Kulturlandschaft oder radikale Trennung von Zivilisation und Wildnis? Eine Erwiderung auf „Wilde Träume“.

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Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
Landschaft & Oekologie

Vor einigen Wochen schrieb ich einen Blog-Beitrag mit dem Titel „Wilde Träume“ (Teil I und Teil II) über einen Aufsatz von Jürgen Gerdes, in dessen Kern die Forderung steht: Nicht Naturgebiete werden, wie es jetzt übliche Praxis ist, als Inseln in der Zivilisationslandschaft erhalten, sondern es soll umgekehrt sein, die besiedelten Gebiete sind die Inseln. Hier antwortet der Autor auf meine Kritik:

 

Gastbeitrag von Jürgen Gerdes:

Wilde Träume?

Es ist sehr dankenswert, dass Ludwig Trepl mich in seinem Aufsatz „Wilde Träume Teil I“ gegenüber den Ottschen Vorwürfen der „Politikferne“ und der „totalitären Konsequenzen“ meiner „Vision“ in Schutz genommen hat. Das scharfsinnige und einleuchtende Argument, das er vorbringt, wäre mir als Gegenrede nicht so ohne weiteres eingefallen: dass nämlich die Grundstruktur einer jeden Weltanschauung, hinreichend ausgebreitet und mit Macht durchgesetzt, ins Totalitäre gewendet werden kann. Konrad Ott hat in GAIA 19/2 (2010) eine angriffslustige Replik auf meinen Essay „Betreten verboten!“ geschrieben („Verwilderte Visionen“), und die Redaktion hat mir im gleichen Heft die Möglichkeit eingeräumt, darauf zu antworten („Niemand hat einen Zauberstab“). Ich habe darin versucht, die Kritik Otts zu entkräften, und einiges, was ich dort geantwortet habe, trifft auch die Einwände Ludwig Trepls. Daher wäre es für den interessierten Leser sicherlich hilfreich, die beiden kurzen Aufsätze zu lesen, um manche der nachfolgenden Anmerkungen besser nachvollziehen zu können.

Dass man in einem Essay nicht alle Aspekte eines (nicht ganz neuen, worauf Martin Holzherr zu recht hinweist) segregativen Naturschutzkonzeptes ausführen kann, ist wohl selbstverständlich. Das liegt im Wesen dieses Genres. Ein solcher Aufsatz kann nur Diskussionsstoff liefern und die Debatte anregen. Was er getan hat! Leider bringt Konrad Ott selbst keine Vorschläge ein, wie sich seiner Meinung nach das nach wie vor grassierende Artensterben stoppen ließe. Er begnügt sich damit, sich an meiner Vision abzuarbeiten, das aber mit einer erstaunlichen Heftigkeit und Entrüstung. Nein, nicht ganz – einen Vorschlag macht er im Rahmen der sogenannten Vilmer Thesen: 3-5% der „terrestrischen Landfläche“ sollten als Wildnisschutzgebiete ausgewiesen werden. Damit liegt er immerhin über dem Ziel der Biodiversitätsstrategie der Bundesregierung (2007), die bis 2020 nur 2% Wildnis gesichert haben will (die sind mit den bestehenden Nationalparks schon erreicht: 2,7%).

Die Konzentration der Weltbevölkerung in Metropolregionen findet bereits statt, völlig unabhängig von naturschützerischen Motiven – aus sozialen, demographischen, technologischen, ökonomischen Gründen. Ich plädiere im wesentlichen dafür, diesen Prozess der Kontraktion auch aus ökologischen Gründen gutzuheißen und ihn zu unterstützen. Dazu gehört freilich ein Umdenken hinsichtlich der Raumordnung, die meines Erachtens noch viel zu stark von einer uneinholbaren Vergangenheit dominiert wird (Kulturlandschaft bis 1950). Ich betrauere deren Verlust traditioneller Landwirtschaft in gewisser Weise ebenso wie Ludwig Trepl, etwa so, wie man einen geliebten Toten betrauert. Denn ich bin als Sohn einer kinderreichen Arbeiterfamilie draußen in der Muschelkalk-Heckenlandschaft des Obermainischen Hügellandes aufgewachsen. Aber tot ist eben tot, und kann nicht wieder zum Leben erweckt werden mit noch so viel Liebe. Mir ist es nicht gelungen, meine gerade erst erwachsen gewordenen Kinder für ein solches „Naturerfahrungsgelände“ zu begeistern, und ich sehe an der Bildungsarbeit der Verbände, in denen ich engagiert bin, dass das für die gesamte Generation gilt. Die Urbanisierung und Virtualisierung des Lebens ist nicht mehr aufzuhalten. Ich habe mich schweren Herzens damit abgefunden, und so bin ich vom “klassischen Naturschützer”, der sich dafür einsetzt, ein paar Hektar große Naturschutzgebiete auszuweisen und die Grenzertragsflächen durch Imitationspflege zu erhalten, zum Befürworter eines segregativen Naturschutzes geworden: einer klaren räumlichen Trennung von Mensch und Natur – die Aufgabe jeglicher Imitationspflege bei gleichzeitiger Einrichtung von möglichst großen Nationalparks.

In Ansätzen findet das bereits statt oder ist zumindest vorbereitet: durch die Biodiversitätsstrategie der Bundesregierung, die IUCN-Richtlinien, durch bestehende große Nationalparks in dünnbesiedelten Ländern, die Festlegung von Mindestflächen für Wildnis in der Verfassung mancher Staaten. Diese Ansätze würde ich gern weiterentwickelt und ausgedehnt sehen. Warum etwa sollte man in Deutschland, um einen neuen Nationalpark einzurichten, nicht einmal ein Raumordnungsverfahren durchführen? Warum sollte die Bundesrepublik militärische Konversionsflächen, die derzeit in großer Zahl frei werden (sie gehören in der Regel dem Bund), nicht gänzlich der Natur überlassen, da man sich in der Biodiversitätsstrategie (2007) zu einer deutlichen Mehrung von Waldwildnis bekannt hat (mit ausdrücklicher Erwähnung ehemaliger Truppenübungsplätze)? Da die bisherigen Naturschutzstrategien den Artenschwund nur verlangsamen, aber nicht aufhalten konnten, sollte man es wagen dürfen, „out of the box“ zu denken. Es ist nicht neu und es ist nicht so fern liegend, wie Ott es darstellt, über die Raumordnung und Siedlungspolitik Natur und Kultur zu segregieren, nicht von heute auf morgen und nur ausnahmsweise mit Zwang. Meiner Meinung nach arbeitet der Naturschutz sich derzeit an einem aussichtslosen Konservatismus ab (zu dem eine alternde Gesellschaft immer stärker neigt) und am Festhalten an überkommenen Naturschutzstrategien. Wenn die Schutzgebiete nur groß genug sind, braucht man nicht mehr zu pflegen (Mosaik-Zyklus-Theorie von Remmert und Scherzinger). Der Erhalt möglichst vieler Arten ist zwar wünschenswert, rechtfertigt aber m.E. nicht diesen ungeheuren und mit Natura 2000 weiter wachsenden Aufwand an Energie und Eingriffen seitens des Naturschutzes, der für die Imitationspflege betrieben wird bzw. werden soll.

Ludwig Trepl nimmt meine „Vision“ zwar freundlicher auf als Konrad Ott, aber seine scharfsinnige Analyse mündet leider ebenfalls nicht in eine eigene Utopie, Vision, Strategie, zumindest nicht in eine, die nicht nur ein Traum, sondern Realität werden könnte. Seine „Inselutopie“ (er sagt, er mag Utopien) ist nur ein Gedankenspiel, eine subjektive Angelegenheit ohne politischen Anspruch. Da gibt es sich selbst überlassene Natur und Bären, und da gibt es menschliche Besucher, insoweit sie sich nicht abschrecken lassen durch die wuchernde Wildnis und die Wegelosigkeit. Trepl gibt das auch zu: er sei romantisch, ich aber sei Politiker. Das liegt vielleicht daran, dass er an einer Universität gearbeitet hat, ich aber seit 25 Jahren in der Naturschutzpraxis tätig bin und viel mit Politik zu tun habe (hauptsächlich kommunaler). Nein, meine „Vision“ ist tatsächlich kein subjektiver Traum, sie ist Unter- und Hintergrund meiner Arbeit. Das hat Trepl hundertprozentig verstanden.

 Nicht verstanden hat er meine Ironie (womöglich habe ich sie nicht deutlich genug ausgedrückt), als ich schrieb, dass „diejenigen, die heute leidenschaftlich für mehr Wildnis eintreten, ihr und dem Leben in ihr nahe sein dürfen.“ Ich habe genug Tagungen mitgemacht, um zu erkennen, dass wir mit Wildnis über etwas reden, das die meisten nicht kennen und eigentlich im Vorgarten auch nicht wollen, vermutlich nicht einmal in Siedlungsnähe. Das heißt aber nicht, dass ich behauptet hätte, früher hätten die Leute Wildnis geliebt und gesucht. Natürlich ist mir bewusst, dass die Selbsterhaltung menschlicher Populationen immer auch ein Ringen mit der Wildnis war, verbunden mit mühsamer, anstrengender Urbarmachung. Heute jedoch sind wir durch die Entwicklung einer immer raffinierteren Technik in einer völlig anderen Lage. Gerade weil unsere Macht so sehr gestiegen ist, können wir auf einen Teil davon verzichten (und sollten es vernünftigerweise auch). Nein, auch heute würden wir nicht besser mit der Wildnis umgehen, wenn wir Kontakt zu ihr hätten. Gerade deshalb will ich ja die klare Segregation! Auch ich möchte nicht in der Wildnis leben (schon in ihrer Nähe). Aber ich möchte einen weit größeren Flächenanteil der Erde als Wildnis gesichert wissen, die niemand nutzen und verwerten darf.

Meine Vorschläge sind äußerst politiknah. Die Siedlungsstruktur ändert sich derzeit weltweit aus anderen als ökologischen Gründen genau in die Richtung, die ich zur Entlastung der Natur als wünschenswert skizziere: Konzentration der Bevölkerung in Metropolregionen. 2008 lebten mehr als die Hälfte der Menschen in Städten, 2035 sollen es bei gegenwärtiger Dynamik 75% sein (ohne dass man sie mit ökologischen Argumenten zwangsumsiedeln wollte!). Also so viel politische Kraft braucht es dafür gar nicht. Eine globale Übereinkunft wie beim Klimaschutz, eine Biodiversitäts-Charta der Nationen ist nicht so phantastisch, wie Konrad Ott weismachen zu müssen glaubt. Internationale Vorarbeiten dazu gibt es bereits. Es gilt, die Urbanisierung der Weltbevölkerung auch aus ökologischen Gründen gutzuheißen und mit eigenen Mitteln zu fördern sowie Ansprüche des Naturschutzes auf „Deregulation“ an freiwerdende und freizusetzende Areale geltend zu machen (z.B. die Konversionsflächen).

Die neue Raumordnung soll, anders als Ludwig Trepl das interpretiert, nicht dazu da sein, „ein paar Wildnisenthusiasten“ und ihrem Freizeitvergnügen entgegenzukommen! Ein solcher Anspruch wäre wohl zu albern. Die Kontraktion der Zivilisation dient der Rückgabe von Land an autonome Naturkreisläufe, die erwiesenermaßen ohne unser Zutun eine enorme Artenfülle sowie reines Wasser, reine Luft und fruchtbare Böden hervorgebracht haben. Es geht um bekömmliche Lebensbedingungen auf der Erde insgesamt!

Wer meinen Essay unvoreingenommen gelesen hat, dürfte mir kaum unterstellen, ich wollte jemandem seinen Garten oder sein Naherholungsgebiet wegnehmen. Mein Ringmodell der Raumordnung (das natürlich nur ein Modell ist und die Richtung vorgeben soll) gibt jedem die Chance, zwischen den Zentren der Metropolregionen und ihrer Peripherie einen mehr oder weniger naturnahen Ort zu finden, wo er sich niederlassen kann. Es muss ja dann nicht unbedingt ein Einfamilienhausgarten sein, sondern es können auch, wie in manchen Städten bereits praktiziert, Gemeinschaftsgärten entwickelt werden, die der Eigenversorgung dienen und soziale Verbindungen herstellen. Die Massenproduktion von Obst und Gemüse wird auf andere, technischere Art sichergestellt werden müssen (in mehrstöckigen, energieneutralen Gewächshäusern – natürlich „Bio“!). Ich setze auf eine starke Zunahme des Vegetarismus, der unserer modernen, wenig kraftaufwendigen Lebensart ernährungsphysiologisch weit angemessener ist als Fleischverzehr.

Ludwig Trepl hat, wie er selbst sagt, eine romantische Vorstellung der traditionellen Kulturlandschaft. Meinetwegen darf er sie mögen. Was sollte ich dagegen haben? Aber sie ist mitnichten durch „die Idee des behutsamen Pflegens“ entstanden, sondern durch harte körperliche Arbeit, die von der Notwendigkeit zu überleben diktiert wurde. Trepl möge doch bitte bedenken, dass es die heutige industrialisierte Landwirtschaft war und ist, die jene von ihm geliebten Felder, Wiesen und Hecken abgeräumt und nur einige Reste auf Grenzertragsstandorten und gegen Subventionszahlungen übriggelassen hat. Wenn er gegen die Verwilderung dieser Gebiete ist, weil er, wie er sagt, den Naturgenuss darin der Wildnis vorziehe, dann müsste er zumindest ebenso gegen die Agrarindustrie wettern, die ihm seit 1950 doch schon beträchtliche Genussmöglichkeiten entzogen hat. Es will mich nicht so recht überzeugen, dass entsprechende Lebensräume in der Peripherie der Metropolregionen weniger erfreulich sein sollen als die Reste jener arbeitsintensiven Landwirtschaft aus der Zeit vor 1950, deren dürftiges Erbe Trepl erhalten haben will. Er wird auch am Rand der Metropolregionen Gegenden finden, die seiner konservativen Vorstellung von Landschaft genügen werden. Die vorindustrielle Kulturlandschaft ist in einer Welt mit 10 Milliarden Menschen nicht zu halten. Deshalb sollte Ludwig Trepl von der Realversion seiner Träume Abschied nehmen und sich darauf einstellen, sie losgelöst von feudalen Gesellschaftsstrukturen und harten Arbeitsverhältnissen in Museen und virtuellen Räumen zu besuchen.

Ich habe durchaus Distanz zu meinen Vorstellungen. Das Zitieren Luhmanns erscheint mir weit hergeholt. Ich sei ein „Beobachter erster Ordnung“, ich würde meinen, die Welt sei so, wie ich sie sähe. Ich würde mich beim Beobachten nicht selbst beobachten. Das klingt schon sehr schulmeisterlich. Indem ich meine Gedanken veröffentliche, stelle ich mich der Kritik. Mir ist klar, dass ich nur eine Landkarte entwerfe, und dass die Wege, die sie skizziert, erst noch herausgearbeitet und vielleicht auch anders geführt werden müssen. Aber gerade dass ich, nach so vielen Misserfolgen auch bei der eigenen kommunalen Naturschutzarbeit, auf Distanz zum System des derzeitigen Naturschutzes und seiner Imitiationspflege gehe, spricht doch dafür, dass ich mich und die Subkultur, in der ich lebe, selbst beobachte und mich immerzu frage, ob das, was ich tue, zielführend ist. Also bitte, Herr Trepl, nur weil man Alternativen entwirft und nicht bei der Analyse, mag sie noch so virtuos sein, stehen bleibt, bedeutet das längst nicht, dass man Metaphysik betreibt. So viel Erkenntnistheorie ist auch mir geläufig.

Wenn ich Wildnis schreibe, meine ich Wildnis (und nicht Natur oder Naturparadies): Wildnis als vom Menschen nicht kontrollierte Natur. Und wenn ich sage, dass wir der Natur zu erklären haben, warum wir in sie eingreifen, dann kann das natürlich nur heißen, dass wir das in unserem Geist tun, der schließlich auch ein Kind der Natur ist. Er ist ebenso physisch und metaphysisch wie sie. Sicherlich ist eine solche Kommunikation in gewisser Weise ein Selbstgespräch, weil andere Arten andere Sprachen haben, aber sie ist trotzdem sinnvoll und notwendig, da wir durch Intuitionen, Wissenschaft und Empathie durchaus fähig sind, die Worte der anderen Seite annähernd zu verstehen, wenn wir uns denn erst einmal in die Rolle dessen begeben, der verstehen will und nicht automatisch in diejenige dessen, dem alle zuzuhören und nach dessen Willen sich alle zu richten haben.

Wenn auch Ludwig Trepl meint, dass wir es sind, die sich zu rechtfertigen haben, dann sind unsere Sichweisen in der Konsequenz gar nicht so weit voneinander entfernt, auch wenn er auf andere Weise zu diesem Ergebnis kommt (und mir wie anderen Naturschützern ein wenig pauschal den berühmtberüchtigten „naturalistischen Fehlschluss“ vorwirft). Wir haben uns vor uns selbst zu rechtfertigen, vor dem Ideal des Guten, das eine zweifellos grandiose kulturelle Leistung ist und dem wir durchaus noch um einiges näher kommen können. Da stimme ich absolut mit Ludwig Trepl überein: Die Instanz, vor der sich der Mensch rechtfertigen muss, ist seine eigene moralische Bestimmung. Diese Bestimmung sehe ich aber, anders als Trepl, als etwas Natürliches an. Die Natur hat uns mit der Entwicklung des Bewusstsein gewisse Freiheiten „geschenkt“ und dazu gehört auch im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten so wenig Natur wie möglich zu zerstören, um selbst leben zu können. Dieses Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft! Der alte künstlich erzeugte Gegensatz von Natur und Geist, von Naturwesen und Geistwesen, könnte längst aufgelöst sein, wenn nicht unbelehrbar konservative Hüter der Tradition den Stolz einer auserwählten Spezies kultivieren müssten.

Ludwig Trepl meint, dass die typische Variante des Konservatismus hinsichtlich des Naturverhältnisses wildnisfeindlich sei. Ihr gemäß sei die Natur durch den Menschen zur Vollkommenheit zu führen, zu einer Einheit von Land und Leuten zu veredeln. Das ist sicherlich auch ein Weg, mit Natur umzugehen, allerdings einer, der als gescheitert betrachtet werden muss. Die Veredelung ist uns offensichtlich nicht gelungen oder nur in Subsystemen, die global nicht die Wirkkraft haben, die man sich mit Blick auf die Zukunft des Gesamtsystems wünschen muss. Gerade deshalb schlage ich eine andere Strategie vor, eine segregative: die der Kontraktion der Zivilisation in Metropolregionen und das so weit wie irgend mögliche Sich-Selbst-Überlassen der Natur außerhalb. Der integrative Naturschutz ist an seine Grenzen gelangt und es ist absehbar, dass es ihm nicht gelingt, die Artenvielfalt und intakte Ökosysteme zu erhalten. Der menschliche Geist mit seiner Abneigung gegen das Gefressenwerden und gegen die „Amoral“ der Natur wird sich mit dieser nie so aussöhnen können, dass es eine Harmonie auf höherer Ebene geben wird. Aber ein achtungsvolles, distanziertes Nebeneinander, weil wir von ihr leben müssen, halte ich schon für möglich. Letztlich aber wird der Mensch, um als Art zu bestehen, seine ganz eigene Welt aus dem Geist bauen müssen, was er ja, sobald er die Möglichkeiten dazu hat, auch tut (Ersatz von Naturstoffen durch Kunststoffe). Martin Holzherr formuliert es in seinem Blog-Kommentar sehr plastisch, wenn er meint, dass wir uns darauf einstellen sollten, wie Außerirdische auf einem fremden Planeten zu leben. In diesem Sinn gilt es, Terraforming auf der Erde zu betreiben.

Um meine Forderung einer Kontraktion der menschlichen Zivilisation zu legitimieren, muss ich, anders als Trepl es fordert, keineswegs zeigen, dass die angeblich zugrunde liegende Auffassung objektiv richtig und für alle Menschen gültig sei: die Auffassung, man dürfe nur dann in die Natur eingreifen, wenn einen die Not dazu zwinge. Erstens ist diese Auffassung nicht die Grundlage meiner „Vision“, und zweitens bin ich grundsätzlich nicht dieser Auffassung. Im übrigen auch nicht der Holismus Martin Gorkes. Er strebt vielmehr eine rationale Selbstbeschränkung unter Anerkennung des Eigenwertes nichtmenschlicher Natur an, eine Umkehr der Begründungspflicht für Eingriffe in Natur und Landschaft in dem weiten Feld zwischen Not und Gier. Man muss von der Völlerei nicht gleich in die Askese fallen. Dieses Schreckgespenst bauen die Gegner des Holismus immer wieder auf und betreiben damit genau jenen Fundamentalismus, den sie am Holismus irrtümlicherweise so gern anprangern. Es ist eben nicht so, wie auch Konrad Ott missversteht, dass mein Segregationsmodell (und der Holismus) den Kontakt zu Natur auf ein Minimum reduziert haben will. In meinem Modell soll der Kontakt vielmehr räumlich und technisch so konzentriert werden, dass in jetzt noch besiedelten, aber ausdünnenden Landschaften zukünftig die Natur ihre Eigendynamik entfalten kann. Alles was flächensparend ist, soll gefördert (z.B. Bauen in die Höhe), alles was Fläche kostet (z.B. „Biomasse“anbau) zurückgefahren werden. Neben der Energieeffizienz ist bei der Bewertung neuer Kulturtechniken unbedingt auch ihr Flächenbedarf an vorderster Stelle zu berücksichtigen.

Wieso soll man denn Rio nicht weiterentwickeln können und ähnlich wie beim Klimaschutz (hoffenlich erfolgreicher) weltweite „Protokolle“ und Übereinkünfte der Staaten anvisieren, welche die Biodiversität auf allen Ebenen zum Inhalt haben und Richtlinien hinsichtlich der Raumordnung entwickeln? Das geschieht ja bereits (wobei der Zusammenhang zwischen Naturschutz und Urbanisierung noch zu wenig thematisiert wird). Wie demokratisch solche Prozesse sind, hängt von ihrer Organisation ab. Da gibt es sicherlich Defizite, schon auf europäischer Ebene, aber das ist kein Spezifikum einer Biodiversitäts-Konvention. Auch bei Themen wie Datenschutz oder Subventionspolitik ist die Hoheit der Nationalstaaten teilweise bereits ausgehebelt.

Ich halte den Eigenwert von Lebewesen und Schöpfungen der Natur tatsächlich für nicht kulturrelativ, sondern für ein ethisches, allgemeingültiges Axiom. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich Fundamentalist bin oder eine Ökodiktatur befürworte. Bei solcher Art der Schlussfolgerung könnte man auch jeden Gegner der Todesstrafe als Fundamentalisten abstempeln. Natürlich will ich möglichst viele Leute überzeugt und nicht gezwungen wissen. Natürlich sollten Mehrheiten erarbeitet werden für diese und jene politische Entscheidung, die eine Segregation von Natur und Zivilisation fördert. Doch man sollte von Ottscher Seite her nicht gerade hier, wo es brennt, mehr diskursive Basisarbeit erwarten als in anderen Politikfeldern üblich. Ebenso wie in der Klimapolitik und in der Finanzpolitik wird man auf supranationale Vereinbarungen setzen und auf einen umfassenden Vertretungsanspruch der nationalen Regierungen gegenüber ihren Bürgern bauen müssen. Wobei man selbst (wie bei der Energiewende) natürlich mit gutem Beispiel vorangehen sollte.

Die Argumentation Trepls, ich müsste erst die Objektivierbarkeit meiner Weltanschauung unter Beweis stellen, das heißt ihre Allgemeingültigkeit ableiten, ist in diesem Zusammenhang wenig hilfreich. Es ist doch selbstredend, dass meine Weltanschauung nur eine unter vielen ist. Allerdings eine, die die Fakten auf ihrer Seite hat. Egal, ob die Menschen der einzelnen Nationen politische oder religiöse Motive haben, sich mehrheitlich gegen den Schutz und die Ausweitung von Wildnis auszusprechen, ändert das nichts an der Tatsache, dass es eine bedenkliche Vernichtung von Arten und Lebensräumen gibt. Mir geht es in erster Linie nicht darum, meine Weltanschauung zu objektivieren und anderen aufzuzwingen, sondern eine neue Strategie zu entwickeln und vorzuschlagen, wie man Bevölkerungswachstum und effektiven Naturschutz mit mehr Aussicht auf Erfolg (Erhalt der Biodiversität) in den nächsten Jahrzehnten organisieren könnte. Ich glaube, dass eine Segregation von Natur und Zivilisation zukünftig das bessere Rezept ist, um einen Zustand zu erreichen, den alle Weltanschauungen anstreben müssen, weil es sie sonst bald nicht mehr gibt: einen der jeweiligen Kultur dauerhaft bekömmlichen Lebensraum.   

Wildnis ist keine Kulturaufgabe, höchstens in dem banalen Sinn, dass der Schutz und die Freigabe von Land für eine natürliche Eigenentwicklung von Kulturen ausgeht. Aber das ist keine Aufgabe, sondern eine Rücknahme, gerade der Verzicht darauf, sich Wildnis zur Aufgabe zu machen. Natur ist kein Schloss, keine Kathedrale, kein heiliger Hain. Es löst bei mir geradezu körperliches Unwohlsein aus, wenn Ludwig Trepl immer wieder darauf beharrt, dass wir Natur notgedrungen durch die Landschaftsbrille sehen müssen. Nein! Wir drehen uns einfach um und lassen sie hinter unserem Rücken machen, was sie will! Ich habe den Slogan „Wildnis als Kulturaufgabe“ schon richtig verstanden. Ich möchte aber anders als Ludwig Trepl nicht nur den Verzicht auf Technik beim Umgang mit Wildnis, sondern auch den Verzicht auf menschliche Gestaltung und Kultivierung in den zurückgegebenen Gebieten überhaupt. Nicht weil ich den „Makel des Kulturrelativen“ umgehen will, sondern weil wilde Natur an und für sich nicht kulturrelativ ist! Sie wäre ja auch ohne den Menschen da. Sie hat ihre eigene menschenunabhängige Realität. Die hat ein Musikstück nicht. Das war von Natur aus nicht da und musste von einem Menschen erschaffen werden. Ich finde, Ludwig Trepl vereinnahmt den Begriff Wildnis ein bisschen sehr, wenn er ihn nur als an die Vorstellung des Menschen gebunden gelten lässt. Für mich hat der Begriff nicht nur eine kultursubjekte Bedeutung, sondern eine objektive, ganz einfache: sich selbst überlassene Natur. Dass sie unterschiedlich angesehen und bewertet wird, ist eine andere Sache. Trepl monopolisiert den Wildnisbegriff für seine geisteswissenschaftliche Sicht und behauptet dann, dass meine Definition und die daraus folgenden Begründungen falsch seien. Sein Argument, dass eine technisch perfekt hergestellte Imitation eines sich selbst überlassenen Lebensraumes auch Wildnis wäre, wenn man es nicht wüsste, ansonsten aber nicht, ist so hoffnungslos fiktiv und zirkelschlüssig, dass es sich m.E. selbst entwaffnet.

Die bewachten Grenzen sind nicht Teil der Wildnis, sondern Teil der Siedlungsräume. Wir ziehen uns aus Selbstschutz- und Selbsterhaltungsgründen aus der Fläche so weit wie möglich zurück und überlassen sie sich selbst, der natürlichen Eigendynamik. Dort entsteht sekundäre Wildnis. Das ist etwas anderes als der bestehende Widerspruch zwischen Wildnis und Management. Nichtstun ist kein Management. Und es entsteht tatsächlich Wildnis. Keine magische, mythische, oder sonstwelche, kein „Naturparadies“, das gestehe ich Ludwig Trepl gern zu, aber eine vitale, sich aus eigener Kraft und eigenen Willenskräften entfaltende Natur – eine wie sie noch nie da war.

 

Blogartikel und andere Texte im Internet mit Bezug zum Thema:

Wildnis: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16

Kulturlandschaft: 1, 2, 3, 4

 

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl

26 Kommentare

  1. @trepl @hausladen

    Ja, Herr Trepl, Sie haben recht, wenn Sie sortieren. Wir sind auf einen Nebenschauplatz geraten. Lassen wir einander die jeweilige Definition von Wildnis, beide sind möglich und gerechtfertigt. Ich spreche jetzt von sich selbst überlassener Natur, wenn ich Wildnis sage, und komme auf den Kern meiner Vorstellungen zurück: das ist eine neue Raumordnung, die zu einer Rückgabe von mehr oder weniger peripheren Flächen an die Eigendynamik der Natur führt und die aktuell stattfindende Kontraktion der Erdbevölkerung in Metropolregionen gutheißt und fördert. Ob man das, was in den entsiedelten Gebieten entsteht, dann Wildnis nennt oder Schutzgebiet oder sonstwie, ist sekundär. Wichtig ist, dass man die Hände davon lässt.

    Kulturlandschaft wird es auch dann noch geben. Die traditionelle (wie sie bis 1950 vorherrschte) zwar nur in Resten, aber dafür eine neue, technologisch aufbereitete mit höherer Produktionsdichte und geringerem Flächenbedarf. Idealerweise so organisiert, dass sie von den Metropolregionen ausgehend eine Tendenz zu immer größerer Naturnähe aufweist (vielleicht der traditionellen nach außen hin immer ähnlicher wird, bis sie an den Rand der Wildnisgebiete stößt, die sich ganz und gar selbst überlassen sind).

    Sicherlich, Herr Hausladen, wäre auch eine solche Raumordnung und die bewusste „Einrichtung“ von menschenleerer Wildnis eine Kulturleistung, vollzogen aus einer bestimmten kulturellen Perspektive, auf der Basis einer bestimmten Bewertung, mit der man sich selbst überlassene Natur versieht. Das bestreite ich nicht. Nur geht es meines Erachtens zu weit, wenn man Wildnis deshalb als Kulturaufgabe bezeichnet. Denn Wildnis ist hinsichtlich des Alters und der ökologischen Komplexität das Primäre, die Kulturen sind das Sekundäre. Daher fände ich es besser, die Perspektive umzukehren: die Kulturen weichen vor der Natur zurück, überlassen sie ihrer Eigendynamik, teilweise ganz, teilweise abgestuft, konzentrieren sich in Zentren, die weit stärker als bisher die dritte Dimension, die Höhe, als Lebens- und Produktionsraum nutzen. Es ist m.E. wichtig, den kategorialen Unterschied zwischen der Art, in der eine Kultur mit Natur und Umwelt umgeht, und dem Nichtstun deutlich herauszustellen. Nichtstun per se ist kein kultureller Akt, nur die Entscheidung, nichts zu tun. Was im Raum des Nichtstuns passiert, ist unserem Willen und Einfluss entzogen und damit eben akulturell. Wir wollen dort nichts, wir wollen nur, dass wir dort nichts wollen.
    Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied. Aus dieser Perspektive will man Wildnis gerade nicht wegen ihres Kulturwertes, sondern in ihrer Eigenart als eigenwertiges, autonomes Gegenüber, als Unverfügtes, das sich in seinen Abertausenden von Willensimpulsen frei ineinander verschränken darf, wie es das schon seit Jahrmillionen getan hat, erfreulicherweise in einer Art, die auch uns und unser Bewusstsein hervorgebracht hat. Diese Wildnis ist kein Heiligtum und sie ist kein Kunstwerk. Sie ist bedeutungslos.

    Kultur kann sich nur selbst Aufgabe sein, indem sie ihr Verhältnis zur Natur regelt. Aber sie kann sich niemals die Wildnis zur Aufgabe machen. Das ist ein Widerspruch in sich. Wenn eine Kultur Natur bewertet, dann ist diese Bewertung selbstverständlich von ihren Regeln abhängig, das ist im Grunde banal. Aber genau diese Banalität verwenden Sie, Herr Trepl und Herr Hausladen, unerlaubterweise, um zu suggerieren, dass es keinen Sinn mache, über Interessen und Werte anders als kulturrelativ zu sprechen. Man kann über Interessen und Werte auch ohne Bezug zu der jeweiligen kulturellen Perspektive sprechen. Die Biologie kann durch ihre Forschungen und ihr Verständnis durchaus Werthaftigkeit generieren, sie kann sich der Lebenswelt und der Perspektive von Arten annähern, deren „Interessen“ und den relativen Wert bestimmter Umweltparameter für das Überleben dieser Arten erkennen.
    Selbstverständlich hat auch sie ihre Paradigmen und Voreingenommenheiten, aber das ist ein anderes Thema. Wir wollen nicht solipsistisch werden.
    Da ich davon ausgehe, dass die Welt auch ohne die Bedeutung, die der Mensch ihr gibt, existiert (ich bin Anhänger des hypothetischen Realismus von Karl Popper, für den viele Indizien sprechen), macht es durchaus Sinn, ihr Eigensein zu berücksichtigen und zu respektieren. Mir ist klar, dass ich dieses Eigensein nur mit meinen begrenzten menschlichen Möglichkeiten erfasse und nicht in seiner Ganzheit. Wir filtern alle: als biologische wie als kulturelle Wesen. Das ist es ja gerade, was die Wissenschaft uns auf so staunenswerte Art klar gemacht hat! Und weil ich das weiß, darf ich durchaus annehmen, dass es eine menschenunabhängige, der Natur inhärente Regulationsdynamik gibt, die weit komplexer ist, als wir uns das gemeinhin vorstellen. Eine Dynamik, die seit Jahrmillionen dafür sorgt, dass Lebewesen auf diesem Planeten in ununterbrochener Folge existieren. Eine Dynamik, die schließlich auch uns hervorgebracht hat und den Homo sapiens seit 200.000 Jahren in einer wenig veränderten Form nährt und sich fortpflanzen lässt. Ist es so kontraintuitiv, dieser Dynamik eher zu vertrauen als der sich derzeit gerade bildenden Leitidee, uns selbst und unseren Nachkommen durch ein vernünftiges umfassendes „Ökomanagement“ eine gedeihliche Umwelt zu sichern? Neue Wildnis bei abnehmender Populatonsdichte zuzulassen, diesen Prozess raumordnerisch zu begleiten und zu fördern, ist für mich die daraus sich aufdrängende Strategie.

    Autonom reguliert werden die Stoffkreisläufe, autonom reguliert wird die Artenvielfalt. Den Regenwald als solchen wird es nicht „interessieren“, aber durchaus die Arten, die darin leben, im wahrsten Sinn des Wortes: sie nehmen wie auch wir am großen Prozess der Evolution teil. Warum sollte ihr Interesse weniger berechtigt sein? Nur weil sie im interspezifischen Machtspiel die schwächere Position haben? Eine solche Moral ist eher tierisch als „human“. Es ist doch, mit Verlaub Herr Hausladen, absurd zu behaupten, der Regenwald hätte nur für uns einen Wert. Für jede Art, die darin lebt, hat er einen Wert, ganz fundamental gesagt: indem er ihr Leben und Überleben ermöglicht. Das Nicht-Berühren soll in erster Linie nicht uns und unserem Wertesystem, sondern diesen Organismen und ihrem Da-sein dienen. Dieses Beharren darauf, man könne von Wildnis nur reden, wenn man von Kultur rede, ist nichts anderes als eine Form von kollektivem Narzissmus. Ich kann auch von Wildnis reden, ohne mich um Kulturen im geringsten zu kümmern. Die Okkupation der Realität mit kulturellen Bedeutungen und selbstgefälligen Wertesystemen ist ein Teil des Problems der Übernutzung der irdischen Lebensgrundlagen.

    Herr Holzhausen: dass wir die Reste der Regenwälder erhalten wollen, ist in der Tat ebenso ein Kulturschaffen wie ihre Zerstörung, aber nicht, dass sie da sind! Es ist die Konzentration auf diese Tatsache, die unsere Perspektiven unterscheidet. Sie fragen mit Herrn Trepl sofort nach dem Kulturwert und halten diese Frage für „unweigerlich“. Für mich (und offenbar auch den Gesetzgeber, vgl. §1 BNatSchG) gibt es aber auch einen ebenso unweigerlichen „Daseinswert“, der elementar und akulturell ist. Natürlich können Sie jetzt sagen, die Worte „für mich“ und „…wert“ zeigen doch eindeutig, dass es sich um eine persönliche und kulturgebundene Zuschreibung handelt, und in gewisser Weise haben sie damit recht. Aber eben nur in gewisser Weise: denn die Zuschreibung ist keine kulturgebundene Willkür, sondern Ausdruck einer inneren genetischen Verwandtschaft, die intuitiv erspürt, aber auch rational abgeleitet werden kann. Sie ist gleichsam vorkulturell.

    Diesem Vorkulturellen angesichts der immer deutlicher sichtbar werdenden Schäden, die der Mensch an der Natur anrichtet, durch Kontraktion, Rückzug, Selbstbeschränkung in Form sekundärer Wildnis wieder Raum zu geben, dafür plädiere ich, wenn ich für eine Segregation von Kultur und Natur eintrete. Dahinter steckt die Hoffnung, dass die Natur auf diese Weise besser als bisher in möglichst vielen Formen um ihrer selbst willen erhalten bleibt, dass diese Strategie letztlich aber auch für die Art Homo sapiens in ihren Milliarden Exemplaren bekömmlicher ist. Technik ist mir kein Graus, sie sollte nur weniger die Fläche beanspruchen und diesbezüglich so weit wie möglich auf die Metropolregionen konzentriert sein.

    Auf ihrer fiktives Fallbeispiel, Herr Hausladen, möchte ich lieber nicht eingehen. Es erinnert mich zu sehr an meine Gewissensprüfung als Kriegsdienstverweigerer: Sie gehen mit ihrer Freundin spazieren, eine Horde von Männern kommt auf sie zu und will ihre Freundin vergewaltigen. Sie haben zufällig eine Maschinengewehr in der Hand. Würden Sie unter diesen Umständen töten?
    Es wird nie eine Chemikalie geben, die den Regenwald retten kann.

  2. Ordnungsversuch

    Ich will versuchen, die Diskussion etwas zu sortieren.

    1. Es geht um Naturschutzstrategien in dem Sinn, daß eine Seite (vor allem) die traditionelle Kulturlandschaft erhalten will, die andere (vor allem) unberührte Natur.

    2. Es geht um Naturschutzstrategien/Raumordnungsstrategien in dem Sinn, daß die eine Seite das, was sie schützen will (sei es Kulturlandschaft, sei es unberührte Natur) als Inseln in nicht-geschützten Gebieten erhalten will, die andere Seite aber will, daß die der Nutzung ohne Rücksicht auf „Natur“ überlassenen Flächen Inseln in geschützten Flächen (sei es Kulturlandschaft, sei es unberührte Natur) sind.

    3. Es geht darum, was die Begriffe Wildnis und unberührte Natur bedeuten, insbesondere, ob sie identisch sind.

    4. Es geht dabei insbesondere darum, ob eine naturwissenschaftliche Definition von Wildnis möglich ist.

    5. Es geht darum, aus welchem Grund man sei es Kulturlandschaft, sei es Wildnis und (oder Wildnis =) unberührte Natur schützen soll. Dabei gibt es zwei Positionen:
    5a. Die (guten) Gründe sind primär ökologischer Art.
    5b. Die (guten) Gründe sind primär oder ausschließlich kultureller Art.

    Es mag noch mehr Diskussionspunkte geben, aber die sehe ich im Moment nicht.

  3. @Georg Hausladen: Danke für Anregungen

    “Wildniss wollen” bedeutet tatsächlich eine bestimmte kulturelle Perspektive einnehmen.
    Darüber hinaus steckt dahinter – für mich – auch die Ablehnung des Menschen als Uhrmacher der Erde, welcher ständig Zahnräder auswechseln muss damit die Erde weiterläuft.
    Sie fragen ja ob man Geoengeneering einsetzen sollte, falls der Urwald in Gefahr gerate durch den Klimawandel?
    Die einzig richtige Antwort kann für mich nur heißen: Lasst uns jetzt alles tun, damt wir genau dies nie tun müssen, nämlich am Getriebe der Erde herumdoktern. Wenn das Erdsystem wie ein Fahrrad nur durch ständige Eingiffe im Gleichgewicht gehalten werden kann kommen wir bald einmal zu Schlagzeilen wie: “die Partei xxx lehnt die Rettung der Erde ab, da sie zu teuer sei. Die meisten Menschen lebten inzwischen sowieso in Weltraumstädten. Denen könne man nicht ständig Mittel entziehen nur um ein nicht mehr zeitgemäßes Museum zu unterhalten”

  4. @Gerdes und Holzherr

    „Basta!(Egal ob man das nun Wildnisareal, Schutzgebiet, gar nicht (weil es der angestammte Lebensraum ist) oder sonstwie benennt: Hands off!“
    Entscheidend ist hier, dass man „Wildnis“ wollen muss. Sie Herr Gerdes und Sie Herr Holzherr wollen, dass es Gebiete gibt in denen „der Mensch nichts tut“. Auch Ludwig Trepl will das. Aber darüber hinaus geht es ihm darum, dass, wenn man das will, man eine bestimmte Perspektive einnimmt, die eine kulturelle ist. Ich glaube, weil Sie diesen Punkt missverstehen, reden Sie „aneinander vorbei“.
    Dass „sich selbst überlassene Natur aufgrund ihrer langen Geschichte hinsichtlich ihrer Regulationskraft vertrauenswürdiger ist als menschliches Öko-Mangement“ glaube ich nicht. Was wird den hier eigentlich „reguliert“ und warum sollte man dem „vertrauen“? Und was sollen die „ökologischen Gründe sein“, die dafür sprechen „Wildnis zu wollen“?, dass der Regenwald sonst nicht mehr da wäre und dass wir ihn nicht mehr herstellen können? – Was interessiert’s den Regenwald, was sind schon 5000 Jahre für ihn? Wie Sie sagen, wir wollen die Wildnis, wir interessieren uns für den Regenwald und nur für uns hat er einen Wert, auch (und gerade weil) wir ihn nicht berühren.
    Das war aber sicher nicht immer so (ist also im Menschen nicht angelegt, was eine naturalistisch-evolutionistische Perspektive rechtfertigen würde). Der Siedler, der früher den selben physischen Gegenstand vor sich hatte, als er das Land urbar gemacht hat, „die sich selbst überlassene Natur“ hat mit Sicherheit ganz anders über diese Wildnis gedacht (und das ist noch keine zwei Generationen her!). Es war eine andere Kultur in der man Wildnis eben nicht wollte. Wenn man sich (wie Ludwig Trepl) fragt, warum man heute Wildnis will (und sich nicht darauf beschränkt Wildnis zu wollen), muss man unweigerlich nach der Kultur fragen, die diesen Unterschied hervorbringt, denn natürlich (das heißt durch Mutation und Selektion) dürfte er sich im Zeitraum von 100 Jahren kaum ergeben haben.
    Man will Wildnis natürlich wegen ihres Kulturwerts, weswegen sonnst? Und die Wildnis ist deshalb irgendetwas zwischen Kunstwerk und Heiligtum. Dass wir die Reste der Regenwälder erhalten ist ein „Kulturschaffen“ ebenso wie, dass wir sie zerstört haben. Ökologische Gründe dafür gibt es nicht, nur Ursachen. Und nur nebenbei: Als „Ökosystem“ ist der Regenwald etwas völlig anderes als „Wildnis“ – es ist wohl geradezu das Gegenteil: Der ÖKosystembegriff beschreibt (nimmt man es etwas genauer) den Regenwald als steuer- und regelbares (als technisches) System. Wenn Sie nun meinen, das würde für ihren naturalistische Denkansatz sprechen, was sie sicher nicht tun, weil ihnen „die Technik“ ein Graus ist, oder doch, weil sie die naturalistische Perspektive zu attraktiv finden, müsste ich sie enttäuschen, denn wenn man die „Kultur“ hinter diesem Begriff („Ökosystem“) bedenkt (den Industriekapitalismus), wollen Sie die offensichtlich nicht.
    Und eine Frage noch: Wenn der Regenwald, meinetwegen durch den Klimawandel bedroht währe, d. h. sich nicht mehr wie im Moment in seinen Resten „selbst reguliert“, und es gäbe ein Mittel, meinetwegen eine Chemikalie, die sie in der Atmosphäre ausbringen, um den Wald zu retten. Würden Sie es tun (wollen)? Oder würden sie den Wald zugrunde gehen lassen (wollen)? Das was dann käme, wäre ja keine Wildnis mehr, aber wäre es noch Wildnis, was Sie durch den Einsatz des Mittels erzeugen würden?

  5. @ludwig trepl

    Herr Trepl, sie gehen im Kreis. Innen sind die Sektoren der verschiedenen Kulturen. Je nachdem, wo sie stehen, mag die Wildnis, die außerhalb liegt, eine andere Perspektive haben, eine andere Bedeutung, einen anderen Namen. Aber wenn da draußen niemand etwas tut, dann ist es sich selbst überlassene Natur, die per offizieller Definition Wildnis genannt werden darf.

    Es kommt einigen Naturschützern nicht auf die Bedeutung, auf die kulturelle Perspektive an, sondern darauf, dass in möglichst großen Gebieten nichts getan wird.(Prozessschutz). Basta!
    Egal ob man das nun Wildnisareal, Schutzgebiet, gar nicht (weil es der angestammte Lebensraum ist) oder sonstwie benennt: Hands off!

    Deshalb reden wir aneinander vorbei. Sie haben schon recht, dass wir Bedeutungen nicht ausschalten können. Aber das heißt nicht zwangsläufig, dass wir nicht aus guten ökologischen Gründen sagen können, dass sich selbst überlassene Natur aufgrund ihrer langen Geschichte hinsichtlich ihrer Regulationskraft vertrauenswürdiger ist als menschliches Öko-Management.

    Deshalb wollen wir mehr Wildnis, nicht wegen ihres Kulturwertes. Wenn sie natürlich sagen, dass der Mensch nur als Mensch über Natur reden kann und in Bezug auf sich und die Kultur, der er angehört, dann ist das eine Totalimmunisierung des Bewusstsein, die letztlich jeden evolutionär-naturalistischen Denkansatz aushebeln kann.

    Aber erfreulicherweise können wir auf uns selbst herabsehen, können wir so sehr abstrahieren, dass wir uns zumindest seit Darwin die Welt ohne Menschen vorstellen können (nicht unbedingt wollen!). Ohne Menschen gibt es zwar Wildnis im naturwissenschaftlichen Sinn, aber weder Kunstwerk noch Heiligtum.

    Und anders als sie behaupten gibt es gute ökologische Gründe, “Wildnis zu wollen”. Nicht nur „Kulturwert“-Gründe. Denken Sie an das klassische Beispiel des tropischen Regenwaldes, der sich über die Eiszeiten hinweg zu einem hochspezialisierten Ökosystem entwickelt hat und der nach Rodung nicht regenerierbar oder durch menschliches Kulturschaffen simulierbar ist. Er soll in den Resten, in denen er noch da ist, erhalten bleiben. Aus ökologischen Gründen. Unbenommen aber auch, weil er für alle Kulturen der Welt wertvoll ist. Das eine schließt das andere nicht aus. Man darf auf beide Weisen für seinen Erhalt argumentieren.

  6. @ Martin Holzherr.

    @ Martin Holzherr

    Ich mach’s Satz für Satz:

    „Thema von Jürgen Gerdes Gedanken ist das Verhältnis von Mensch und (belebter) Natur.“ Ja, meines aber auch.

    „Der Landschafts- und Kulturbegriff, den Herr Trepl hier immer wieder anspricht, spielt in diesem Zusammenhang eine andere Rolle, nämlich nicht als etwas was alles umfasst – wie das Herr Trepl immer wieder sehen will – sondern als Gegensatz.“
    Könnten Sie erklären, wie Sie das meinen? Was meinen Sie mit der Behauptung, daß ich sehen will, daß der Landschaft- und Kulturbegriff alles umfaßt? Was meinen Sie mit „als Gegensatz“? Was steht da im Gegensatz wozu?

    „Neben Kultur und Landschaft soll es eben noch einen Teil der Erde geben, der nicht vom Menschen kontrolliert wird.“
    Das ist nach Ihrer Auffassung die Meinung von Jürgen Gerdes, richtig? Und es steht gegen meine Meinung? Ich habe Ihnen doch neulich geschrieben, daß das auch meine Meinung ist.

    „Weil der Mensch selber aus dieser Natur stammt und früher nur ein einfaches Geschöpf dieser Natur war …“
    Das ist Ihrer Meinung nach die Begründung von Jürgen Gerdes dafür, daß er will, daß ein Teil der Erde „nicht vom Menschen kontrolliert wird“? Ich weiß nicht, ob er seine Forderung wirklich so begründet. Wenn, dann wäre das ein klassischer Sein-Sollens-Fehlschluß.

    „… weil auch weitverbreitete Anliegen wie der Artenschutz und die Erhaltung der Biodiversität mit dem Konzept der Segregation von Mensch und Natur erreichbar sind während die herkömmlichen Naturschutzstrategien das Artensterben höchstens verlangsamen.“
    Das ist offenbar ebenfalls als Begründung für Gerdes’ Forderung gedacht. Es ist wohl so, daß „die herkömmlichen Naturschutzstrategien das Artensterben höchstens verlangsamen“. Aber darum geht nicht die Diskussion, denn das „ höchstens verlangsamen“ liegt nicht daran, daß die herkömmlichen Strategien nicht Segregation fordern.
    Wenn man sich die Forderungen der „herkömmlichen Naturschutzstrategien“ alle als verwirklicht denkt, wäre das Aussterben beendet, ebenso wie wenn man sich Gerdes’ Forderungen alle als verwirklicht denkt. Die Diskussion um den Artikel von Jürgen Gerdes geht u.a. darum, ob man auch ohne Segregation alle Arten erhalten könnte. Natürlich könnte man das, mit Segregation könnte man es auch. Das ist (a) eine Frage der Erhaltung der Lebensbedingungen der Arten im Einzelnen; manche brauchen weitgehend „vom Menschen“ unbeeinflußte Bedingungen, keine braucht völlig unbeeinflußte. (b) ist es eine Frage der politischen Durchsetzbarkeit der beiden Strategien. Da scheint mir der Vorschlag von Gerdes recht realistisch, einfach weil er billig ist. Andererseits ist er aber auch schwierig durchzusetzen, weil er äußerst starke Widerstände hervorruft. Jedenfalls geht es hier um Fragen ganz anderer Art (politische, soziologische, ökonomische, psychologische), als wir sie bisher diskutiert haben.

    „Es mag sein, dass viele oder sogar alle Menschen alles mit einer Kulturbrille wahrnehmen.“ Diesen Satz verstehe ich überhaupt nicht. Was wollen Sie sagen?

    „Das heisst aber nicht, dass die ganze Erdoberfläche zum Kulturraum werden muss und damit alles was es überhaupt gibt den jeweiligen kulturellen Moden unterworfen sein muss.“
    Große Teile der Erdoberfläche oder überhaupt irgend etwas unberührt zu lassen ist aber auch, wenn man es so böse sagen will (ich tue das nicht), eine „kulturelle Mode“.

  7. Der Mensch und die Natur

    Thema von Jürg Gerdes Gedanken ist das Verhältnis von Mensch und (belebter) Natur. Der Landschafts- und Kulturbegriff, den Herr Trepl hier immer wieder anspricht, spielt in diesem Zusammenhang eine andere Rolle, nämlich nicht als etwas was alles umfasst – wie das Herr Trepl immer wieder sehen will – sondern als Gegensatz. Neben Kultur und Landschaft soll es eben noch einen Teil der Erde geben, der nicht vom Menschen kontrolliert wird. Weil der Mensch selber aus dieser Natur stammt und früher nur ein einfaches Geschöpf dieser Natur war, weil auch weitverbreitete Anliegen wie der Artenschutz und die Erhaltung der Biodiversität mit dem Konzept der Segregation von Mensch und Natur erreichbar sind während die herkömmlichen Naturschutzstrategien das Artensterben höchstens verlangsamen.

    Es mag sein, dass viele oder sogar alle Menschen alles mit einer Kulturbrille wahrnehmen. Das heisst aber nicht, dass die ganze Erdoberfläche zum Kulturraum werden muss und damit alles was es überhaupt gibt den jeweiligen kulturellen Moden unterworfen sein muss.

  8. @ Jürgen Gerdes: „Warum so ausschließlich, Herr Trepl? Man kann Wildnis auch naturwissenschaftlich definieren. Das ist nicht falsch. … Letzteres ist von Ihnen selbst, ersteres [naturwissenschaftlich] von der IUCN.“

    Auch wenn prinzipiell beliebige Nominaldefinitionen möglich sind: Doch, es ist in bestimmtem Sinne schief bis falsch. Ich will drei Gründe nennen:

    Erstens und nur nebenbei. Wenn es darum geht, die Bedeutung eines Begriffs festzustellen (eine auf Sprach- und Begriffsanalyse beruhende Realdefinition zu finden), dann ist der IUCN keine zitierfähige Quelle. Äußerrungen von politischen Gremien, Ämtern usw. sind in einem solchen Zusammenhang nicht zitierfähig als Beiträge zur Diskussion, nur als Fälle, die auftauchen und über die man gegebenenfalls reden muß.

    Zweitens: Wenn man das Wort Wildnis definiert als bedeutungsgleich mit einem anderen (Wildnis = vom Menschen weitgehend unbeeinflusstes Gebiet), Wildnis aber bisher hauptsächlich oder ausschließlich etwas anderes bedeutet hat, dann ändert das ja nichts an der Sache. Ich kann Hund so definieren, daß das Wort nun das bedeutet, was man bisher Katze nannte. Dennoch gibt es weiterhin Hunde, und ich müßte ein neues Wort dafür vorschlagen, damit man weiterhin über diese Tiere reden kann, ohne sie ständig mit Katzen zu verwechseln. Wie also wollen Sie das, was man bisher Wildnis nannte, nun nennen, wenn Sie das Wort für vom Menschen weitgehend unbeeinflusstes Gebiet verwenden möchten?

    Drittens, und das ist das wichtigste: Eine falsche Definition zieht Fehler nach sich, in unserem Fall schwerwiegende praktische.
    Aber warum, werden Sie fragen, ist die Definition des IUCN oder eine andere naturwissenschaftliche falsch? Sie werden vielleicht sagen: einen Begriff wie Wald kann ich als einen naturwissenschaftlichen Gegenstand betrachten (und dann so definieren), aber auch als einen ästhetischen, kulturhistorischen u.a. (und entsprechend definieren). Ebenso ist es mit dem Begriff Stern, Hund, Diamant und zahllosen anderen. Doch bei einer anderen Art von Gegenständen geht das nicht. Gemälde kann ich nicht naturwissenschaftlich definieren, bzw. da sieht jeder, daß das nicht „Gemälde“ ist, was ich da definiert habe, sondern sozusagen den materiellen Träger dessen, was man ein Gemälde nennt; ähnlich ist es mit „Park“ oder „Heimatlandschaft“. Himmel im Sinne von heaven, opera buffa und zahllose andere Begriffe kann ich überhaupt nicht naturwissenschaftlich definieren.
    Mit Wildnis ist es ähnlich wie mit Gemälde; den Unterschied zum Kunstwerk habe ich im vorigen Kommentar erklärt. Gemeinsam ist, daß das, was ein Gemälde zum Gemälde oder unberührte (oder auch „wiederkehrende“) Natur zu Wildnis macht, nicht auf der naturwissenschaftlichen Ebene liegt, sondern auf der von Bedeutungen in einem kulturellen Kontext.
    Was sind nun die Fehler, die folgen, wenn man Wildnis versucht, als naturwissenschaftlichen Gegenstand zu definieren? Ein Stück unberührte Natur kann ohne jede physische Veränderung ihren Charakter als Wildnis verlieren oder zu Wildnis werden. Beispielsweise kann sich das Denken der Menschen ändern; nehmen Sie mein Beispiel von „ganz Südamerika ist Wildnis“ vom vorigen Kommentar. Die, naturwissenschaftlich gesehen, völlig unveränderte Natur war vielleicht für die Nachkommen der „Wilden“ nicht mehr das, was sie für ihre Vorfahren war, sondern Wildnis, denn sie haben sie Weltsicht der Eroberer übernommen. Ein für den Naturschutz näherliegendes Beispiel: Ein Gebiet muß sich physisch gar nicht verändern, aber seinen Charakter als Wildnis, den es nur für die Menschen hat, verliert es, weil es etwa wegen der technischen Möglichkeiten, sich aus jeder Gefahr leicht retten zu lassen, eine wesentliche Eigenschaft von Wildnis nicht mehr hat, oder einfach weil ein Schild dasteht (z. B. „Wildnisschutzgebiet“).

  9. @Ludwig Trepl

    Warum so ausschließlich, Herr Trepl? Man kann Wildnis auch naturwissenschaftlich definieren. Das ist nicht falsch.

    “Wildnis ist, wie Landschaft und Natur, ein mehrdeutiger Begriff. Es lassen sich zwei kategorial verschiedene Begriffsbestimmungen unterscheiden. Nach der einen wird unter Wildnis ein vom Menschen weitgehend unbeeinflusstes Gebiet (mit einer bestimmten Mindestgröße) verstanden, das sich durch naturwissenschaftliche Parameter beschreiben und von Kulturlandschaften, Städten usw. abgrenzen lässt.[1] Nach der anderen wird Wildnis begriffen als ein Gebiet, dem die symbolische Bedeutung zugewiesen wird, eine – negativ oder positiv bewertete – Gegenwelt zu irgendeinem kulturellen Ordnungsprinzip zu sein.[2]

    Letzteres ist von Ihnen selbst, ersteres von der IUCN.

    Grüße J.Gerdes

  10. @ Jürgen Gerdes

    Sie verwenden einfach den Begriff Wildnis falsch. Natürlich können Sie eine Nominaldefinition machen und den Wildnis so definieren, daß er bedeutungsgleich wird mit „Natur ohne menschlichen Einfluß“. Das bräuchten Sie aber einen neuen Begriff für das, was man bisher Wildnis nannte.

    In der Realdefinition, die man nicht einfach machen kann, sondern ermitteln muß, sind Wildnis und unberührte Natur nicht identisch. Man muß, um das zu erkennen, nur verschiedene Fälle darauf prüfen, ob man den Begriff Wildnis verwenden würde. Auf einer vollkommen unberührten Insel, die aussieht wie auf einem Tourismusplakat, ist keine Wildnis; die Natur ist hier vielleicht „paradiesisch“, aber nicht „wild“. Andererseits muß Wildnis nicht unberührte Natur sein, muß auch nicht Natur sein, die zurückkehrt, die sich ihr verlorenes Terrain wiedererobert (im Naturschützer-Fachjargon sagt man dazu oft „sekundäre Wildnis“). Denn klassischerweise gehörten zur Wildnis Menschen, nämlich „Wilde“, also Menschen, denen man Kultur absprach. Ganz Brasilien war für die Europäer, als sie ankamen, Wildnis. Für die Menschen dort war der größere Teil – falls ihre Sprache entsprechende Begriffe überhaupt kannte, was ich nicht weiß – nicht „Wildnis, sondern „Kulturlandschaft“, und nur ein Teil war „Wildnis“, vielleicht der Teil, der gänzlich unbewohnt war oder von Stämmen bewohnt, die für sie „Wilde“ waren.

    Sie sprechen von einem essenzielle[n] Unterschied zwischen Wildnis und einem Kunstwerk oder einem Heiligtum.“ „Erstere gibt es auch ohne ihn [den Menschen], letztere nicht.“

    Beim Kunstwerk stimmt das, das habe ich ja nicht bestritten, beim Heiligtum nicht. Was für die einen Wildnis ist, kann für die anderen Heiligtum sein, ja, etwas kann zugleich Wildnis und Heiligtum sein, und mehr noch, es kann Heiligtum sein, WEIL es Wildnis ist. Und wenn George Bataille recht hat, dann sind die Begriffe Wildnis und Heiligtum ursprünglich sogar mehr oder weniger identisch gewesen. Lesen Sie mal sein Buch „L’Erotisme“ (deutsch „Der Heilige Eros“). Das ist aufschlußreich.

    Aber für Ihre Vision ist das alles ja gar nicht wichtig. Sie wollen nicht Wildnis, sondern unberührte Natur (die Wildnis sein kann, aber nicht muß). Natur ist ein Begriff mit mehreren sehr verschiedenen Bedeutungen, aber eine davon ist, daß man damit nicht nur die Abwesenheit physischen menschlichen Einflusses bezeichnen kann, sondern daß in dem Begriff auch keine symbolische Bedeutung in Bezug auf die Gesellschaft mitgemeint sein muß wie in „Wildnis“ oder „Paradies“.

    „Sie sehen die sich selbst überlassene Natur im Spiegel des menschlichen Bewusstseins und darin ist sie natürlich immer kulturrelativ, ist sie immer ein Gut, hat sie immer einen Kulturwert.“

    Nicht immer, jedenfalls nicht in der Bedeutung, in der ich „Kulturwert“ gebraucht habe. Wenn das „menschliche Bewußtsein“ Natur NUR als Natur betrachtet (insbesondere als Gegenstand der Naturwissenschaften), dann hat sie definitionsgemäß keinen Kulturwert (klassisch dazu: Rickert 1899). Sie muß WERTEND betrachtet werden (was die Naturwissenschaft definitionsgemäß nicht kann), und zwar im Hinblick auf den Menschen als Kulturwesen. Wenn man ihr einen Wert für die bloß physische Existenz der Menschen zuschreibt („ökologisch“), dann betrachtet man sie nicht als etwas, das einen Kulturwert hat. Berücksichtigt man aber, daß dieser physischen Existenz in einer bestimmten Kultur (z. B. in unserer) ein besonders hoher Wert zugeschrieben wird, dann ist so gesehen die Natur in ihrer Bedeutung für die physische Existenz doch „Kulturgut“. Man sieht: es ist ziemlich kompliziert.

    Mein Hauptpunkt ist aber, daß Sie und alle, die sei es Wildnis, sei es unberührte Natur wollen, diese im Grunde wegen ihres Kulturwerts wollen, und daß es besser wäre für ihre Durchsetzung ihrer Ziele, wenn sie sich dazu bekennen würden, statt nach ökologischen Gründen zu suchen.

  11. @ Ludwig Trepl

    Lieber Herr Trepl,

    Sie sehen die sich selbst überlassene Natur im Spiegel des menschlichen Bewusstseins und darin ist sie natürlich immer kulturrelativ, ist sie immer ein Gut, hat sie immer ein Kulturwert. Aber erstaunlicherweise ist unser Bewusstsein so abstraktionsfähig, dass es sich auch eine Welt ohne den Menschen vorstellen kann. Und da zeigt sich dann der einfache essenzielle Unterschied zwischen Wildnis und einem Kunstwerk oder einem Heiligtum. Erstere gibt es auch ohne ihn, letztere nicht. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum manche Leute den Formen der Natur intuitiv einen Eigenwert zugestehen.

  12. Eine Erde, aber viele Interessenten

    Wildnis ist letztlich vom Menschen nicht genutzter Raum – etwas was immer rarer wird. Es gibt viele sich konkurrierende Nutzungspläne für noch brach liegendes Land. Die einen wollen darauf Biotreibstoffe anbauen, die anderen Landschaften hochziehen, wieder andere erwarten von ungenutztem Land irgendwelche Ökosystemleitungen oder sie wollen das Klima damit regulieren.
    Doch es gibt nur eine Erde und ich sehe nicht ein, warum der Mensch auch noch den letzten Fleck nutzen soll. Mit der zunehmenden von der Mehrheit selbst gewählten Urbanisierung eröffnet sich nun eine grosse Chance, Land wieder frei zu geben. Das ist tatsächlich eine Grundsatzentscheidung. Doch sie kommt nicht aus dem hohlen Bauch und ist auch keine romantische Idee. Vielmehr gibt es bereits starke Bestrebungen in diese Richtung wie den Biodiversitätsschutz oder das Auscheiden von Land für National- und Wildnisparks. Nur Lesen wir immer wieder wie stark die Biodiversität in den letzten Jahren trotz aller Bemühungen abgenommen hat und wir wissen bereits, dass sie noch weiter abnehmen wird. Es gibt aber einen Weg um diese von vielen beklagten Verluste nicht nur regelmässig und fast rituell zu beklagen, sondern sie für immer zu vermeiden. Einfach dadurch, dass der Mensch seinen Totalanspruch auf die Erde zurücknimmt.

  13. @ Martin Holzherr.

    Lieber Martin Holzherr,

    es ist mir leider nicht annähernd gelungen, Ihnen zu vermitteln, was ich meine (in ihren Begriffen: welchen „Ansatz“ ich vertrete). Wenn ich nicht wüßte, daß andere mich verstehen, könnte ich verzweifen.

    Ich „vertrete“ überhaupt nichts von dem, was Sie hier als „Ansätze“ beschreiben, sondern ich beschreibe, was man in Naturschützerkreisen denkt. Wenn ich schreibe, daß man zur Aufrechterhaltung der Nutzpflanzenbestäubung meist oder oft mit einer einzigen Nutztierart auskommt und daß man dazu nicht „die Biodiversität“ (was immer das heißen mag) braucht, dann behaupte ich doch nicht, daß mir an der „Biodiversität“ nichts läge. Wenn ich schreibe „Man könnte die meisten Arten problemlos ausrotten“, dann heißt das nicht, daß ich für die Ausrottung bin, wenn das einen Nutzen bringt. Ich kritisiere hier nur die unter Naturschützern heute vorherrschende Art der Argumentation – die ökologische – gegen die Ausrottung. Denn auf diese Weise läßt sich die Artenvielfalt nicht verteidigen. Ist denn das nicht zu verstehen?

    Im Übrigen haben Sie das, was ich Ihrer Meinung nach vertrete – was ich aber nicht vertrete, sondern beschreibe, analysiere, kritisiere –, nämlich die klassisch-konservative Naturschutzauffassung, ebenfalls nicht verstanden, und zwar ganz und gar nicht. Sonst würden Sie sie nicht unter „domestifizierender/eliminatorischer Ansatz“ mit der derjenigen Auffassung sei es verwechseln, sei es in einen Topf werfen, gegen die die klassische Naturschutzbewegung überhaupt erst entstanden ist.
    Viele Grüße
    Ludwig Trepl

  14. Lieber Herr Gerdes,

    es ist gekommen, wie D. Piepke gleich im ersten Kommentar bemerkt hat: Ihr Artikel verdient zwar eine Diskussion, aber es kommt keine auf. Warum? Ich könnte nur raten, was ich jetzt nicht will. Statt dessen will ich versuchen, an einem Punkt nachzuhaken, vielleicht antwortet ja doch noch jemand (oder Sie).

    Sie schreiben: „Ich habe den Slogan „Wildnis als Kulturaufgabe“ schon richtig verstanden. Ich möchte aber anders als Ludwig Trepl nicht nur den Verzicht auf Technik beim Umgang mit Wildnis, sondern auch den Verzicht auf menschliche Gestaltung und Kultivierung in den zurückgegebenen Gebieten überhaupt.“

    Sie haben den Slogan nicht richtig verstanden, und für den Verzicht nicht nur auf Technik, sondern „auf menschliche Gestaltung und Kultivierung in den zurückgegebenen Gebieten überhaupt“ bin ich auch, denn das ist einfach eine logische Implikation des Begriffs Wildnis. Wenn man sie will, muß man das wollen (und ich will sie ja auch, nur vielleicht nicht ganz so viel).

    Daß Sie den Slogan nicht verstanden haben, sieht man an diesen Formulierungen: „Natur ist kein Schloss, keine Kathedrale, kein heiliger Hain.“ Wildnis „wäre ja auch ohne den Menschen da. Sie hat ihre eigene menschenunabhängige Realität. Die hat ein Musikstück nicht.“ (Ich hatte das Beispiel mit der Musik gebracht, jedoch zu einem ganz anderen Zweck.)

    Was ist ein Kulturgegenstand, was (folglich) eine Kulturaufgabe? Es ist dafür nicht notwendig, daß der Gegenstand materiell von Menschen angefertigt wurde. Der heilige Hain zeigt es. Es kann für ihn notwendig sein, daß er von Menschen völlig unberührt ist, daß er eben deshalb heilig ist und daß gerade die Heiligkeit es erfordert, daß er nicht berührt wird. Die Natur dort hat „ihre eigene menschenunabhängige Realität“. Als HEILIGER Hain ist er aber Kulturgegenstand, und die Aufgabe, zu der sich die Menschen dieser Kultur verpflichtet sehen, ist eine Kulturaufgabe. Der Hain hat einen Wert, und zwar in einem engeren Sinne einen „Kulturwert“. Er hat diesen Wert in einer bestimmten Kultur und er muß aus deren Sicht wegen dieses Werts unberührt bleiben. Er muß nicht deshalb unberührt bleiben, weil das dem physischen Leben der Menschen dieser Kultur dient, d. h. den Menschen als Naturwesen, sondern wegen seiner „kulturellen“ Bedeutung; die hat er für die Menschen als Kulturwesen.

    In diesem Falle wird man diese kulturelle Bedeutung als religiöse näher bestimmen können. Ein solcher Hain könnte aber auch eine kulturelle Bedeutung haben, die man als ästhetische näher bestimmen kann, oder als eine der nationalen Symbolik. All das kann es verbieten, ihn zu berühren, seine „eigene menschenunabhängige Realität“ zu erhalten. Aber der Grund ist sein Kulturwert.

    Ein Wald („Hain“ paßt dann nicht recht) kann auch eine kulturelle Bedeutung als Wildnis haben. Sie kann sich dadurch begründen, daß man in der jeweiligen Kultur überzeugt ist, die Lebewesen in dem Wald hätten einen „Eigenwert“. Sie kann sich auch dadurch begründen, daß man eine besondere, verpflichtende Verbindung zwischen dem Wald als Wildnis (nicht als Paradies, nicht als Lebensraum für Tiere, nicht als …, sondern eben als Wildnis, als unbezähmbare, ursprüngliche oder in „wilder“ Form wiederkehrende Natur etwa) und der Tradition der eigenen Kultur geben. (So etwas gibt es z. B. in Finnland und in den USA.) In diesem Falle ist diese Wildnis ein Kulturgegenstand, ein „Kulturgut“, und ihre Erhaltung wäre eine Kulturaufgabe. Sie ist eine Kulturaufgabe im gleichen Sinne, wie die Erhaltung eines Bauwerks eine sein kann. Aber anders als in diesem Fall kann bei der Wildnis die Kulturaufgabe den Schutz von jeder, wirklich jeder Berührung einschließen. Die Erhaltung des alten Bauwerks geschieht, wenn sie als Kulturaufgabe betrachtet wird, nicht, weil es zu irgendeinem Zweck noch nützlich ist (und sei es als Ort für „kulturelle“ Veranstaltungen), sondern „um seiner selbst willen“, aber nicht seiner selbst als eines materiellen Gebildes, sondern weil es in seiner bloßen Existenz eine kulturelle Bedeutung hat (zu der freilich das originalen Material wesentlich sein kann – oder auch nicht, das ist eine sekundäre Frage).

    Die Erhaltung von unberührter Natur läßt sich nicht ökologisch begründen. Welche ökologischen Funktionen man sich auch ausdenken mag, die ein Wald, ein Gebirge, ein Moor erfüllt: Sie können ebenso erfüllt werden, wenn diese Ökosysteme – mit Bedacht natürlich – verändert werden, Unberührtheit ist nicht Voraussetzung dafür. Unberührtheit ist vielmehr ein Kulturwert. Er ist auf jeden Fall faktisch kulturrelativ, denn in anderen Kulturen/Zeiten sprach man der Unberührtheit diesen Wert nicht zu. Man kann aber eben diesen Kulturwert mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit aussprechen (so wie das unsere Kultur mit ihrem Kulturwert „Menschenrechte“ seit einiger Zeit tut). Das tun Sie, und vielleicht haben sie damit recht. Sie sollten den Anspruch auf Allgemeingültigkeit aber nicht ökologisch begründen, d. h. von Ansprüchen des Menschen als eines physischen Wesens her. Denn dazu braucht man die Unberührtheit nicht und auch nicht, daß die unberührte Natur die Bedeutung „Wildnis“ hat.

  15. Nicht Vision, andere Sicht der Welt

    Jürgen Gerdes segregatives Naturschutzkonzept kann nicht als Utopie abgetan werden, sondern es ist eine der Antworten auf die Frage wie das Verhältnis Mensch/Natur gestaltet werden soll. Die beiden anderen möglichen Antworten nenne ich hier den domestifizierenden/eliminatorischen Ansatz und den integrativen Ansatz.
    Heute wird mehr über das Verhältnis Mensch/Natur nachgedacht, ist dieses Verhältnis also weniger selbstverständlich und stärker hinterfragt, weil
    1) der Mensch zum dominierenden Faktor auf der Erde geworden ist. Man spricht vom neuen Zeitalter des Anthropozäns
    2) Artenschutz und Biodiversität von immer mehr Menschen und Organisationen positiv bewertet werden und weil zunehmend auch Tieren Rechte zugestanden und ihnen ein Existenzrecht eingeräumt wird.

    Verhältnis Mensch-Natur: der domestifizierende/eliminatorische Ansatz

    Ludwig Trepl verkörpert diesen Ansatz, der die Natur veredeln und aus menschlicher Sicht perfektionieren will und der Arten eliminiert, wenn sie nicht in die geplante und gewünschte Landschaft passen oder dem Menschen gefährlich werden können. Arten werden hier instrumentell/funktional gesehen. Deshalb kommt Ludwig Trepl zum Schluss, eine oder zwei Bienenarten würden für die meisten Landschaften genügen, auf den Rest der bestäubenden Insekten könnte man ruhig verzichten und deshalb sieht er keinen tieferen Wert in Biodiversitätsbestrebungen.

    Zitat 1:

    selbst wenn man die Wälder unter dem Gesichtspunkt der Kohlenstoffspeicherung optimiert, also alle für die Maximalleistung erforderlichen Pflanzen und ihre Mutualisten sowie alle ihre indirekten Förderer, z. B. remineralisierende Bodenorganismen einsetzt, so wäre doch die dafür erforderliche Artenzahl klein im Vergleich zur derzeit in Mitteleuropa vorhandenen. Man könnte die meisten Arten problemlos ausrotten

    Zitat 2:
    Aus einem Bericht der CH-Umweltbehörde: „Mit ihrer Bestäubungsleistung sichern die Bienenvölker der Schweiz jährlich eine Agrarproduktion von US$ 213 Mio., rund fünfmal mehr als die Honigproduktion“
    Beurteilung von Ludwig Trepl: Dazu braucht man keine Biodiversität, sondern eine einzige Nutztierart und einige wenige Pflanzenarten.

    Verhältnis Mensch-Natur: der integrative Ansatz
    Hier will man die “Natur” und die Vielfalt der Arten durch Rücksichtsnahme auf die Natur erhalten und ihr – der Natur – innerhalb der vom Menschen gestalteten Landschaft Refugien bieten. Die Biolandwirt beispielsweise lässt Brachen (unbearbeitetes Land) zwischen seinen Feldern um dort seltenen Arten ein Zuhause zu bieten.
    Auch der Versuch Wolf und Bär wieder in Italien, der Schweiz und Österreich frei herumlaufen zu lassen gehört zum integrativen Ansatz. Gerade jetzt zieht der Bär M13 durch das Schweizer Bündnerland. Er sei allerdings an der Grenze zum Problembären, komme er doch menschlichen Siedlungen immer wieder gefährlich nahe.
    Der integrative Ansatz wird von der breiten Bevölkerung gut verstanden, kommt allerdings auch schnell an seine Grenzen, wenn es darum geht, wildere Gesellen der Natur zu “integrieren”.
    Hier ein Beispiel für die Popularität des “integrativen Ansatzes: Der frühere Schweizer Umweltminister sprach aus Anlass des Biodiversitätsjahres in der Tagesschau von den Biodiversitätsdienstleistungen, die die Schweizer Landwirtschft vollbringe und wies an einem Marktstand stehend auf die Vielfalt der Apfelsorten hin, was doch ein Zeichen der Sorge um Biodiversität sei. Damit versuchte er wohl, Landwirte und gründenkende Städter gleichzeitig zu erreichen.
    Verhältnis Mensch-Natur: der segregatorische Ansatz

    Der segregatorische Ansatz gibt der Natur ein grundsätzliches nicht nur situtatives Existenzrecht: Nicht nur einzelen Tiere haben ein Existenzrecht (etwas was heute viele in der modernen Gesellschaft akzeptieren) und sollen sich gemäss ihrer eigenen Facon entwickeln. Nein auch weite Teile der Erdoberfläche sollen sich ungestört vom Menschen entwickeln, denn so war es ja noch vor einigen hundert Jahren. Wenn der Mensch auch noch den letzten Winkel auf der Erde kontrolliert, so gewinnt er nichts dazu, er verliert nur sehr viel. Für den segregativen Ansatz führt das Gerede von Ökosystemdienstleistungen, Biodiversität etc. am wesentlichen vorbei. Es geht bei diesem Ansatz nicht darum möglichste viele Arten auf der roten Liste zu retten, sondern darum einen Raum zu schaffen oder übrigzulassen, für den man gar keine rote Liste mehr braucht.

    Haltung zu Natur und zur Artenvielfalt bei diesen 3 Ansätzen
    Angenommen, eine seltene giftige Skorpionart (auf der roten Liste) stirbt aus. Wie reagieren Vertreter der 3 Ansätze.
    Wer den domestizierenden, eliminatorischen Ansatz vertritt, begrüsst das Aussterben einer für den Menschen unnützen Art. Wer den integrativen Ansatz vertritt, bedauert, dass es zu wenige Biobauern gibt, die dem giftigen Skorpion noch Platz gewähren und wer den segregatorischen Ansatz vertritt sieht das Aussterben als systemimmament und glaubt den Gutmenschen, die dieses Aussterben bedauern nicht wirklich.

  16. @ RD

    „’Rückzug des Menschen als dominant gestaltender und bestimmender Faktor’“ statt ‘Rückzug’ der Spezies Mensch“ wäre eine etwas bessere Formulierung, meinen Sie.

    Ich halte diese Begriffe für untauglich, sie sind zu abstrakt und bei genauerer Prüfung sieht man, daß sie nicht viel erklären. Nehmen Sie folgende Beispiele: Es gibt Landnutzungsformen, etwa gartenbauartige in Asien, die sind extrem intensiv „gestaltend“ und „bestimmend“, und doch wüßte ich nicht zu sagen, wieso man aus ökologischen Gründen etwas gegen sie haben sollte (sehr ähnliche Landnutzungsformen unter anderen Klima- und Bodenbedingungen, z. B. in Nordchina, haben dagegen regelrechte Mondlandschaften hinterlassen).

    Andererseits gab es „Landnutzungsformen“, nämlich Jagd, die sehr extensiv waren, von denen sich nur extrem wenige Menschen auf riesiger Fläche ernähren konnten, und zwar durch das Töten ganz weniger Tierindividuen. Wenn aber die entsprechenden Theorien stimmen (was ich mich nicht zu beurteilen traue), dann wurde ein großer Teil der gejagten Tierarten ausgerottet und Gebiete wie Mitteleuropa und Teile Nordamerikas, die von Natur aus ähnlich offen waren wie die heutigen Kulturlandschaften, wurden von dichtem Wald überzogen. Für die von der Jagd lebenden Menschen dürfte das eine ziemliche Katastrophe gewesen sein.

    Man sollte überhaupt nicht von „dem Menschen“ oder „der Spezies Mensch“ reden. Die Ursache der derzeitigen großen ökologischen Veränderungen ist nicht der Mensch, sondern ein bestimmtes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, der Kapitalismus, dessen Wesen in der für uns relevanten Hinsicht in seiner Maßlosigkeit besteht (statt W-G-W gilt G-W-G, nach den Marx’schen Formeln). Vielleicht gab es solche ein entgrenztes Wachstum implizierende Systeme auch schon in antiken Hochkulturen, ich weiß es nicht, aber sie waren dann nicht von Dauer und besonderer Reichweite, sind vielleicht durch einen Barbareneinfall untergegangen. Für uns jedenfalls ist das kapitalistische System und nichts anderes relevant.

    Im Übrigen halte ich die Engführung der sog. ökologischen Problematik auf „Klimawandel“ für schlecht.

  17. @ Detfef Piepke

    Sie wollen „mehr die aktuelle, als die historische Situation als Ausgangspunkt für Begriffsdefinitionen zu nehmen“ – für Definitionen z. B. des Konservativismus. Ich glaube einerseits, daß hier kein prinzipiell Problem liegt, andererseits sollte man das nicht so – aktuell-historisch – trennen; eine historische Situation zu nehmen kann dem Verständnis der aktuellen Situation dienen.

    Kein prinzipielles Problem: Man kann doch ohne weiteres das Wort konservativ benutzen, wenn man über die Parteien im Parlament redet, und damit die Unionsparteien meinen, auch wenn man denen recht gibt, die meinen, die seien eigentlich gar nicht mehr konservativ. Man kann das Wort auch ganz abstrakt (als „Gattungsbegriff“ im Sinne von Max Weber) benutzen im Sinne von „Verteidigung des Bestehenden“ und z. B. einen Kommunisten, der die bestehenden Machtverhältnisse in der DDR gegen die Gorbatschow’schen Reformen verteidigte, einen Konservativen nennen, obwohl man in den üblichen politischen Klassifikationen den Kommunismus zum fortschrittlichen Lager zählt; oder auch einen Jungsteinzeitmenschen, der gegen die Neuerer dafür ist, weiterhin Steinäxte zu benutzen.

    Nicht so trennen: Wenn man Begriffe wie Konservativismus benutzt, um die historische Entwicklung und die aktuelle Situation besser zu verstehen, dann ist es sinnvoll, zum Ausgangspunkt der Begriffsdefinition nicht so etwas zu nehmen wie den „technokratischen Konservativismus“ oder die „konservative Revolution“ der Zeit nach 1900, weil man ja doch den Begriff Konservativismus benutzt, um eine bestimmte politische Richtung, die einer bestimmten Epoche zugehört, eindeutig zu markieren und damit auch abzugrenzen z. B. gegen die, die auf „Revolution“ oder „technischen Fortschritt“ setzen. Es scheint mir darum sinnvoll, die klassische Gestalt des Konservativismus als Ausgangspunkt zu nehmen, so, wie er halt um 1800 entstanden ist. Dann wird eine spezifische Gestalt mit einer ganz eigenen Struktur und Dynamik besser sichtbar. Heute findet man die vor allem in bestimmten christlichen Kreisen, weniger, aber auch in den als konservativ geltenden Parteien.

  18. „..’Rückzug’ der Spezies Mensch aus der Fläche …’
    Wieso der Spezies Mensch?.. „
    Richtig. Eine etwas bessere Formulierung wäre: ‘Rückzug des Menschen als dominant gestaltender und bestimmender Faktor’ oder so ähnlich.
    „Sie meinen die den Gründen offenbar ökologische, also naturwissenschaftlich beschreibbare, im Unterschied zu den ethischen, die Herr Gerdes hier geltend macht, oder kulturellen …“
    An erster Stelle ja, obwohl ich den Erhalt von Biodiversität auch für einen sehr hohen Wert halte. Ein Wert der nicht in Zahlen fassbar ist. Was verloren geht ist möglicherweise unwiederbringlich verloren. Aber die ökologischen Gründe geben mir im Hinblick auf nachfolgende Generationen größten Anlass zur Sorge.
    „ Man könnte, wenn man es richtig macht, die Menschheit ziemlich gleichmäßig über die überhaupt nutzbare Landfläche verteilen statt sie in Ballungsgebieten zu konzentrieren, ohne daß das ökologische Schäden verursacht. „
    Das mag sein, aber es wird schwierig, wenn man gleichzeitig den ökologischen Fußabdruck minimieren will. Letzteres ist für die Bewohner eines Reihenhauses einfacher als für ein alleinstehendes, für eine große Siedlung einfacher als für eine keine, für entsprechend konzipierte Hochäuser ist es noch einfacher. Es ist die Sicht durch meine Ingenieursbrille. Nicht dass mir die Tendenz zur Batteriehaltung von Menschen behagen würde, aber, wir müssen sehr pragmatisch denken um die Probleme des menschengemachten Klimawandels zu überwinden. Viel Zeit bleibt wohl nicht.
    Für den Erhalt von nachhaltiger, gewachsener Kulturlandschaften bleibt durch einen sanften ‘Rückzug aus der Fläche’ ja auch noch Spielraum, soweit der zu befürchtende Klimawandel dies zulässt, wobei man sich ja auch hier den neuen Bedingungen eines sich verändernden Klimas stellen muss.

  19. @ RD

    „Es gibt … genügend … Gründe für einen weitgehenden ‘Rückzug’ der Spezies Mensch aus der Fläche und stattdessen eine Konzentration in begrenzten Ballungszentren“.
    Wieso der Spezies Mensch? Wo wollen Sie mit den Indianern hin, die im Regenwald leben? Die gehören doch auch dieser Spezies an.

    Sie meinen mit den Gründen offenbar ökologische, also naturwissenschaftlich beschreibbare, im Unterschied zu den ethischen, die Herr Gerdes hier geltend macht, oder kulturellen (kulturrelativen).

    Solche Gründe aber kann ich nicht sehen. Es gibt bestimmte Arten der Landnutzung, die ökologisch schädlich sind in dem Sinne, wie das in den einschlägigen Diskussionen gemeint ist, aber es sind bestimmte Arten der Nutzung, nicht Nutzung schlechthin, und andere Arten schaden den Menschen ökologisch gar nicht (auch wenn manche Menschen Interessen haben können, die doch beeinträchtigt werden) . Man könnte, wenn man es richtig macht, die Menschheit ziemlich gleichmäßig über die überhaupt nutzbare Landfläche verteilen statt sie in Ballungsgebieten zu konzentrieren, ohne daß das ökologische Schäden verursacht. Unberührte Natur gibt es dann nicht mehr viel. Wenn man sie erhalten will, muß man das anders begründen als ökologisch.

  20. Konservativismus oder Liberalismus

    Da ich schon vor einigen Jahren aus der akademischen Philosophie ausgestiegen bin, kann ich es mir sozusagen leisten, mehr die aktuelle, als die historische Situation als Ausgangspunkt für Begriffsdefinitionen zu nehmen.
    Sie haben natürlich Recht, dass auf “christlichen Werten” basierende Staaten (auch im deutschen GG gibt es ja sogar noch einen “Gottesbezug”) einen Finanzkapitalismus gar nicht zulassen dürften. Die aktuelle Situation ist aber eben eine völlig andere.
    Ob USA, UK oder BRD (die Liste ließe sich beliebig verlängern), es sind immer die, die sich selber als konservativ definieren, die den Status Quo des Kapitalismus erhalten wollen.
    Da stellt sich höchstens die Frage, wer die Definitionshoheit besitzt.
    Aktuell tun sich jedenfalls sehr gerne die “Konservativen” und die “Liberalen” zusammen, was Philosophie-historisch betrachtet natürlich äußerst merkwürdig ist, bzw. wäre wenn man es täte …

  21. @ Piepke

    „Sie [die Utopien] abzutun, nur weil sie sich von einer aktuellen Gegenwart radikal unterscheiden, ist nun wieder eine sehr radikale Beschränkung des Denkens … das kann leicht zur Beschränktheit führen“.

    Sie haben recht, ich muß meinen Satz etwas revidieren. Eine Utopie kann aber völlig ohne Anschluß an das sein, was überhaupt oder von der jeweiligen historischen Situation aus möglich ist, oder auch nicht. Eine solche unmögliche Utopie wäre die Rückkehr zu einer nicht-industriellen, bäuerlichen Gesellschaft (also das, was Herr Gerdes meint, bei mir zu finden). – Unterscheiden von der Utopie sollte man IDEEN, wie z. B. die Idee der Freiheit. Diese ist streng genommen nicht verwirklichbar, aber doch kann (und ich meine: muß) die Idee der Freiheit (oberste) Leitidee sein, und zwar unabhängig von der historischen Situation.

    „ ‚…. auch an eine nennenswerte Annäherung gar nicht zu denken braucht.’ [Zitat aus meinem Kommentar](Das könnte so im Glaubensbekenntnis des Konservativismus stehen.(Auch der kann sich z.B. aktuell eine Welt ohne den Finanzkapitalismus gar nicht vorstellen.“

    Da bringen sie etwas durcheinander. Der Konservativismus war von Anfang an gegen die Welt des Finanzkapitalismus, gegen diese Welt ist er überhaupt entstanden. Daß sich die Konservativen viel später aus Gründen der Machterhaltung mit dem Kapitalismus arrangiert haben, berührt nicht das Wesen dieser Weltanschauung. Lesen Sie, was aus dem Vatikan kommt, das ergibt einen sinnvollen Begriff von Konservativismus. Sie hätten an dieser Stelle Liberalismus statt Konservativismus schreiben sollen.

  22. Tendenzieller Rückzug aus der Fläche

    Vielen Dank für Ihre Vision, der ich sehr viel abgewinnen kann.
    ‘Ich halte den Eigenwert von Lebewesen und Schöpfungen der Natur tatsächlich für nicht kulturrelativ, sondern für ein ethisches, allgemeingültiges Axiom.’ 
    Auch wenn ich diese Meinung teile, man muss ja nicht dieser Auffassung sein um die generelle Vision gut zu heißen.
    Es gibt ja, wie im Text erwähnt, genügend andere, banalere Gründe für einen weitghenden ‘Rückzug’ der Spezies Mensch aus der Fläche und stattdessen eine Konzentration in begrenzten Ballungszentren.
    Allein um bald 10+X Milliarden Menschen zu ernähren und gleichzeitig das klimatische Gleichgewicht des Planeten nicht vollends außer Kontrolle geraten zu lassen (falls das nicht schon passiert ist) scheint Grund genug zu sein eine möglichst ,effiziente Siedlungsdichte’ für notwendig zu halten.
    Ein plakatives Beispiel ist der Erhalt von Regenwaldzonen, nicht nur als Refugium einer phantastischen Artenvielfalt, sonder als ‘grüne Lungen’ bzw. ‘Kohlendioxydsenken’.
    Allgemeiner läuft es natürlich auf die Minimierung des ökologischen Fußabdruck unserer Spezies hinaus. Was kann der kleine blaue Planet gerade noch verkraften, bevor sich die gewohnten Lebensbedingungen auch für die anpassungsfähige Spezies Mensch allzu drastisch und irreversibel verändern?
    Wenn ich an Deutschland denke, fällt mir die aktuelle Diskussion um um die Entfernungspauschale ein. Der Begriff Zersiedlungspauschale trifft es meiner Meinung nach ganz gut.
    Individualverkehr braucht gigantische Mengen an Raum, macht Städte unattraktiv und teuer, veranlasst die Mittelschicht in die Periferie zu ziehen oder dort zu bleiben und zu pendeln. In der Folge muss noch mehr Raum und Landschaft alphaltiert und fragmentiert werden. Ein Teufelskreis, an den die Meisten sich so sehr gewöhnt haben, dass man sich schwer tut dagegen an zu argumentieren ohne in irgendeine ökologistische Schublade gesteckt zu werden.

  23. @ Trepl Utopien

    Interessante Utopien sollten für jeden denkenden Mensch von Bedeutung sein. Sie sind schlicht notwendig, um Handlungsoptionen auszuloten. Sie abzutun, nur weil sie sich von einer aktuellen Gegenwart radikal unterscheiden, ist nun wieder eine sehr radikale Beschränkung des Denkens … das kann leicht zur Beschränktheit führen:
    “… wie halt Utopien meist so sind: derart radikal anders als die Gegenwart, daß man nicht nur an eine Verwirklichung, sondern auch an eine nennenswerte Annäherung gar nicht zu denken braucht.”
    Das könnte so im Glaubensbekenntnis des Konservativismus stehen.
    Auch der kann sich z.B. aktuell eine Welt ohne den Finanzkapitalismus gar nicht vorstellen und wird deshalb auch hoffentlich scheitern.
    Die Utopie von Herrn Gerdes ist, wie ich oben schon schrieb, schön, interessant und sehr nützlich.

  24. Einige kleine Anmerkungen möchte ich doch hier schon machen. Sie schreiben:

    „Mir ist es nicht gelungen, meine gerade erst erwachsen gewordenen Kinder für ein solches „Naturerfahrungsgelände“ [Ihre Heimatlandschaft am oberen Main] zu begeistern, und ich sehe an der Bildungsarbeit der Verbände, in denen ich engagiert bin, dass das für die gesamte Generation gilt. Die Urbanisierung und Virtualisierung des Lebens ist nicht mehr aufzuhalten.“

    Diese Erfahrung haben unsere Eltern auch mit unserer Generation gemacht, falls sie, was damals selten war, den Versuch eine solchen Begeisterung unternommen haben. Unter all den 60-jährigen, die sich heute für die Kulturlandschaft begeistern, dürfte kaum einer sein, der schon mit 16 begeistert war. Das paßt nicht zur Jugend, ebenso wie Rosenzüchten, aber die Alten tun es dann doch, in jeder Generation wieder.

    Daß es eine Zeitlang anders schien, lag daran, daß die Begeisterung für die Landschaft mit politischer Rebellion assoziiert war – um 1800, um 1900 und nach 1970. Ich vermute, solche Wellen kommen wieder, denn es liegt im Wesen des industriellen Kapitalismus, daß sich die Opposition gegen ihn – und die bringt er mit Notwendigkeit hervor – nicht nur, aber doch auch mit der Idee der heilen Vergangenheit und damit mit der Idee der Landschaft als Einheit von Land und Leuten, die eine Einheit von Vielfalt, Eigenart und Schönheit ist, verbindet. Das heißt nicht, wie Sie offenbar glauben, daß ich dieser Idee anhinge, ich behaupte nur, daß unsere Gesellschaft ihr nicht entgehen kann (und auch Sie und ich ihr nicht entgehen können). Die Frage der Aussichtslosigkeit – das ist ja Ihr Hauptargument – ist eine andere. Die würde ich mir hier gerne aufsparen und getrennt behandeln.

  25. Lieber Herr Gerdes,

    ich würde gern fast jeden Satz kommentieren – manchmal widersprechen, manchmal ergänzen und etwas umbiegen. Vielleicht mache ich eine Serie von Blogbeiträgen daraus, denn für Kommentare würde es meist zu lang werden. Das wäre doch sicher auch in Ihrem Sinne, Sie wollen ja, daß Ihre Idee diskutiert wird.

    Eines schon mal vorweg: Ich hatte bisher den Eindruck, es handle sich um eine realitätsferne Vision, wie halt Utopien meist so sind: derart radikal anders als die Gegenwart, daß man nicht nur an eine Verwirklichung, sondern auch an eine nennenswerte Annäherung gar nicht zu denken braucht. Aber nun sehe ich, daß die Sache im Kern ganz realistisch und pragmatisch ist: Es ist, auf der unmittelbar politischen Ebene, ein Vorschlag für eine Umorientierung der Raumordnungspolitik, nämlich nicht mehr „überall gleiche Lebensverhältnisse“.

    Vorbehalte habe ich natürlich immer noch eine Menge, vor allem: Warum soll ich das denn wollen?

    Viele Grüße ins Frankenland (Ich hoffe, wenigstens das bleibt von der Wildnis-Metropolen-Vision ausgespart.)

    Ludwig Trepl

  26. Ein schöner und interessanter Beitrag.
    Eine sehr respektable Sicht der Dinge. Aber niemand kommentiert … Merkwürdig.