Muß man Wildnis wirklich erleben?

BLOG: Landschaft & Oekologie

Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
Landschaft & Oekologie

Ich hatte in „Wilde Träume I“ geschrieben: „Mir reicht der Gedanke, daß es dort Bären gibt, ich muß ihnen nicht begegnen. Ich bin wie die Romantiker und finde es bedauerlich, daß in der entzauberten Welt Drachen nicht mehr leibhaftig herumlaufen. Aber ich möchte ihnen nicht begegnen.“

Ein Kommentator namens Schorsch hat nachgefragt:

„Wenn man die Wildnis nie erlebt hat, wie kann man dann wissen, was sie für den Menschen bedeutet? Also konkret: Wenn man nie einem Drachen begegnet ist, kann man dann wissen, was die Begegnung einem Menschen bedeutet? Ich möchte auch keinem Drachen begegnen, aber ich könnte mir vorstellen, dass einen die Begegnung fürs Leben prägt und dass man dann möglicherweise auch anders über Drachen und dergleichen nachdenkt. Oder geht das aus erkenntnistheoretischen Gründen nicht?“

Zunächst einmal muß ich bekennen: Ganz stimmt es nicht, was ich da geschrieben habe; ich habe schon einmal versucht, Bären zu begegnen, aber alles, was ich gefunden habe, waren Schilder, auf denen stand, was man tun soll, wenn man einem begegnet (ganz langsam rückwärts gehen). Doch im großen und ganzen ist es schon so, daß mir die Vorstellung genügt, und ich glaube nicht, daß das bei den anderen Menschen unserer Kultur wesentlich anders ist. Sicher, wenn es der Kontostand erlaubt, schaut man sich bei einer Afrikareise schon mal gern einen Löwen an. Aber gegen die Ausrottung ist man nicht, weil man selbst einen sehen will. Niemand hofft ernsthaft, jemals einen Sibirischen Tiger in freier Wildbahn zu Gesicht zu bekommen. Aber er will, daß es diese Tiere gibt, und zwar nicht nur im Zoo. Es ist paradox: Die verzauberte Welt, nach der wir uns sehnen, ist in unserem Kopf. Aber dort funktioniert sie zumindest in mancher Hinsicht nicht so recht, wenn sie nicht zugleich irgendwo real ist. Daß es keine Drachen gab, daß sie nur im Kopf der Bewohner der verzauberten Welt der Vergangenheit existierten, wußten die Romantiker auch. Aber bei den Tieren ist es nicht ganz so. Zur Wiederverzauberung des Waldes scheint es doch zu gehören, daß es in ihm wirklich Wölfe und Bären und Luchse gibt, selbst wenn man sie nie zu Gesicht bekommt: Der Wald in Kopf und Seele wird erst durch ihre wirkliche Existenz zu dem, was er sein sollte.

Aber was ist die „wirkliche Existenz“? Es sind gewiß nicht die Tiere, wie sie objektiv sind – wie sie die Biologie beschreiben kann (in einem gewissen Sinne kann man das ja objektiv nennen). Der Wolf ist ein gefährliches Raubtier. Wenn die Wildbiologen herausfinden, daß er in Wirklichkeit gar nicht gefährlich ist, daß noch nie ein gesunder Mensch von einem Wolf getötet wurde (ich weiß, so sicher ist das nicht, man streitet über diese Behauptung der Wolfsfreunde unter den Biologen, aber das ist hier egal), dann ist das nicht die Wirklichkeit des Wolfes der Wildnis, des wilden Tieres (Elitzer et al. 2005) Wolf. Wer die Wiederkehr des Wolfes als Wiederkehr der Wildnis begrüßt, sollte sich freuen darüber, daß die Wölfe in der Lausitz zwar keine Schäfer, aber immerhin Schafherden gerissen haben und doch nicht so harmlos sind, wie uns die Naturschützer immer einreden wollen.

Wildnis ist eben kategorial etwas anderes als Natur. Natur hat sehr verschiedene Bedeutungen, aber eine davon ist jedenfalls, daß man sich darunter etwas denkt, was davon unabhängig ist, wie wir es sehen, denken oder empfinden. Natur gab es auch, als es keine Menschen gab, d. h. als niemand diese Natur wahrnehmen und erleben konnte. Als Natur (in diesem Sinn) ist der Wolf wie er ist – wie ihn die Biologen zu beschreiben versuchen. Als Natur in diesem Sinne ist er für jemanden, der an Rotkäppchen glaubt, nichts anderes als für jemanden, der weiß, daß Märchen Märchen sind, nur daß der eine im Unrecht ist. Wildnis aber existiert nur als Gegenwelt zur Kultur. Sie ist ein Ort der Projektionen, und wenn eine Kultur anderes projiziert als eine andere, dann ist auch die Wildnis eine andere, selbst wenn die Natur am Ort dieser Projektionen genau gleich sein sollte. Und doch ist die Wildnis nicht einfach ein Phantasiegebilde. Es ist wesentlich für die echte Wildnis, daß die physische Natur dort wirklich ist. Man kann von rein phantasierten Wildnissen träumen, aber auch von untergegangenen und schließlich von noch existierenden; alle drei existieren in unserem Kopf. Aber es ist doch etwas ganz anderes, wenn das, was wir träumen, auch in der Wirklichkeit, und zwar jetzt, physisch existiert.

Was heißt das nun für die Frage: „Wenn man die Wildnis nie erlebt hat, wie kann man dann wissen, was sie für den Menschen bedeutet?“ Zunächst einmal: bedeutet sie etwas für „den“ Menschen? Ich vermute, sie bedeutet nur das ganz Abstrakte, daß sie eben Gegenwelt zur „Kultur“ ist, zu der Welt, die der Mensch sich eingerichtet hat. Wenn Autoren wie George Bataille, Hans-Peter Duerr oder Mircea Eliade nicht ganz irren, dann wird man wohl sagen müssen, daß die Menschen schlechthin, kulturunabhängig eine Welt außerhalb des „geweihten Kosmos“ (Eliade), außerhalb der geordneten Welt der Arbeit (Bataille) kannten und kennen mußten. Wildnis ist eine Gegend, die als Gegenwelt zur moralisch (als gut oder böse/schlecht) beurteilten kulturellen Ordnung angesehen wird (Kirchhoff & Trepl 2009). Aber sie kennen diese Gegenwelt sicher nicht als biologische Wesen, sondern als Wesen, die „Kultur“ haben, die sich der Natur gegenübersehen, die ihr einen “geweihten” Bereich abgewinnen, in der die Ordnung der Menschen gilt, und das dürfte im wesentlichen erst seit der sogenannten neolithischen Revolution der Fall sein. Weil es aber sehr viele verschiedene kulturelle Ordnungen gibt, sehen auch die Gegenwelten sehr verschieden aus und für Menschen verschiedener Kulturen bedeutet Wildnis sehr verschiedenes. Das gilt nicht nur zwischen den verschiedenen Kulturen, sondern auch innerhalb einer Kultur. Ein Kind, das politisch korrekt aufgezogen wurde und nie davon gehört hat, daß Wölfe Großmütter und kleine Mädchen fressen, wird bestimmte typisch deutsche Gefühle von Waldwildnis kaum haben können.

Man wird wohl auf jene Frage antworten müssen: Wenn man Wildnis nie erlebt hat, kann man nicht wissen, was sie für einen selber dann bedeutet, wenn man sie erlebt – über das hinaus, was sie einem bisher als nur vorgestellte schon bedeutet hat. Was sie aber für „den Menschen“ bedeutet – oder an Verschiedenem für verschiedene Gruppen von Menschen –, dazu braucht es das eigene Erleben nicht. Und ob verglichen mit der vorgestellten Wildnis die wirklich erlebte nicht ohnehin enttäuschend wäre, darf man wohl bezweifeln

 

Literatur

Elitzer, Birgit, Anne Ruff, Ludwig Trepl und Vera Vicenzotti, Vera (2005): Was sind wilde Tiere? In: Berichte der ANL, Heft 29, 51-60

Kirchhoff, Thomas und Trepl, Ludwig (2009): Landschaft, Wildnis, Ökosystem: zur kulturell bedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen. Einleitender Überblick, in: Dies. (Hg.) Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, Bielefeld: Transcript, S. 13-66.  

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

4 Kommentare

  1. Das es keine Drachen gab, kann man vielleicht mal schnell so dahinsagen und sich auf die Unwahrscheinlichkeit berufen – und auf die mythischen Erzählungen, die so ja nie stattfinden konnten und Unmöglich sind.

    Der Drache ist eh nur ein Tier aus vielen sonderbaren und naiven Erzählungen. Eines aber macht mich nachdenklich: Wie konnten sich Menschen solche Fabeln ausdenken? Doch wohl nur aus den Begegnungen mit Tieren, die dem Menschen in ihrer Umgebung überlegen sind und ihm auch gefährdeten – vermischt vielleicht mit frühen Funden fossiler versteinerungen von besonders großen Tieren (etwa Dinosaurier) – großen Knochen und solche Funde. Daraus kann man mit ein wenig fantasie die irrsinnigsten Geschichten stricken; wozu der Mensch ja ein Talent hat – manchmal.

    Ansonsten ist “Wildnis” und die unberührte Natur mit ihren vielfältigen Gefahren für den modernen Menschen heute eher eine naive Sehnsucht… eine Reaktion aus empfundenem Mangel an seinem modernen Leben heute. Wir haben hier in Mitteleuropa eine absolute Sicherheit aufgrund des völligen fehlens von gefährlichen Raubtieren. Der Wunsch nach Diversität und Vielfallt in der Natur eben auch nur eine Folge von Mangel in der selben heute. Die Forderung nach Artenschutz ist vielleicht ideologisch gerechtfertigt – aber in der Realität möchte niemand ernsthaft einem wilden Tier, welches eine direkte Gefahr für den Menschen bedeutet (wie etwa Löwen, Bären und viele weitere auch ausgestorbene Raubtiere) vor seinem Haus begegnen. Hier in Mitteleuropa sind die meisten schon ausgestorben und die in der Welt noch lebenden Raubtiere meist in dünn besiedelten (bisweilen auch die dort lebenden Menschen nicht einer Zivilisation gleichgesetzt und somit abgewertet) Gebieten und weit weg von uns hier … ja die sollen unbedingt geschützt werden. Das es aber eine Einschränkung bedeutet für die Menschen, die mit diesen Tieren die Natur teilen müssen, bedenkt aufgrund des Fehlens dieser Situation hier in Mitteleuropa und der überhaupt geringen Wahrscheinlichkeit der Begegnung mit wilden Tieren … hierzulande keiner.

    Der mutmaßlich moderne (westliche, zivilisierte) Mensch kann zudem auch nicht mit solchen Begegnungen umgehen, ist nicht vorbereitet auf solche Situationen und ist somit umso mehr in Gefahr zu Schaden zukommen.
    Auch würde er es kaum akzeptieren wollen, das er durch gefährliche wilde Raubtiere in seiner Bewegungfreiheit eingeschränkt ist und deswegen wiederum dafür sorgen, dass die Gefahr abgestellt werden wird.

  2. Truppenübungsplätze

    Truppenübungsplätze haben eine extrem hohe ökologische Qualität. Jedenfalls in den Teilen , in denen die menschlichen Eingriffe eine geringe Frequenz bei hoher Intensität haben. Dazu zählen etwa Panzerspuren auf feuchten Böden. Weil dort ein kleinräumiges Mosaik aus sehr vielen Standorten auftritt. Die ökologische Vielfalt solcher Gebiete ist höher als großflächige, völlig unberührte Wildnis, einfach wegen der größeren Vielfalt.

    Vielleicht muss man Wildnis eher vom Prozess her sehen. Dort wo natürliche Prozesse, etwa aus der Störungsökologie, ohne weitere menschliche Eingriffe ablaufen können, entsteht Wildnis oder etwas sehr Ähnliches?

  3. @ Marc B

    „Und diese Erfahrung kann man nicht nur in … garantiert von Menschen unberührter Natur machen, sondern eben auch auf einem Wanderweg und sogar an einigen Orten Deutschlands.“

    Vielleicht sogar gerade da. Ich habe in einem früheren Beitrag von meinem Eindruck auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz geschrieben: das war Wildnis. Auch die Wildnis der „Zwischenstadt“, das Chaos in manchen Ecken an der Peripherie der Städte kann ähnliche Erlebnisse vermitteln.

    Allerdings dürften sie doch nur ähnlich sein, denn da hat man es mit „Verwilderung“ zu tun, und das ist nicht identisch „Wildnis“.

    Interessant ist, was das für die These besagt, die Sie aufgestellt haben: „Wildnis ist eben nicht nur Projektion und Gegenwelt, sondern Wildnis kann auch eine Erfahrung sein.“ Man sollte ja zunächst denken: Wildnis ist nichts als Projektion; man kann die entsprechenden Gefühle/Vorstellungen auf alles mögliche projizieren, selbst in der Stadt, es braucht die unberührte Natur nicht. Wenn Wildnis auch Erlebnis ist, so erlebt man doch nur seine eigenen Projektionen.

    Überwiegend wird das auch stimmen. Wer einen Wolf, durch allerlei Mythen bedingt, die es in seiner Kultur gibt, für ein entsetzliches Monstrum hält, der hat bei einer Begegnung zweifellos ein eindrückliches Erlebnis, anders als ein typischer heutiger Naturschützer, dem man beigebracht hat, daß er ganz harmlos ist. Aber wenn man, wie Sie, einem Bären auf vier Meter gegenübersteht, ist das sicher etwas ganz anderes (selbst bei mir, denn ich hätte mich gar nicht hätte zurückziehen müssen: mein Gesang hätte gereicht, um ihn in die Flucht zu schlagen).

    Vermutlich ist es ja so: Das Bedrohliche, das der Wildnis eigen ist, war ursprünglich ganz real, war Erlebnis ganz ohne Zutaten von Projektion. Aber schon sehr früh muß es sich mit Projektionen verbunden haben, denn spätestens seit der Jungsteinzeit hatten die meisten Menschen kaum mehr reale Erlebnisse mit der Wildnis, nicht nur die Kobolde und Dämonen, sondern auch die Bären und Wölfe sind ihnen nicht leibhaftig begegnet, sondern nur in Form von Geschichten, und diese Geschichten haben (und dies schon lange vorher) das reale Erlebnis auch derer entscheidend bestimmt, die, wie die Jäger, noch wirklich in die Wildnis gekommen sind.

  4. Picknick mit Bären

    Ich bin Bären begegnet.* Mal in einer Entfernung, wo man sich gegenseitig mit ausreichendem Abstand bemerken konnte. Wir haben uns dann gegenseitig nicht stören lassen, ich habe mich auf einen Baumstamm gesetzt und ihn beobachtet und fotografiert, er hat weiter in der großen offenen Feuchtwiese nach Essbarem gesucht und sich dann irgendwann getrollt.

    Mal für meinen Geschmack deutlich zu nah: Auf einem Wanderweg, in der Abenddämmerung bricht neben mir aus dem Gebüsch ein Bärenjunges und die Mutter und noch ein kleiner hinterher. Abstand selbst mit Schreckbonus vielleicht vier oder fünf Meter. Ich habe mich an die Schilder gehalten und mich erst langsam, dann schneller zurückgezogen und dabei irgendetwas gesungen, was mir gerade einfiel. Von diesen Bären habe ich nicht mal Fotos …

    Außerdem noch ein paar weitere Beobachtungen aus größerer Entfernung.

    Und ja, der Zugang zur Natur ist ein anderer, wenn man Wildnis erfahren hat. Verschiedene Landschaftsformen, Hochgebirge, Mittelgebirge, Wüste, großflächige Wälder, Steppen und Savannenlandschaften. Natürliche Flusstäler und Küsten.

    @Ludwig Trepl: Wildnis existiert nur als Gegenwelt zur Kultur – da möchte auch nach Lektüre einiger Ihrer Werke widersprechen. Wildnis ist eben nicht nur Projektion und Gegenwelt, sondern Wildnis kann auch eine Erfahrung sein. Und diese Erfahrung kann man nicht nur in 100%iger, garantiert von Menschen unberührter Natur machen, sondern eben auch auf einem Wanderweg und sogar an einigen Orten Deutschlands, obwohl dort bereits menschliche Eingriffe stattgefunden haben.

    *Alle Begegnungen in Nordamerika. Der erstgenannte in Kalifornien, die zweitgenannte Begegnung in Alberta, Kanada