• Von Ludwig Trepl
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Die Sinnsuche in der Natur bleibt im »tierischen Wohlbehagen“ stecken. Teil 3 von „Das Fliegen gelingt nicht mehr“

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Unsere Umwelt zwischen Kultur und Natur
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Der derzeitige Naturkult verlangt, dass die Natur Natur bleibt, etwas rein Physisches. Als solches ist sie sowohl nützlich als auch das alles umfassende Ökosystem, dessen Gesetzen wir uns fügen müssen. Es gelingt nicht mehr, sich über die Natur zu erheben, auch da nicht, wo sie Gottesersatz ist.

Das Erhabenheitserlebnis der Aufklärungszeit war ein ästhetisches Erlebnis, das aber auf die ›übernatürliche‹, die moralische Welt, in der der Mensch gegen alle Drohungen und Verlockungen der Sinnenwelt seiner Pflicht zu folgen hat und dies auch kann, unmittelbar bezogen ist. Dieses Erlebnis will sich aber heute offenbar nicht mehr so recht einstellen. Sätze wie dieser sind heute kaum vorstellbar: dass dem heutigen Menschen die »unfaßbare« und »verderbende« Natur Anlass ist, die »Überlegenheit seiner Ideen über das Höchste, was die Sinnlichkeit leisten kann, desto lebhafter zu empfinden. Der Anblick unbegrenzter Fernen und unabsehbarer Höhen, der weite Ozean zu seinen Füßen und der größere Ozean über ihm entreißen seinen Geist der engen Sphäre des Wirklichen und der drückenden Gefangenschaft des physischen Lebens« (Schiller). Uns fehlen aber heute, in einer Atmosphäre des alles durchdringenden Utilitarismus, die erhabenen Ideen über uns selbst, die wachgerufen werden könnten. Und es ist schwer, sich die Natur angesichts eines gewaltigen Berghangs als aller menschlichen Kraft unendlich überlegen vorzustellen, wenn man weiß, dass man an ihm eine Seilbahn hochbauen könnte und sich von jedem beliebigen Ort in den Bergen mit dem Hubschrauber retten lassen könnte. Es genügt immer weniger, die erhabenen Naturerscheinungen nur anzusehen, es reicht nicht, dass wir »uns bloß den Fall denken, da wir ihm [dem furchtbaren Naturphänomen] etwa Widerstand tun wollten, und daß alsdann aller Widerstand bei weitem vergeblich sein würde« (Kant). Vielmehr haben immer mehr Menschen, wie vor allem die Entwicklung der Bergsteigerei zeigt, offenbar das Gefühl, dass sie jenen Widerstand wirklich leisten müssten, dass sie real ihr Leben aufs Spiel setzen müssten, um aus dem irdischen Leben erhebende Erfahrungen zu machen ähnlich jenen, zu denen man im 18. Jahrhundert den sicheren Standpunkt des distanzierten Betrachters brauchte. Wirklich lebensbedrohliche Situationen werden darum künstlich hergestellt, wo ein Sieg über die bedrohliche Natur sonst ohne weiteres möglich wäre; Reinhold Messner ersteigt ohne Sauerstoffgerät, das er doch jederzeit zu Hilfe nehmen könnte, die Gipfel des Himalaja. Ob so wirklich dem Erhabenheitserlebnis ähnliche Erfahrungen zu machen sind, darf man allerdings bezweifeln; es sind wohl doch nur die Rauschzustände des Abenteurers, die man auf diese Weise erreicht. Auch er erhebt sich ja über sein irdisches Leben, indem er es riskiert. Aber er tut das aus Leichtsinn und um einer größeren Lust willen, während es für das Erhabenheitserlebnis wesentlich war, sich bewusst zu werden, dass der Mensch jeder Naturgewalt im moralischen Sinn widerstehen könnte, dass er sein Leben riskieren könnte, wenn die Pflicht es erforderte. Denn das Erhabenheitserlebnis verlangt, dass es erhabene Ideen sind, die der Anblick der unendlich überlegenen Natur in uns heraufruft; solche Ideen aber sind mit Abenteurertum nicht verbunden.

Doch Versuche, sich über die Beschränkungen zu erheben, denen wir als Naturwesen unterliegen, sind die Abenteuersportarten auch. Das Gipfelgefühl – allein unter dem Himmel zu stehen, aber erst nach einer ›übermenschlichen‹ Leistung – resultiert in gewissem Sinne durchaus aus einer Überlegenheit über alle Natur. Der Bergsteiger hat sich sowohl der Natur des Berges als auch seiner eigenen Natur überlegen erwiesen. »Er vollbringt quasi Übernatürliches, aber nicht auf einer geistig-moralischen Ebene, sondern in dem Sinn, dass er sich als Naturwesen aller anderen Natur überlegen zeigt« (Deborah Hoheisel). Der Sinn ist nicht, sich über die Natur in eine ganz andere Sphäre zu erheben, sondern gleichsam mit ihr eins zu werden, selbst Naturwesen zu werden, aber das größte, stärkste Naturwesen unter allen. Das fühlt der Kämpfer auf dem Gipfel. Damit verwischt sich aber der Unterschied zwischen denen, deren Motivation jener von Jean Pauls vierter Kaste entspricht, und denen der zweiten, während früher dazwischen Welten lagen. Denn auch der Körper- und Gesundheitskult ist ein Versuch, sich von der Natur zu lösen. Die Vorstellung der perfekten, also einer in dieser Welt unerreichbaren Gesundheit, die Vorstellung eines Körpers, der aussieht, wie von Natur aus kein Körper aussehen könnte, und der zu Leistungen in der Lage ist, die man nie einem menschlichen Körper zugetraut hätte, entstammen der Sehnsucht, alle Natur zu transzendieren. Aber zugleich ist in der Gesellschaft des allgegenwärtigen Körper- und Naturkults jede Vorstellung davon verschwunden, dass man als Mensch auch etwas anderes ist oder sein könnte oder sein sollte als Natur, und das Gefühl, bis zu dem man gelangt, ist darum im Prinzip nur »tierisches Wohlbehagen«. Weil man aber dadurch in dem Gefängnis bleibt, dem man doch mit all den Qualen, die man sich antut, entkommen möchte, bleibt ein Gefühl des Ungenügens, das zur Fortsetzung der Quälerei auf immer neuer Stufe treibt, und von der einzigen sicheren Möglichkeit des Entkommens bekommt man ein Gefühl nur im Riskieren des Todes. Das ist aber, wenn es – und so ist es ja heute – dieses Gefühls wegen geschieht, wegen eines Lustgefühls also, vom »tierischen Wohlbehagen« nicht prinzipiell unterschieden. So trennen sich die heutigen Weisen des ›Naturerlebnisses‹ von den damaligen: Der Aufklärer, der im Anblick der erhabenen Bergwelt die Erhabenheit seiner eigenen Bestimmung als Mensch fühlte, der konservative Gegenaufklärer, der sich in einem gottgegebenen Naturganzen als dienendes und behütetes Glied wusste, und der Romantiker, der mit dem Blick des Künstlers die profane Welt wiederverzauberte, also die verschiedenen Varianten der Spazierer der vierten Kaste, hatten sich jeder auf seine Art aus den Niederungen der beiden unteren Kasten erhoben.

Heute aber blockiert der Zeitgeist sich selber. Utilitaristisch, wie er ist, verhindert er sehr wirksam die Erhebung aus der empirischen Welt durch ›erhabene Ideen‹ über die Bestimmung des Menschen wie in der Aufklärung. Modern und aufgeklärt, wie er sein möchte, kann er an einen höheren Sinn der Natur, gewährleistet durch ihren Schöpfer, nicht mehr glauben wie die konservative und die romantische Gegenaufklärung. In der Natur, im Empirischen, Sinnlichen selbst muss das zu finden sein, was über sie hinausführt, einfach weil es etwas anderes nicht mehr gibt. Das war auch bereits das Problem der Romantik: Den aufklärerischen Weg über die Vernunft lehnte sie ab, und die voraufklärerische Sinnordnung schien ihr unwiederbringlich verloren. Aber sie kannte einen Weg – über die Kunst. Auf ihm kam man zwar weder zum erhabenen Bewusstsein seiner selbst noch in den Himmel, aber man war doch immerhin ständig in der Natur unterwegs auf dem – als notwendig scheiternd gewussten – Weg zum Himmel, und man brachte es so fertig, mit seinem eigenen »heiligen Auge« »in diese blühende Welt« die zweite, übernatürliche Welt zu verpflanzen. Offenbar verbietet sich der heutige Zeitgeist auch dies, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er sich schon die künstlerische Erhöhung der Natur verbietet. Der aktuelle Naturkult verlangt, dass die Natur – die des eigenen Körpers und die da draußen – Natur bleibt, etwas rein Physisches; als solches ist sie sowohl nützlich als auch, insofern sie das alles umfassende Ökosystem ist, dessen Gesetzen wir uns fügen müssen, Gottesersatz. Sie mit dem Künstlerblick zu beseelen würde bedeuten, zuzugestehen, dass wir uns in der Natur sehen, und das ist eine Art Gotteslästerung und zugleich ein Angriff gegen das, was man für den Geist der objektiven Wissenschaft hält. So bleiben alle Versuche, sich über die Sinnenwelt zu erheben, an dieser kleben, und das Fliegen, das wohl einst möglich war, gelingt nicht mehr.

 

Literatur

Hoheisel, Deborah; Trepl, Ludwig & Vicenzotti, Vera (2005): »Berge und Dschungel als Typen von Wildnis«. In: Berichte der ANL 29, S. 42-50.

Kant, Immanuel (1790/1996): Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe, Bd. X. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Schiller, Friedrich (1801): »Über das Erhabene«. In: Ders., Kleinere prosaische Schriften, Dritter Teil. Leipzig: Crusius, S. 3-43.

 

 

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Ich habe von 1969-1973 an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der FU Berlin Biologie studiert. Von 1994 bis zu meiner Emeritierung im Jahre 2011 war ich Inhaber des Lehrstuhls für Landschaftsökologie der Technischen Universität München. Nach meinem Studium war ich zehn Jahre lang ausschließlich in der empirischen Forschung (Geobotanik, Vegetationsökologie) tätig, dann habe ich mich vor allem mit Theorie und Geschichte der Ökologie befaßt, aber auch – besonders im Zusammenhang mit der Ausbildung von Landschaftsplanern und Landschaftsarchitekten – mit der Idee der Landschaft. Ludwig Trepl