulturwissenschaftler sich spezifisch zu bestimmten Gewächsen äußert, mag sich ein Naturwissenschaftler berufen fühlen, zu beurteilen, ob dieses Gewächs tatsächlich auf seinem Acker gewachsen ist. Das halte ich für legitim. Was darüber hinausgeht, kann man mit einigem Recht kritisieren.
Andererseits, ist es nicht so, dass fachfremde Einlassungen einen positiven, ja belebenden Effekt auf die Geistes- und Kulturwissenschaften haben können, wie man zum Beispiel an der Diskussion um die Willensfreiheit sieht?
“Der Naturwissenschaftler kommt nicht selbst in seinem Gegenstandsbereich vor, der Geistes- und Sozialwissenschaftler aber schon, darum „betrifft“ ihn das Umlernen. Es ist nicht nur Stolz auf vermeintliche Fähigkeiten, der da gekränkt wird, sondern oft wird das ganze Gebäude seines geistigen Lebens erschüttert, oder das, woran er „sein Herz gehängt hat“, seine innersten moralischen Überzeugungen usw. Das ergibt eine ganz andere Art und Tiefe des Schmerzes.”
Danke Herr Trepl – Sie haben das auf den Punkt gebracht.
“Es gibt ja gar keinen Streit, der eventuell durch einen Kompromiß beigelegt werden müßte. Naturwissenschaften haben gar keine andere Meinung zu den Gegenständen der Sozial- und Geisteswissenschaften und umgekehrt, sondern sie haben dazu einfach nichts zu sagen.”
Hierzu schlage ich eine Differenzierung vor, denn in der Form muss ich Ihnen, Herr Trepel, widersprechen.
Das jeder zu allem eine Meinung hat ist völig in Ordnung. Auch und insbesondere, dass Naturwissenschaftler, als Teil der Gesellschaft, eine Meinung über ebendiese haben, soweit eben wie Sozialwissenschaftler auch.
Darüber hinaus aber haben Sozialwissenschaftler zur Gesellschaft auch noch eine wissenschaftliche, mehr oder minder fundierte, Meinung. Diese haben Naturwissenschaftler zur Gesellschaft in der Regel nicht und reagieren pikiert, wenn Sozialwissenschaftler ihnen das zu verstehen geben – in der Regel sehr indirekt, zurückhaltend und subtil – man will ja niemanden kränken oder verunsichern, weiß man doch berufsbedingt um die Identitätskrisen sozialwissenschaftlicher Erkennntis. Nur eben für Voll nehmen ist schwierig, erstrecht, wenn die Erkenntnisquellen des Naturwissenschaftlers abgeklopft werden.
@ Galileo Galilei
„Natürlich verweist Herr Trepl da prinzipiell auf die Kompromissbereitschaft, die er bei Sozial- und Nicht-Naturwissenschaftlern verbreiteter sieht.“
Nein, um Kompromißbereitschaft geht es in dem Artikel überhaupt nicht, an keiner einzigen Stelle. Es geht auch nicht, das habe ich ausdrücklich geschrieben, darum, daß man mit den für den eigenen Gegenstandsbereich entwickelten Mitteln in ganz anders beschaffenen Gegenstandsbereichen meint etwas ausrichten zu können (etwa wenn ein Theologe meint, Fragen der Evolutionsbiologie durch Bibelstudium lösen zu können, oder ein Biologe die Frage der Freiheit des Willens durch Experimente).
Es geht ausschließlich darum, daß Naturwissenschaftler typischerweise etwas tun, was sie als Wissenschaftler keineswegs tun dürften: über einen Gegenstand wie Laien zu reden, ohne eingehende Prüfung der Sache, d. h. z. B. ohne jeden Versuch nachzuprüfen, was man darüber bisher alles schon gedacht und herausgefunden hat. Daß man glaubt, ohne diese Anstrengung einfach eine gültige Meinung sich leisten zu können. Es gehört zum A und O jeder Wissenschaft, sollte man meinen, daß man so nicht vorgehen darf, jeder Student einer jeden Wissenschaft lernt das. Ein Kompromiß muß da nirgends geschlossen werden. Es gibt ja gar keinen Streit, der eventuell durch einen Kompromiß beigelegt werden müßte. Naturwissenschaften haben gar keine andere Meinung zu den Gegenständen der Sozial- und Geisteswissenschaften und umgekehrt, sondern sie haben dazu einfach nichts zu sagen. Es sollte halt in den Wissenschaften so wie im richtigen Leben zugehen: Der Automechaniker muß mit dem Zahnarzt keinen Kompromiß darüber schließen, wie der Wurzelzustand ist, sondern das weiß der Zahnarzt, und der Automechaniker hat ihm zuzuhören, er hat schlechterdings gar keine Meinung dazu zu haben, er versteht etwas von Autos, nicht von Zähnen. Der typische Naturwissenschaftler vergißt aber, daß er nur Automechaniker ist und nicht zugleich Zahnarzt, Musikhistoriker und Zimmermann.
@ Galileo Galilei Jura
„Die Forderung nach Exaktheit in den Naturwissenschaften beruht nicht zuletzt darauf, dass Jahrhunderte lang Prediger die Leute für dumm verkauften und Wissenschaftler als Schänder der Religion gehängt oder verbrannt wurden.“
Stimmt schon, und es gehört zu recht in den Teil ihrer Geschichte, auf den die Naturwissenschaftler stolz sind. Man sollte aber nicht vergessen, daß bei weitem die meisten der gehängten und verbrannten Wissenschaftler (und „Wissenschaftler“) nicht Naturwissenschaftler waren, sondern Sozial- und Geisteswissenschaftler.
@ Galileo Galilei Jura
Zur Exaktheit der juristischen Sprache: Wenn Anwälte den Umstand nutzen, „dass Begriffe eben nicht exakt sind“, dann dort, wo sie Laien zu überzeugen, besser zu überreden versuchen. Wenn sie aber zu anderen Juristen, etwa zum Richter, sprechen, sind sie gezwungen, nicht die Begriffe der Alltagssprache zu benutzen, sondern der juristischen Fachsprache, und da zerfällt ein vage definierter Begriff der Alltagssprache in eine Vielzahl exakt definierter verschiedener Begriffe. Ebenso ist es in der Philosophie. Ein Naturwissenschaftler hat selten auch nur eine blasse Ahnung davon, wie komplex z. B. der Begriff „Individuum“ ist, wie viele vollkommen verschiedene Bedeutungen er hat (wie viele Regale die Philosophen-Diskussion darum füllt) und wie diese Bedeutungen einander implizieren, ausschließen usw. – ein Begriff, den er ganz bedenkenlos in einem irgendwie seinem Alltagsdenken entnommenen Sinn verwendet. Dabei stößt er dann etwa in der Biologie immer wieder auf Grenzen, er merkt, daß man an bestimmten Stellen mit diesem Verständnis von „Individuum“ nicht mehr weiterkommt, und behilft sich dann mit Nominaldefinitionen, die aber nur für eng begrenzte Kontexte sinnvoll sind, was er aber gewöhnlich nicht merkt.
@ Galileo Galilei, @ D. S.
Zur Kränkung und zum Schmerz, den man in den verschiedenen Wissenschaftsarten erfahren kann: Ich vermute, Sie beide zielen auf sehr verschiedenes.
@ Galileo Galilei spricht von der Kränkung der eigenen Eitelkeit und ähnlichem. Man ist gezwungen zuzugeben, daß man Fehler gemacht hat, vielleicht sogar ein Stümper war. Das gibt es natürlich in allen Wissenschaften, und nicht nur da.
(Ein Unterschied besteht allerdings, in der Schule kann man ihn beobachten: Kritik an einem Fehler im Fach Mathematik kränkt den, der stolz auf seine mathematischen Fähigkeiten ist. Die meisten Schüler aber berührt sie gar nicht, ja, sie brüsten sich sogar damit, daß sie Mathe nicht können. Kritik an einem Werk im Kunstunterricht oder am Auftritt bei einer Schultheateraufführung dagegen trifft tief. Sie trifft einen nämlich „als Mensch“. Davon sind die Wissenschaften nicht ganz unberührt. In manchen Geisteswissenschaften muß man zeigen, daß man Geschmack hat. Der Nachweis, daß das nicht der Fall ist, ist vernichtend.)
@ D. S. scheint mir (wenn auch nicht direkt) im Kern auf einen anderen Sachverhalt hinzuweisen. Eisel hat ihn einmal so formuliert: In den Naturwissenschaften lernt man etwas dazu, in den Sozialwissenschaften muß man umlernen. Das bezog sich allerdings auf den Ausbildungsprozeß, nicht auf den Forschungsprozeß. In diesem muß man natürlich auch in den Naturwissenschaften umlernen, bisher für richtig gehaltenes über Bord werfen, während man im Ausbildungsprozeß halt ein Paradigma ansozialisiert bekommt und einem das Gefühl vermittelt wird, Wahrheit auf Wahrheit zu häufen. Wichtiger ist aber der Unterschied in der Art des Umlernens. Der Naturwissenschaftler kommt nicht selbst in seinem Gegenstandsbereich vor, der Geistes- und Sozialwissenschaftler aber schon, darum „betrifft“ ihn das Umlernen. Es ist nicht nur Stolz auf vermeintliche Fähigkeiten, der da gekränkt wird, sondern oft wird das ganze Gebäude seines geistigen Lebens erschüttert, oder das, woran er „sein Herz gehängt hat“, seine innersten moralischen Überzeugungen usw. Das ergibt eine ganz andere Art und Tiefe des Schmerzes.
@Galileo Galilei
Worauf ich mit dem Gender Studiey-Beispiel hinauswollte war, dass an Genderwissenschaftlern gut beobachtbar ist, wie schwierig es in den Sozialwissenschaften sein kann, die Person/Persönlichkeit der Disziplinvertreter vom Forschungsgegenstand abzulösen, gerade aufgrund der eigenen Involviertheit in die Gesellschaft. Das lässt sich beliebig übertragen, seien es Friedens- (und Konflikt-)Forscher, die ja auch nicht unbedingt zum Draufhauen neigen, seien es Armutsforscher, denen das Herz bricht usw.
relevant
https://www.youtube.com/watch?v=IaO69CF5mbY
@D.S
@ D.S.
Zu 1) Ich stimme Ihnen zu, natürlich betrifft das erstmal alle Wissenschaftler aller Wissenschaften. Deswegen hab ich auch geschrieben, ich würde die Naturwissenschaftler nicht unbedingt den Vorzug geben.
Ich denke aber, dass die Fehler unterschiedlich gelagert sind:
Zeigen sich Hypothesen eines Naturwissenschaftlers als falsch, steht dem in der
Regel eine natürliche Gesetzmäßigkeit entgegen, die es sich mit dem Ziel die Wahrheit zu finden, auch nicht lohnt anzugreifen, denn die
naturwissenschaftliche Wahrheit ist ja dann bekannt. Das schrieben Sie ja auch weiter oben. Deswegen ist Herr Trepl auch sehr unobjektiv, wenn er die Nicht-Einmischung von Ökonomen in naturwissenschaftliche Fragestellungen so darstellt, als hätten Ökonomen einfach mehr Anstand als Naturwissenschaftler.
Zeigen sich Hypthesen eines Sozialwissenschaftlers als “Falsch” ist die Frage
allerdings was Falsch dort überhaupt bedeutet, auch weil sie schreiben, und das ist einsichtig, dass es Phänomene gibt, die sich naturwissenschaftlich nicht erschließen lassen. Oftmals wird die Diskussion um Wahr oder
Falsch auf Basis empirischer Studien ausgetragen. Mit Studien wird aber in den
Diskussionen nur so um sich gehauen, einer Art wissenschaftlicher Wahrheit
bringt das beide Seiten selten näher.
Das Kommunikationsproblem zwischen den Disziplinen liegt meines Erachtens aber darin, dass Wissenschaftlichkeit mit Kompetenz gleichgesetzt wird. Für den
Naturwissenschaftler besteht Wissenschaftlichkeit allerdings nicht primär in einer Frage der Kompetenz, oder darin ob jemand sich nur genügend Mühe gibt die Wahrheit zu finden, sondern in der ganz grundsätzlichen Frage ob Wahrheitsfindung überhaupt möglich ist. Deswegen interessiert Naturwissenschaftler auch nicht, was vor dem Urknall war, oder ob es außerhalb des Universums irgendwas anderes gibt (bzw. interessiert vielleicht schon, aber nicht so, dass viel Zeit und Energie
auf die Lösung verschwendet werden würde => Rationalität)
Wie Sie schreiben, gibt es in vielen Nicht-Naturwissenschaften keine
Möglichkeit die Wahrheit überhaupt zu definieren und das hat in der Vergangenheit auch zu ideologisch gefärbter Wissenschaft geführt. Die Technokratie die teilweise in den Naturwissenschaften herrscht, trägt für mich aber oft nicht minder gefährliche Züge.
Was Genderforscher betrifft vertreten viele augenscheinlich eine konstruktivistische Weltsicht und glauben alles sei konstruiert und damit beeinflussbar, sodass sie sich zu Aussagen hinreisen lassen, wie “Geschlechtlichkeit sei durch die Gesellschaft bzw. Erziehung konstruiert”.
Dazu folgende Feststellung meinerseits:
Es gibt Menschen, deren körperliches Geschlecht nicht dem eigenen
inneren Empfinden entspricht. Diese Menschen werden aber vermutlich überwiegend von der Gesellschaft entsprechend ihrem körperlichen Geschlecht behandelt. Dennoch entscheiden sich einige oder viele zur Operation, verhelfen also ihrem inneren Empfinden zum Durchbruch und nicht der gesellschaftlich auf sie projezierten Geschlechtlichkeit. Für mich ist das glaubwürdig. Es widerspricht aber der Annahme, das Geschlecht sei gesellschaftlich konstruiert wie es die Gender-Studies ausdiskutieren wollen. Ich würde auch die Hypothese aufstellen, diejenigen, die nicht die OP-Möglichkeit haben bzw. durch
ihr Umfeld in dieser Frage diskriminiert werden, werden je nach Leidensdruck, früher oder später entsprechende seelische Verletzungssymptome zeigen.
Ich halte es auch deshalb für fragwürdig unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit z.B. Eltern zu verunsichern, wie sie mit einem Mädchen oder Jungen umgehen sollten um ihn/sie nicht zu etwas zu konstruieren was er/sie nicht sein will. Abstraktion von der Realität in eine Scheinrealität bringt da gar nichts.
Für wirklich bedenklich halte ich, dass Gender-Leute so weit gehen auf Basis ihres Konstruktivismus eine politisch korrekte Sprache zu fordern, indem sie Frauen einreden, sie würden durch den verallgemeinernden Maskulinum im Deutschen diskriminiert, noch dazu, wenn dabei das Vertrauen, das in die Wissenschaft im Allgemeinen existiert dazu missbraucht wird den eigenen schwachen Standpunkt zu festigen. Sprache war immer ein gesamtgesellschaftlicher Konsens. Menschen als ungerecht darstellen zu wollen, die keine geschlechter”gerechte” Sprache benutzen ist keine Wissenschaft sondern Kampf um Deutungshoheit.
Ansonsten ist die Naturwissenschaft natürlich in der Lage, alles zu erklären – prinzipiell wenigstens. Der Mangel wird immer erst klar, wenn er beseitigt ist – also ein Fortschritt erlangt wurde. Heißt also, dass man zuweilen durchaus nicht in der Lage sei, naturwissenschaftlich zu argumentieren, aber eben anderweitig wissenschaftlich – auch mal die pseudo-variante, wenns ein Phänomen gibt.
Man kann sich aber auch verweigern, damit man gewohnheitsmäßig auch die klar gezogene Grenze erhält. Sowas ist dann meist ein Machtinstrument.
Formatkorrektur
Geisteswiss. Synthetiker,NW Analytiker?
In der Naturwissenschaft regiert die Skepsis, in der Geisteswissenschaft die geistige Akrobatik mit dem Mut zur Synthese und der Welt als Wille und Vorstellung. Naturwissenschaftler erklären die materielle Welt, Geisteswissenschaftler schaffen eine geistige Welt. Reggid schreibt sehr richtig, dass Geisteswissenschftler viel weniger Hemmungen haben, (Zitat)“eine ganze palette von “esoterischen” zeugs [zu akzeptieren] ob z.B. wasser bestimmte strukturen ausbildet und ein “gedächtnis” hat, ob irgendwelche “quantenschwingungen” einfluss auf treibstoffverbrauch und wasserqualität haben und was es sonst noch so in diese richtig gibt, ist nämlich eine naturwissenschaftliche fragestellung und lässt sich auch eindeutig beantworten. diese art von esoterik-gläubigkeit findet sich aber durchaus sehr stark in gebildeten kreisen, und darunter natürlich auch studierte geisteswissenschaflter”. Das ist auch mein Eindruck und man findet sogar Bestätigung für diese These auf scilogs, wo mindestens zwei Naturwissenschaftler gegen die Homöopathie Stellung beziehen und mindestens ein Geisteswissenschaftler den Vitalismus bis zum Letzten verteidigt.
Außerhalb von scilogs findet man den Philosophen Peter Sloterdijk und die PolitikerInnen Schröder-Kopf und Renate Künast als Homöopathieverfechter.
Genau das ist eine Konfliktlinie zwischen MINT-lern und Geisteswissenschaftlern. Die ersten glauben an methodisches Vorgehen und sind gegenüber kühnen Weltbildern skeptisch, die zweiten sind die geistigen Abenteurer, die um eines geistigen Konstrukts wegen, gerne die Natur und die Naturwissenschaften in ihre Schranken verweisen.
Geistes- und Naturwissenswissenschaftler
Das, was die MINT-Fächer von den Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften unterscheidet, ist, dass in letzteren der Mensch das Geschehen bestimmt oder mitbestimmt. Das Gehirn ist das komplexeste Gebilde, dass wir kennen. Kann ein Naturwissenschaftler es simulieren? Können wir ein Programm starten, um festzustellen, was eine Person in zehn Jahren macht, z.B. als Straftäter rückfällig wird, einen Mord begeht etc.? Meines Wissens nicht.
Der Geistes- und Sozialwissenschaftler benötigt deswegen Intuition zur Interpretation der “Daten”, ich meine damit nicht, dass er sie als Hilfsmittel braucht, wie ein Naturwissenschaftler, der aber um eine mathematische Begründung nicht herumkommt, wenn er das Ergebnis mit Intuition gefunden hat, sondern ich meine, er braucht sie als Auswahlkriterium unter den potentiellen Erklärungen, ohne dies mathematisch beweisen zu können. Letztlich ist diese Intuition das Resultat von Erfahrung und Wissen, gefiltert von uns bislang unbekannten Algorithmen im Gehirn. Dies könnte manchen Naturwissenschaftler unheimlich sein, weil sie diese Denkprozesse nicht (immer) nachvollziehen können.
Naturwissenschaflter
ist es wirklich so, dass naturwissenschaftler häufiger als nicht-naturwissenschaftler z.B. im themenbereich der ökonomie ohne dem nötigen fachwissen mitreden wollen?
meiner erfahrung nach betrifft das nämlich alle gruppen ziemlich gleich, naturwissenschaftler, geisteswissenschaftler, nicht-wissenschafter,… . es ist (leider) sehr oft üblich, dass viele leute ihren senf dazu geben müssen, ohne sich in dem fach auszukennen. dass dies aber speziell ein problem von naturwissenschaftlern (d.h., mehr als bei z.B. ebenfalls fachfremden geisteswissenschafltern) ist, wäre mir aber noch nicht aufgefallen.
auch arroganz und überhöhung des eigenen fachgebiets kenne ich von “beiden seiten” ziemlich gleich.
sie schreiben: “Daß gar ein Wissenschaftler, der nicht Naturwissenschaftler ist, an seiner Meinung über eine naturwissenschaftliche Frage stur festhält, egal was die zuständigen Naturwissenschaftler sagen, kommt praktisch überhaupt nicht vor. Mir ist das jedenfalls noch nie begegnet.”
nun, darunter würde meiner meinung nach eine ganze palette von “esoterischen” zeugs fallen. ob z.B. wasser bestimmte strukturen ausbildet und ein “gedächtnis” hat, ob irgendwelche “quantenschwingungen” einfluss auf treibstoffverbrauch und wasserqualität haben und was es sonst noch so in diese richtig gibt, ist nämlich eine naturwissenschaftliche fragestellung und lässt sich auch eindeutig beantworten. diese art von esoterik-gläubigkeit findet sich aber durchaus sehr stark in gebildeten kreisen, und darunter natürlich auch studierte geisteswissenschaflter. also mir ist soetwas (anscheinend im gegensatz zu ihnen) schon sehr oft begegnet.
auch gibt es viele nicht-naturwissenschaflter, die, oft komplett ohne jedes fachwissen, eine starke ablehnung bezüglich mancher naturwissenschaftlicher tatsachen oder forschung zeigen, sei es relativitätstheorie oder teilchenphysik am CERN. auch da würde ich nicht-naturwissenschaftliche wissenschaftler nicht ganz ausnehmen.
kurz gesagt: es gibt in jeder beliebigen gruppe von menschen immer eine beachtliche menge von jenen die meinen, groß die klappe aufreißen zu müssen ohne sich wirklich auszukennen (so wie ich hier gerade). aber ein großer unterschied zwischen naturwissenschaftlern und nicht-naturwissenschafltern wäre mir da noch nie aufgefallen.
D.S. schrieb:
“Bleibt außerdem noch das Spiegelkabinett.”
-> Der war gut.
Sie wissen doch, Herr Trepl: Ohne Beleg ist für den Naturwissenschaftler alles Geschwurbel.
Was die Ökonomie angeht: Solange 1+1 noch zwei sind, geht alles in Ordnung. Glaubt man aber den Zeitungen (also dem, was man daraufhin denkt, wenn man Zeitung liest), kann die Rechnung oben nicht mehr die Grundlage der Ökonomie sein.
Und unterschiedliche Schulen oder Lager mit unterschiedlichen Schlußergebnissen taugen tatsächlich dazu, im Zweifel beide verächtlich zu ignorieren.
Und son Professor hat ja auch eigene Lebenserfahrungen – die sind sogar belegbar…sprich: unanzweifelbar. (Muß der doch seine Forschungsprojekte ordentlich dokumentieren, wozu auch Kostenrechnungen gehören…)
Argumente…
Wenn ein Naturwissenschaftler über humanwissenschaftliche Themen theoretisiert, kann doch der Gesteswissenschaftler, wenn er meint mehr Erfahrung und Verständnis zu haben, den NW argumentativ überzeugen? Wenn es keine Gegenargumente gibt, kann der GW sich ggf. wissenschaftlich mit der Theorie beschäftigen.
@Galileo:Kompromissbereitschaft
So empfinde ich es auch.
@Galileo Galilei
1 betrifft alle Wissenschaftler aller Wissenschaften.
2 In den Sozialwissenschaften kann nicht jedes Phänomen von jedem erforscht werden. Der Grund hierfür liegt nicht in der Qualität oder Kompetenz des Forschers, sondern im Zugang zum Phänomen.
Ein Beispiel sind die Gender Studies – vielgescholten und problematisch. Der Insider-Blick auf die Lehrstühle offenbart Homosexualität der Damen und Herren GenderWissenschaftler. Es ist also eine sehr spezifische Gruppe, die vieles, was Gender anbelangt selbst erlebt hat. Die Chance liegt darin, dass so tiefergehendes Verständnis möglich ist, die Herausforderung liegt darin, die von der eigenen Sexualität abzusehen und es auf einer abstrakteren Stufe zu diskutieren.
Kurzum, wer Stereotype erforscht wird unweigerlich mit seinen eigenen konfrontiert. Das macht es nicht gerade einfacher.
@D.S
[1] “Es kommt also aufgrund von Fehlern in der Theroieformulierung oder im Experiment selbst zu kränkenden Erfahrungen und zu Enttäuschung”
[2] “In der Regel – außer vielleicht Quantenphysik – ist doch aber die Person des Naturwissenschaftlers, seine Menschlichkeit/Psyche/Sozialisation/etc., kein Hindernis, oder?”
Zu [1] Ja und Nein:
Wenn der Forscher den Fehler selbst erkennt ist das in der Regel weniger tragisch für ihn. Aber wenn ihn ein anderer erkennt kann das – je nach der Einstellung desjenigen und der Arbeit die er investiert hat sicher eine persönliche Schmach darstellen. So würde ich es formulieren. Ein Experiment muss auch nicht unbedingt falsch sein. Es kann auch richtig sein und schlicht das Gegenteil der eigenen Vermutung beweisen. Es kommt sehr auf den Charakter des Wissenschaftlers an.
Stellen Sie sich aber vor, was wäre wenn das Milliardenprojekt am CERN keinen Erfolge brächte, es geht da ja auch um eine wissenschaftliche Hypothese von Higgs.
Unabhängig davon ob er – ganz Wissenschaftler – selbst auch eine Nicht-Bestätigung seiner These akzeptieren könnte, würde die Erkenntnis sicher genügend Leute finden, die die maßlose Geldverschwendung anprangern.
Grundsätzlich würde ich da aber ungern den Naturwissenschaften alleine den Vorzug geben. Es ist einfach grundsätzlich so, dass keiner vor der Erkenntnis des eigenen Irrtums gefeit ist.
Was nur irgendwo ärgert ist, wenn man auf Basis einer Lehrmeinung erklärt bekommt, dass man irrt, ohne dass eine auf grundlegende Tatsachen beruhende Diskussion möglich ist.
Natürlich verweist Herr Trepl da prinzipiell auf die Kompromissbereitschaft, die er bei Sozial- und Nicht-Naturwissenschaftlern verbreiteter sieht. Allerdings will ich mich an dieser Diskussion nur ungern beteiligen, weil fehlende Kompromissbereitschaft zunächst eine persönliche Komponente ist, und Herr Trepl die auf eine denkbar allgemeine Stufe hebt und an der Wissenschaftsdisziplin festmacht.
Um auf die Kompromissbereitschaft einzugehen, die Herr Trepl den Naturwissenschaftlern abspricht: Ich habe persönlich eher das Gefühl, dass es Leute, egal welcher Herkunft gibt, die dadurch “Kompromisse” erzielen, dass sie die eigene Kompromissunwilligkeit mit einer Rhetorik verdecken, die ihnen im Zweifel ermöglicht sich auf gar keinen Standpunkt festlegen zu müssen und so das Gesicht zu wahren. Nicht immer wird der innere Standpunkt dabei tatsächlich revidiert und das führt dann oft zu allerlei Animositäten und kalten Kriegen.
Zu [2]: Diese Frage verstehe ich nicht ganz.
@D.S. science = natural or formalScience
Wenn man im Internet liest “economy is not a science” so meinen die Zitatgeber damit: Ökonomie ist keine exakte Wissenschaft. Sie ist weder eine “natural science” noch eine “formal science”.
In der englischsprachigen Wikipedia wird folgende Unterscheidung gemacht:
natural science: Falsifiability , Validity, Accuracy, Repeatability
formal science: (formale Systeme) logic, mathematics, statistics, theoretical computer science, information theory, game theory, systems theory, decision theory, and portions of linguistics
social science: (Empirische Bestimmung der Beziehungen von Individuen und der Bildung von Gesellschaft) anthropology, economics, political science, psychology and sociology
humanities:: (study human culture) Sprachen, Literatur, Philosophie, Religion, Kunst, Kommunikation, Kultur, Recht, Linguistik
In diesem Artikel von Ludwig Trepl geht es ja um das Verhältnis zwischen den Wissenschaften und um die (vermeintliche?) Arroganz der MINT-Elite (MINT=Mathematik,Informatik,Naturwissenschaft, Technik) gegenüber den anderen Wissenschaften, also gegenüber denen Wissenschaften, die man im englischen Sprachraum zu den Kategorien social sciences und humanities zählt.
Diese Arroganz kenne ich sehr gut. Mein Mathematiklehrer – der die Mathematik immer als Lebensschule auffasste – verteilte uns sogar ein Büchlein, in dem ein Mathematiker seine Weltsicht darlegte und vor den “sogenannten” Wissenschaften warnte, denen die mathematische Grundlage fehlte und die darum nur Meinungen verbreiteten und kein gesichertes Wissen. Dieser Mathematiklehrer wollte uns aufs Leben vorbereiten und uns immer fragen lassen, wo das angebliche Wissen verankert sei. Neben der Mathematik und den Naturwissenschaften lies dieser Mathematiker sehr wenig gelten und er forderte uns auf immer den Masstab der Mathematik als Königin der Wissenschaften anzulegen.
Galileo Galilei Schmerzhafter Erkenntnis
gut, wieder etwas gelernt.
Es kommt also aufgrund von Fehlern in der Theroieformulierung oder im Experiment selbst zu kränkenden Erfahrungen und zu Enttäuschung
In der Regel – außer vielleicht Quantenphysik – ist doch aber die Person des Naturwissenschaftlers, seine Menschlichkeit/Psyche/Sozialisation/etc., kein Hindernis, oder?
Bleibt außerdem noch das Spiegelkabinett.
Martin Holzherr zu Ökonomie
Sie flechten diverse Diskussionsstränge ineinander:
1. ist Ökonomie eine Wissenschaft?
was ist Wissenschaft und was ist Ökonomie – dieses Fass will ich unangetastet lassen.
2. verstehen Ökonomen mehr von Ökonomie als Nicht-Ökonomen?
So wie ein Metzger mehr von Würsten versteht als ein Schreiner. Im Regelfall doch hoffentlich schon, auch wenn es schlechte Metzger und Gourmet & Hobbykoch-Schreiner gibt.
3. ist Einigkeit für den Status einer Disziplin ein Zeichen von Qualität oder ein Mangel?
Wissenschaft ist organisierter Streit um Erkenntnis und Wahrheit wie Demokratie organisierter Streit um die beste / am wenigsten schlechte Politik ist.
Banalitäten sind auch in der Ökonomie unstrittig. Die Interpretation ihrer Bedeutung ist es jedoch nicht.
4. ist die Fähigkeit einer Disziplin zur zutreffenden Prognose relevant?
Jedenfalls sind Wissenschaften denkbar, die ohne Prognose sehr gut auskommen (Geschichte, Philosophie, Literaturwissenschaften, usw.).
Problematisch wird es nur, wenn Vertreter einer Disziplin für Disziplinfremde den Eindruck erwecken, es gäbe Prognosekraft und dann scheitern.
Scheitern ist notwendiger Bestandteil von Wissenschaft, vielleicht lernen diese Ökonomen ja daraus.
Oder um es mit Karl Popper zu sagen:
Aus einer endlichen Menge von Daten (aus der Vergangenheit) ist der Schluss auf eine potenziell unendliche Menge von Möglichkeiten (in der Zukunft) unzulässig.
Andererseits sind auch irgendwie alle, die auf solche Prognosen hereingefallen sind auch gut an ihrer (Selbst-)Täuschung beteiligt gewesen. Sollte man doch meinen, dass sich die Erkenntnis seit dem Mittelalter herumgesprochen hat, das Wahrsagerei, auch wissenschaftlich verbrämt als Astrologie usw., nichts taugt.
Der Betrüger, der den Betrug ausführt braucht findet immer jemanden, der das Spiel mitspielt.
Schmerzhafter Erkenntnisprozess
@D.S
“Wer Geistes- und Sozialwissenschaften praktiziert, kommt um das Schmerzhafte von Erkenntnisprozessen inmitten eines Spiegelkabinetts nicht drumherum. Beides scheint mir in Naturwissenschaften nicht vorzukommen […]”
Oh doch, das kommt in den Naturwissenschaften natürlich auch vor. Die Möglichkeit mathematische Theorien aufzustellen ermöglicht zwar prinzipiell recht früh, Fehler zu erkennen, aber es ist nicht so, dass alles in den Naturwissenschaften berechenbar wäre, weil viele Zusammenhänge viel zu komplex sind.
In Experimenten zeigt sich dann oft, dass eine Hypothese nicht haltbar ist, manchmal erst nachdem man ein Experiment Jahre vorbereitet hat. Oft zeigt sich auch – und damit ist oft eine tiefe Kränkung verbunden – das man am eigenen Intellekt gescheitert ist und sich in eine Theorie ein Fehler eingeschlichen hat.
Ich würde sogar behaupten in Disziplinen in denen Exaktheit keine derart große Rolle spielt, entziehen sich viele dieser schmerzhaften Kränkung dadurch, dass sie sich einer bestimmten Schule zuwenden. Diesen “Schutz”, wenn man es so nennen will, genießen Physiker und Mathematiker üblicherweise nicht.
Geisteswissenschaften fehlt oftDieBasis
Der Ökonom Maynard Keynes soll sich herablassend über die Ökonomie geäussert haben, insbesondere über diejenige der Kollegen, aber sogar über die eigene ökonomische Meinung ironisierte er nicht selten.
Auch heute fehlt der Ökonomie noch die Basis und Naturwissenschaftlern fällt es leicht, das zu erkennen (economy is not a science und hier). In der Physik steht die Basis. Die Physiker sind sich also einig wie man Grundgrössen wie Masse, Länge, Kraft, Zeitunterschiede, Ströme, Spannunngen und vieles mehr misst und wie man die gemessene Werte dieser Grundgrössen dann in physikalischen Gesetzen miteinander verknüpft. Auch gibt es schon einen Satz von physikalischen Theorien, die man nicht mehr grundsätzlich in Frage stellen muss und auf die man aufbauen kann.
In der Ökonomie dagegen sind sich die Ökonomen bis heute nicht einig, welche wirtschaftlichen Grössen überhaupt berücksichtigt werden müsse. So gibt es Ökonomen, bei denen die Finanzwirtschaft nur als Intermediär vorkommt und und die der Finanzwirtschaft somit keine eigenständige wirtschaftliche Rolle zumessen, während sie bei anderen Theorien eine Rolle spielt. Es gibt keine ökonomischen Theorien, die allgemein anerkannt sind, nur gerade Theorien, die gerade in vogue sind .
Die Ökonomie ist für diese Diskussion besonders interessant, weil in dieser nichtnaturwissenschaftlichen Disziplin schon sehr früh mathematische Formeln verwendet wurden. Damit könnte die Aussage (Zitat von oben)“manche meinen sogar, ein Buch, das keine Formeln enthält, könne kein wissenschaftliches sein…” zwar stimmen, aber gerade die Ökonomie als Wissenschaft zeigt, dass Formeln noch nicht genügen um aus Spekulation Wissenschaft zu machen. In der Wikipedia liest man zum Stichwort Ökonomie als ersten Satz: “Economics is the social science that analyzes the production, distribution, and consumption of goods and services.”
Wenn ein Naturwissenschaftler “social science” liest, weiss er meist, was er darüber zu denken hat.
Interessant finde ich, dass die Kritik an der Ökonomie sogar Eingang in die Wikipedia gefunden hat. Dort liest man im Kapitel Criticisms
“The dismal science” is a derogatory alternative name for economics devised by the Victorian historian Thomas Carlyle in the 19th century. It is often stated that Carlyle gave economics the nickname “the dismal science” as a response to the late 18th century writings of The Reverend Thomas Robert Malthus, who grimly predicted that starvation would result, as projected population growth exceeded the rate of increase in the food supply. However, the actual phrase was coined by Carlyle in the context of a debate with John Stuart Mill on slavery, in which Carlyle argued for slavery, while Mill opposed it”
Am Schluss dieses Kapitels wird dann noch auf die fehlende Prognosekraft dieser Wissenschaft eingegangen. Eine Wissenschaft, die nichts prognostizieren kann, wird von den Naturwissenschaftlern meist nicht ernst genommen, denn wenn sie nichts voraussagen kann, versteht sie nichts.
“During the 2007–2012 global financial crisis, an increasing number of teachers argued that the specialized economics textbooks, some written by experts who did not see the crisis coming, were almost useless because their elaborated content was divorced from reality.[143]
A 2002 International Monetary Fund study looked at “consensus forecasts” (the forecasts of large groups of economists) that were made in advance of 60 different national recessions in the 1990s: in 97% of the cases the economists did not predict the contraction a year in advance. On those rare occasions when economists did successfully predict recessions, they significantly underestimated their severity”
Hat jemand Ideen?
Als Soziologe fällt mir folgender fundamentale Unterschied des Forschungsgegenstandes zwischen Naturwissenschaften und Sozialwissenschaften auf:
Die Natur lügt nicht, sie betrügt nicht, sie versteckt noch nichteinmal absichtlich ihre Gesetzmässigkeiten und Phänomene.
Befasst man sich mit Gesellschaften, Gruppen und Menschen im Allgemeinen, gibts immer diverse Ebenen relevanter Echtheit: Wie will ich gesehen werden und wie werde ich von anderen gesehen? Wie “sehe”/denke/wünsche ich mich und wie bin ich? Diese vier Fragen beinhalten schon mal drei unterschiedliche Wahrnehmungen von Realität und eine Realität, die aber mehr oder minder durch die 3 Wahrnehmungen verzerrt wird.
–
Dimensionen von Zeit, Entwicklung, unterschiedliche Lebensphasen, unterschiedliche Settings, Informationsmanipulation (bewusst, kulturabhängig, unbewusst, usw.), Wahrnehmungsmanipulation (bewusst, kulturabhängig, unbewusst, usw.) sind alle noch nicht drin.
Aus geht es nur um das eigene Ich. Bei einem Forschungsgegenstand wie andere, ist mindestens eine Dopplung/Spiegelung des Genannten drin, bei einem Wir schnell mal deutlich mehr.
Geschichtswissenschaften arbeiten damit, dass Geschichte von Siegern geschrieben wird, Quellenkritik ist nicht nur mühsam, zeitintensiv und anstrengend, es ist auch das täglich Brot. Ebenso das Loslassen der eigenen Phantasiegebilde und Träume, wie es wohl gewesen ist, wenn es die Quellen nicht hergeben…
Wer Geistes- und Sozialwissenschaften praktiziert, kommt um das Schmerzhafte von Erkenntnisprozessen inmitten eines Spiegelkabinetts nicht drumherum.
Beides scheint mir in Naturwissenschaften nicht vorzukommen, weder die Wahrheitsspiegelungen, noch die Erkenntnisschmerzen, aber ich mag mich täuschen, denn ich habe von naturwissenschaftlichen Fachkulturen keine belastbare Kenntnis – sprich, ich habs nicht mitgemacht, noch nichteinmal als Beobachter.
Herr Trepel
“Daß man also z. B. kaum mitbekommt, daß es auch eine andere Art von Exaktheit gibt – jene, die man etwa der Sprache der Juristen nachrühmt, eine Präzision des Begriffsgebrauchs, die man in den Naturwissenschaften nicht annähernd kennt”
Naturwissenschaftler kennen den Unterschied zwischen Syntax und Semantik und würden daher vermutlich nicht von der Exaktheit juristischer Sprache sprechen. Semantik weist Begriffen eine Bedeutung zu und wenn Anwälte bei unklarer Faktenlage vor Gericht streiten, dann versuchen sie in der Regel insbesondere die Deutungshoheit über juristische Begriffe zu gewinnen und nutzen den Umstand, dass Begriffe eben nicht exakt sind. Den gleichen Umstand nutzen viele Scharlatane in anderen Disziplinen.
Daher sind insbesondere die Naturwissenschaftler bemüht mathematische “Exaktheit” einerseits aber auch experimentellen Nachweis andererseits zu fordern.
Ich würde behaupten, der Umstand, dass Sie von der Exaktheit der juristischen Sprache sprechen entspricht auch mehr einer persönlichen Empfindung als einer wissenschaftlich haltbaren Tatsache.
Das ist dann auch der Kern der Kritik, die von Naturwissenschaftlern an Forschern anderer Disziplinen häufig geübt wird: dass sie Wissenschaftlichkeit vorgaukeln aber häufig schlicht Glaubenssätze oder persönliche Empfindungen propagieren und die Größe der Anhängerschaft oder der Ruf des universitären Arbeitgebers eine nicht unwesentliche Rolle dabei spielt welcher Glaubenssatz gewinnt.
Die Forderung nach Exaktheit in den Naturwissenschaften beruht nicht zuletzt darauf, dass Jahrhunderte lang Prediger die Leute für dumm verkauften und Wissenschaftler als Schänder der Religion gehängt oder verbrannt wurden. Die Erde ist eben nicht das Zentrum des Universums und auch keine Scheibe.
Wie oft sind in Zeitungen unsinnige “wissenschaftliche Erkenntnise” zu lesen in der Art: “wer mehr Sex hat, lebt länger”. Solche Aussagen halten der Prüfung im Einzelfall nicht stand sind damit also tatsächlich unwissenschaftlich und pure Volksverdummung.
Naturwissenschaftler und Mathematiker wissen dagegen, dass irgendwelche Korrelationen noch lange nicht kausale Zusammenhänge offenbaren, sodass Aussagen wie die obige als “wissenschaftlich erwiesen” gelten könnten.
Was naturwissenschaftler typischerweise anerkennen ist, dass es Dinge gibt, die mit naturwissenschaftlichen Methoden nicht erklärbar sind. Was sie dann aber üblicherweise – in meinen Augen zurecht – fordern ist, dass es sich bei derlei Dingen um Deutungen, Meinungen oder eben um Hypthesen handelt und nicht um wissenschaftlich belegbare Wahrheiten.
Beweise für Hypothesen, sind die Grundlage der Naturwissenschaft und das ermöglicht Naturwissenschaftlern auch falsche Hypothesen als solche zu erkennen und mithin zu Einsicht und Erkenntnis zu gelangen, also zu wissenschaftlichem Fortschritt, egal wie groß die Anhängerschaft ist.
Dagegen sind unterschiedliche “Schulen” in den anderen Wissenschaften nur der Beleg dafür, dass das, was sie den Naturwissenschaftlern mit ihrem Artikel vorwerfen, nämlich, dass keiner auf seine Meinung verzichten will, in den anderen Wissenschaften praktisch fest verankert ist und sich jeder der einen oder anderen Schule anschließen kann, die ihm eben passt.
Was Naturwissenschaftler in der Regel schlicht fordern ist etwas mehr Ehrlichkeit in Bezug auf Deutung und Wahrheit.
Zum Schluss bleibt mir eigentlich nur zu sagen, dass ich einige Ihrer Aussagen im Artikel als sehr verächtlich empfinde, was ich mir psychologisch nur so erklären kann, dass sie die Argumentation der Naturwissenschaftler als Kränkung und Herabstufung empfinden. Das ist eine Meinung meinerseits und ich würde nie soweit gehen dies als wissenschaftliche Wahrheit zu bezeichnen.