Die Erde ist kein Lebewesen – Kritik der Gaia-Hypothese
BLOG: Landschaft & Oekologie
Die Gaia-Hypothese, der zufolge die Erde oder die Biosphäre ein Lebewesen ist, ist deshalb unhaltbar, weil (1) zu Fließgleichgewichten führende Rückkoppelungsschleifen, die von den Lebewesen ausgehen, keine hinreichende Bedingung dafür sind, die Gesamtheit der Lebewesen (oder deren Ökosystem) ein Lebewesen zu nennen, und (2) weil der Begriff der Selbstorganisation von den Befürwortern der Gaia-Hypothese in einem anderen Sinn verwendet wird, als er zur Charakterisierung von Organismen gebraucht werden kann.
Man hat mich gebeten, einen Lexikonbeitrag zur „Gaia-Hypothese“ zu schreiben, wohl deshalb, weil ich mich viel mit sogenannten Superorganismus-Theorien in der Ökologie befaßt habe. Die Gaia-Hypothese besagt, stark verkürzt, daß die Erde ein Lebewesen oder doch etwas Ähnliches sei. Die Superorganismus-Theorien in der Ökologie behaupten, daß biologische Gesellschaften (Lebensgemeinschaften, Biozönosen, ecological communities), bzw. diese als Einheit mit ihrer Umwelt betrachtet, d. h. als Ökosysteme, Organismen höherer Ordnung seien. Man kann dann diesen überorganismischen Einheiten Eigenschaften wie Gesundheit zuschreiben, da sie ja wiederum Organismen sind. Man kann, heißt das, Begriffe auf sie anwenden, die sich auf anderes als auf Organismen nicht anwenden lassen, es sei denn metaphorisch. Mit der ganzen Erde verhält es sich nach der Gaia-Hypothese ebenso; sie kann z. B. krank sein oder sie kann sich wehren.
Mit dieser Hypothese habe ich mich nie beschäftigt, anders als mit den Superorganismus-Theorien. Diese galten jahrzehntelang, bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts, nicht nur als respektable Auffassungen, sondern hatten in den Theoriediskussionen der Ökologie klar die Vorherrschaft (in der Öko-Ideologie haben sie diese heute noch). Seitdem sind sie in den Hintergrund getreten, aber nicht verschwunden. Der Gedanke, daß interagierende Organismen wiederum Organismen, also höherer Ordnung bilden, ist sozusagen einer der Pole, die die Theoriedynamik dieser Wissenschaft von Beginn an organisieren. Die Gaia-Hypothese, die es seit etwas über 30 Jahren gibt, begegnet einem in meinem Metier zwar ständig, doch schien sie mir bereits auf den ersten Blick derart deutlich als esoterischer Unfug erkennbar, daß ich meinte, mich nicht weiter mit ihr abgeben zu müssen. Nun habe ich mich, durch jene Anfrage veranlaßt, doch ein wenig umgesehen, wenn auch bei weitem nicht gründlich genug, um zu dem Thema einen in der üblichen Weise publizierbaren Text verfassen zu können. Aber das ist ja ein Vorteil des Blogs: Man kann auch unausgegorene Gedanken zur Diskussion stellen.
„Esoterisch“ habe ich eben geschrieben. In der Tat ist diese Hypothese vor allem in Esoterikerkreisen angekommen (siehe unten die Hinweise auf Internetseiten). In der Wissenschaft dagegen hatte man fast nur Spott für sie übrig.[1] Aber die Hypothese stammt von Wissenschaftlern, und zwar vor allem von dem Chemiker James Lovelock und der Mikrobiologin Lynn Margulis. Über die Leistungen von Lovelock in seinem Fach kann ich nichts sagen, es ist mir allzu fern. Margulis ist mir allerdings als sehr verdienstvolle Wissenschaftlerin bekannt, vor allem durch ihre Arbeiten zur Endosymbiosetheorie.
Nun kennt man das ja: Verdienstvolle Wissenschaftler versuchen sich öfter mal auf Gebieten, die jenseits ihrer Fachgrenzen liegen. Dagegen ist nichts zu einzuwenden. Sie können sich ja in andere Fächer einarbeiten und dann zu deren Fragen etwas beitragen. Es ist in aller Regel nichts von Bedeutung, was da herauskommt, doch kann es hinreichend solide sein, um nicht verschwiegen werden zu müssen. (Eben das versuche ich in diesem Blog ja auch.) Finster pflegt es allerdings zu werden, wenn sich die Wissenschaftler nicht in andere Fächer einarbeiten, sondern von ihrem Fach aus, mit dessen auf bestimmte Gegenstände zugeschnittenen Methoden, anderswo mitzureden versuchen, ja, meist nicht nur mitzureden, sondern etwas Grundstürzendes von sich zu geben.
Es sind so gut wie immer Naturwissenschaftler, die so etwas tun. Geistes- und Sozialwissenschaftlern oder Philosophen kommt es kaum, wenn überhaupt jemals in den Sinn, Naturwissenschaftler auf deren Gebiet berichtigen zu wollen. Das hat unter mehreren Gründen sicher auch den, daß sie gelernt haben, daß es Fachgrenzen gibt, und zwar gerade deshalb, weil sie oft gezwungen sind, über sie hinauszugreifen. Naturwissenschaftlern dagegen passiert letzteres kaum, weshalb sie gerne die Grenzen ihres Faches – zumindest die der Naturwissenschaft insgesamt – mit den Grenzen der Wissenschaft überhaupt und die Grenzen ihres Gegenstandsbereiches mit denen der Welt verwechseln. Max Weber hat ein Buch rezensiert, in dem sich der renommierte Chemiker Wilhelm Ostwald auf sozialwissenschaftliches Terrain vorgewagt hat; er wollte die Sozialwissenschaften mittels einer „energetischen Kulturtheorie“ revolutionieren. Weber hat von „naivem Banausentum“ gesprochen und die Sache damit getroffen, sowohl mit „naiv“ als auch mit „Banausentum“. Wolf Singer und Gerhard Roth, Richard Dawkins und Edward O. Wilson konnte er noch nicht kennen.
Wie ist es aber im Falle der Gaia-Hypothese? Haben die genannten Autoren wirklich ihre Kompetenzen überschritten? Ihre Gedanken haben sie mit dem Anspruch einer naturwissenschaftlichen Hypothese, also als empirisch prüfbare Behauptung formuliert. Lovelock wendet sich explizit dagegen, daß die Behauptung, die Erde oder zumindest die Biosphäre sei ein Lebewesen – was ihm allerdings manchmal auch als eine zu starke Formulierung vorkommt, dann ist sie nur noch ein System, das irgendwie einem Lebewesen gleicht –, impliziere, sie habe eine Seele. Da sieht er offenbar die Grenzen dessen überschritten, was einer Naturwissenschaft möglich ist. – Sicher hat er aber innerhalb der Naturwissenschaft die Grenzen seines Faches überschritten. Ein Chemiker ist hinsichtlich der Frage, was ein Lebewesen ausmacht, nicht weniger Laie als ein Archäologe oder ein Starkstromingenieur oder ein Tischler. Bei Margulis aber ist es, so scheint es zumindest, anders. Kein empirisches Forschungsgebiet hat vielleicht mit dieser Frage engere Berührung als ihres. Die Endosymbiosetheorie behauptet, daß manche oder viele Organellen der Eukaryonten ursprünglich selbständige Organismen waren (Chloroplasten z. B. seien freilebende Cyanobakterien gewesen). Das berührt den Kern der Frage, was ein Organismus ist und was insbesondere ein Organismus als ein Individuum ist. Und wenn sich die Theorien darüber, was das Wesen von Lebewesen ist – es sind philosophische Theorien und sie müssen das sein, nicht biologische – von einer biologischen Theorie überhaupt irritieren lassen müssen, dann, außer von der Darwin’schen, von dieser. – Soweit ich die Sache überblicke, kann man heute getrost sagen, daß die Endosymbiosetheorie nicht einfach eine unter mehreren ist und umstritten wie alle, sondern zutrifft.[2]
Ich will eine Anmerkung dazu machen, ob die Gaia-Hypothese in ihren naturwissenschaftlichen Aussagen haltbar ist. Die Frage, ob bzw. inwieweit man insgesamt überhaupt von einer naturwissenschaftlichen Hypothese sprechen kann und damit, ob die Autoren vielleicht Grenzen, die ihnen als Naturwissenschaftler gesetzt sind, überschritten haben, übergehe ich.
Die Befürworter der Gaia-Hypothese führen als empirische Belege an, daß Lebewesen eine große Wirkung auf die abiotische Umwelt im globalen Maßstab haben, daß es insbesondere von Lebewesen ausgehende negative Rückkoppelungsprozesse gibt, die zur Entstehung von Gleichgewichtszuständen in ihrer Umwelt führen. Sie sprechen in einer weithin üblichen, aber doch grob irreführenden Weise – ich komme darauf noch zu sprechen – von „Homöostase“. Beispiele sind der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre, die Temperatur der Erde und der Salzgehalt des Ozeanwassers. Sie würden, und das ist nun der entscheidende Punkt, durch die Aktivität der Lebewesen stabilisiert, und zwar bei Werten, die den Lebewesen in ihrer Gesamtheit, „dem Leben“, günstig sind. Dies aber geschehe deshalb, weil sie günstig sind.
Es gibt, nicht unerwartet, unter Naturwissenschaftlern den einen oder anderen, der mit der Gaia-Hypothese sympathisiert und sogar meint, sie sei dabei, in den Geowissenschaften zu einem „Paradigmenwechsel“ zu führen. Der Astronom Willerding (2004) z. B. schreibt: „Erstmals unterstützte nun auch die etablierte Geowissenschaft die Vorstellung, dass wohl tatsächlich auch die Lebenswelt des Planeten entscheidenden Einfluss auf bestimmte Aspekte der abiotischen Welt haben mußte … Eine solche aktive Beteiligung des Lebens galt noch vor 30 Jahren als Widerspruch gegen alle gängigen Vorstellungen. Inzwischen jedoch hat die Biosphäre als zentraler Bestandteil des Systems Erde – neben Lithosphäre, Hydrosphäre und Atmosphäre – längst ihren festen Platz im neuen Weltbild der Geowissenschaften gefunden – nicht zuletzt dank der Debatten um Lovelock und seiner Gaia-Hypothese.“ Das ist in völlig falsch. Man weiß schon seit langem, woher der Sauerstoff der Atmosphäre kommt. Man weiß auch, daß ein Großteil der Gesteine der Erdoberfläche biogenen Ursprungs ist in dem Sinne, daß ihre Bestandteile einst – oft mehrmals – Bestandteile der Körper von Lebewesen waren (das gilt nicht nur für den Korallenkalk und andere Sedimentgesteine, sondern auch für viele metamorphe Gesteine). Und man weiß auch, daß das Klima in hohem Maße von der Pflanzenbedeckung abhängt. Zu diesen Erkenntnissen und zu ihrer Akzeptanz in der Wissenschaftlergemeinde hat die Gaia-Hypothese gar nichts beigetragen, sie hat sie vielmehr vorgefunden und in ihrem Sinne interpretiert.
Sie hat solche Wirkungen der Lebewesen als Prozesse mit negativen Rückkoppelungen interpretiert, mithin als Prozesse, die zu Gleichgewichten führen. Auch das ist – und war dies schon lange vor der Gaia-Hypothese – völlig unbestritten, und auch daß es das in großem Umfang gibt, ist unbestritten. Die Gaia-Hypothese aber behauptet, wie angedeutet, mehr als nur auf diese Weise zustande kommende Gleichgewichte: Die Lebewesen (alle? einige? sie alle als systemare Einheit?) machen dadurch die Umwelt besser geeignet für „das Leben“, und zwar so, daß eben diese bessere Eignung die Erklärung dafür liefert, daß diese Prozesse ablaufen.
Das Denkmuster ist in der Ökologie bekannt (auch wenn es wohl den Erfindern und Befürwortern der Gaia-Hypothese gar nicht daher bekannt ist, sondern ihnen als ein mögliches Grundmuster abendländischer Welterklärung selbstverständlich ist[3]): In den Superorganismus-Theorien erzeugt z. B. ein Wald genau das Mikroklima und den Boden, den eben dieser Wald, mit all den für ihn charakteristischen Arten, braucht. Aber die Kritik liegt auf der Hand, und deshalb hält man in der Ökologie von solchen Deutungen auch kaum mehr etwas: Der Baumbestand erzeugt[4] in der Tat ein bestimmtes Mikroklima und einen bestimmten Boden. Und dann siedeln sich eben die Arten hier an, die zufällig auf die jeweiligen Flächen gelangen und diese Bedingungen brauchen oder ertragen. Das wird in den Superorganismus-Theorien holistisch-teleologisch uminterpretiert: Der Wald als Ganzheit schafft die Bedingungen für sich, wie ein Organismus, der, etwa durch den Bau einer Höhle, eine für sich selbst geeignete Umwelt erzeugt. So wird der Wald zum Überorganismus, worin die Einzelorganismen Organe oder Teile von Organen sind.
Aber die Lebewesen erzeugen in Wirklichkeit nicht nur solche Umweltbedingungen, die ihnen selbst günstig sind, und es sind nicht nur negative Rückkoppelungsschleifen, die von ihnen ausgehen. Ein Birkenwald – so ein klassisches Beispiel – erzeugt am Waldboden Lichtverhältnisse, das ihm selbst die Existenz unmöglich macht. Die Birken werden folglich von Bäumen anderer Arten verdrängt. James Kirchner hat explizit auf die Gaia-Hypothese bezogen ausgeführt, daß auch auf globaler Ebene solche für ihre Erzeuger negativen und (damit) destabilisierenden biotischen Wirkungen häufig vorkommen. Daß die durch die Gesamtheit der Lebewesen geschaffenen Umweltbedingungen für die jeweils zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort existierenden Lebewesen im allgemeinen günstig sind, hat einen anderen, sehr einfachen Grund: Evolutionär entstehen und halten sich vor allem solche Lebewesen, die unter eben den Umweltbedingungen lebensfähig sind, die von anderen, nämlich für die vor ihnen lebenden Lebewesen, von denen sie abstammen, günstig waren (und teils von ihnen geschaffen worden sind). Heutige Blütenpflanzen oder Vögel haben nicht Nachkommen, die die sauerstofffreie Atmosphäre früher Erdzeitalter benötigen, sondern solche Nachkommen, die die heutige Atmosphäre brauchen. Nachkommen von Lebewesen extrem salzhaltiger Gewässer gleichen weitgehend ihren Eltern und haben weitgehend deren Umweltansprüche, und sie werden in extrem salzhaltigen Gewässern geboren und nicht im Süßwasser oder im Bergwald. Bei mobilen Lebewesen ist der Grund der, daß sie „wandern“ und sich dann da ansiedeln, wo die für sie geeigneten ökologischen Bedingungen vorliegen.
Aber wenn auch, wie eben gesehen, das biogene Zustandekommen günstiger Umweltbedingungen für die jeweils vorkommenden Lebewesen sich ganz anders erklärt als die Gaia-Hypothese behauptet: Die Lebewesen haben zum Teil tatsächlich Wirkungen auf ihre Umwelt, die näherungsweise zu relativ langandauernden dynamischen Gleichgewichten führen, und dies auch in globalen Dimensionen. Der entscheidende Punkt ist nur: Das ergibt nicht den mindesten Grund, die Erde oder den von der Biosphäre „durchdrungenen“ Teil von ihr ein Lebewesen (höherer Ordnung) zu nennen. Daß die Befürworter der Gaia-Hypothese das meinen tun zu dürfen, liegt an einem falschen Verständnis dessen, was zwei Begriffe, nämlich Gleichgewicht und Selbstorganisation, bezogen auf Lebewesen bedeuten. Die für Lebewesen spezifische Art von Gleichgewicht ist etwas ganz anderes als das, was man in der Gaia-Hypothese dynamische Gleichgewichte nennt. Ebenso besteht zwischen dem, was man im Falle von Lebewesen meint, wenn man von Selbstorganisation spricht und damit ein Charakteristikum von Lebewesen benennen möchte, und dem, was man im Rahmen der Gaia-Hypothese mit diesem Begriff meint, ein fundamentaler Unterschied.
Zunächst zum Gleichgewicht. Man muß unterscheiden zwischen äußeren Gleichgewichten und dem inneren oder organischen Gleichgewicht.[5]
Nun hat man Lebewesen als offene Systeme im Fließgleichgewicht aufzufassen versucht. Ludwig von Bertalanffy hat gegen die Vitalisten diesen Begriff eingeführt, um darzutun, daß man keineswegs eine übernatürliche „Lebenskraft“ annehmen muß, wenn man die Lebenserscheinungen erklären will (Bertalanffy 1929, s. auch Voigt 2001). Lebewesen seien eine bestimmte Art von Systemen, nämlich eben offene Systeme im Fließgleichgewicht. Doch auch viele nicht-lebende offene Systeme kennen einen Zustand des Fließgleichgewichts, und selbst wenn sie sich nicht immer in diesem Zustand befinden, so „streben“ sie ihn doch an. Die von der Physik normalerweise behandelten Systeme – nämlich geschlossene oder als geschlossen behandelte Systeme – sind nach Bertalanffy ein Sonderfall. Systeme sind primär offen, und Organismen sind der Modellfall, aber nicht der einzige Fall offener Systeme.
Damit reicht aber – und das übersehen die Anhänger der Gaia-Hypothese – der Begriff der offenen Systeme im Fließgleichgewicht nicht aus, um das Wesentliche an Lebewesen zu beschreiben: Fließgleichgewichte kommen ja nicht nur bei Lebewesen vor. Wenn man offene Systeme im Fließgleichgewicht findet, ist das darum für die Frage, ob es sich bei dem Gegenstand, an dem man sie findet, um ein Lebewesen handelt, ohne Bedeutung.
Was ist nun der Unterschied zwischen Fließgleichgewichten, wie wir sie auch in der nichtlebenden Natur finden, und solchen Gleichgewichten („organischen“), die für Lebewesen spezifisch sind? Einige Beispiele für erstere:
Unter Geomorphologen ist es üblich, von Flüssen so zu sprechen, als ob sie Lebewesen wären. Sie sprechen z. B. davon, daß ein Fluß „bestrebt“ ist, seine „Schleppkraft“ auszunutzen, weshalb er dann, wenn diese so groß ist, daß er mehr an Gestein mit sich führen könnte als er mit sich führt, den Gewässerboden angreift. Unter Gleichgewichtsbedingungen aber bleibt der Gewässerboden in gleicher Höhe. Dieses Gleichgewicht strebt er an. Wenn die Geomorphologen nachdenken, wird ihnen bewußt, daß diese Art zu reden nur metaphorisch ist. Denn tatsächlich ist der Fluß natürlich kein Lebewesen, das sich selbst oder etwas an sich selbst trotz Veränderung äußerer Einwirkungen gleichzuhalten trachtet, sondern es handelt sich um ein einfaches Fließgleichgewicht: Es wird eben gerade so viel abgelagert wie abgetragen. Die Redeweise, daß der Fluß etwas anstrebt, ist ebenso metaphorisch wie die, daß ein Pendel nach Auslenkung wieder zum tiefsten Punkt zurückstrebt. Es liegt nur, aus welchen Gründen auch immer, näher, einen Fluß zu „personifizieren“ und die anthropomorphe Redeweise nicht gleich zu bemerken, als dies bei einen Pendel zu tun.
Fließgleichgewichte dieser „äußeren“ Art sind nicht nur in der unbelebten Natur, sondern auch da allgegenwärtig, wo Lebewesen beteiligt sind, ohne daß doch dadurch der betreffende Gegenstand zu einem Lebewesen würde: im Bereich der Beziehungen zwischen Organismen und der Einheiten, die aufgrund dieser Beziehungen entstehen („Gesellschaften“, “Ökosysteme”, „Populationen“). Eine Population wächst, für das einzelne Individuum werden im Zuge der Dichtezunahme die Ressourcen knapp, darum geht die Geburtenrate zurück und die Sterberate steigt, bis schließlich beide gleich sind, so daß ein Gleichgewichtspunkt erreicht ist. Um den pendelt die Populationsdichte: Sowie sie von ihm nach oben oder unten abweicht, „strebt“ sie wieder zu ihm zurück. Ein anderes Beisoiel: Wenn auf einer Fläche ein neuer Pflanzenbestand entsteht, dann wird dessen Biomasse zunächst zunehmen. Kommen nun Herbivore und fressen genauso viel weg wie jeweils nachwächst, bleibt sie im Gleichgewicht. Auch dieses Fließgleichgewicht ist ein äußeres und hat nichts damit zu tun, daß hier der Pflanzenbestand bestrebt ist, sich zu erhalten. Er ist kein Lebewesen.
Durch Fließgleichgewichte allein wird ein System also nicht zu einem lebenden. Will man das für Lebewesen Spezifische mit einem Gleichgewichtsbegriff erfassen, dann bräuchte man einen anderen. Er müßte jenen Aspekt der Regulation an Organismen treffen, der darin besteht, daß sie bei Veränderung an ihnen selbst oder in ihrer Umwelt „aktiv“ Zustände beibehalten oder zu ihnen zurückkehren, die es ihnen erlauben, weiterzuexistieren. Es können Zustände ihrer selbst sein oder in ihrer Umwelt. Letzteres kann z. B. dadurch bewirkt werden, daß mobile Lebewesen bei Ungünstigwerden der Umweltbedingungen den Ort wechseln, ersteres darin, daß sie Wasser aufnehmen, wenn ihr Wassergehalt unter bestimmte Werte sinkt. Mit dem Begriff des Fließgleichgewichts allein kann man gewiß bestimmte Aspekte beschreiben, die dabei eine Rolle spielen, z. B. das Gleichbleiben der Stoffmenge im Körper bei fortwährendem Hinein- und Hinausströmen von Stoffen. Aber man kann z. B. nicht damit beschreiben, daß das Lebewesen ein bestimmtes Verhalten zeigt, um an diese Stoffe, etwa Wasser, zu kommen; auch nicht beispielsweise, daß ein Organismus Organe, die ausfallen, erneut bildet oder in ihrer Funktion durch andere ersetzt. Das, was der Organismus an sich selbst und manchmal auch in seiner Umwelt vornimmt, um sich in einem bestimmten Zustand (d. h. „am Leben“) zu erhalten, hat also einen anderen Charakter als das Hinstreben zu einem bzw. das Oszillieren um einen bestimmten gleichbleibenden Wert, wie es am Beispiel des Gleichbleibens der Populationsgrößte infolge gleicher Größe von Geburten- und Sterberate oder am Beispiel des Verbleibens des Bodens eines Fließgewässers in gleicher Höhe angedeutet wurde – auch wenn solche Fließgleichgewichte dabei eine Rolle spielen.
Beim Fließgleichgewicht bleibt eine Quantität – die Menge des Inhalts im „Behälter“, z. B. die Populationgröße – bestehen, weil die verändernde Wirkung des “Zuflusses” durch eine gleich große entgegengesetzte Wirkung, die des “Abflusses”, aufgehoben wird. Beim Zu- und Abfluß kann die Menge desselben sich Ereignissen verdanken, die ganz unabhängig sind von dem sich im Gleichgewicht befindlichen Objekt (bei einer Population von der Dichte der Prädatoren, die ihrerseits z. B. entscheidend von den Temperaturen abhängt und nicht – auch wenn dies ebenfalls vorkommt[6] – von der Dichte der Beutepopulation).
Dagegen besteht das organische Gleichgewicht – und nur auf diese Art von Gleichgewichten kann man mit Fug und Recht den Begriff „Homöostase“ anwenden – darin, daß trotz qualitativer und quantitativer Veränderungen im Organismus und in der Umwelt eine bestimmte Organisation des Organismus als eines Ganzen aufrechterhalten wird (vgl. Weil 1999). Auch wenn manches an dieser Aufrechterhaltung als Fließgleichgewicht beschrieben werden kann, ist der entscheidende, nur für Organismen charakteristische Aspekt mit diesem Begriff nicht erfaßt: Veränderungen einiger der Komponenten des Organismus (oder seiner Umwelt), die für sich betrachtet seine Funktionsfähigkeit (die er für sich selbst hat) aufheben würden, werden durch Veränderungen anderer Komponenten (und nicht etwa zufällig durch äußere Ereignisse) derart kompensiert, daß der Organismus als funktionsfähige Ganzheit erhalten bleibt. Und um erklären zu können, warum jene Veränderungen anderer Komponenten so vonstatten gehen wie sie es tun, ist es nötig zu wissen, was den Organismus als funktionsfähige Ganzheit ausmacht.
Zur Illustration ein bekanntes Beispiel eines Fließgleichgewichts, in welchem die Veränderungen und die Tendenz zum Gleichgewicht ihre Ursachen im System haben und das doch kein organisches ist: Die Geburtenrate in einer Beutepopulation steigt, das führt zu höherer Dichte einer Räuberpopulation, dies wiederum zum Sinken der Geburtenrate der Beutepopulation, worauf wiederum die Räuberpopulation zunimmt usw.; es kommt zu einem Oszillieren um einen Gleichgewichtwert. Die Einflüsse von außen ändern sich nicht, aber wenn sie sich ändern, bleibt der Gleichgewichtspunkt nicht bei diesem Wert. Wenn sie sich ändern, etwa die Temperaturen steigen, wird sich z. B. die Geburtenrate der Beute erhöhen und der Gleichgewichtwert wird woanders liegen. Steigen aber die Außentemperaturen in der Umgebung eines „Warmblütlers“, so „unternimmt“ der Organismus etwas, „damit“ die Temperaturen in seinem Inneren gleich bleiben. Denn deren Verbleiben in einem bestimmten, engen Bereich ist Bedingung dafür, daß der Organismus weiterhin leben kann (wozu unter anderem gehört, daß viele andere Fließgleichgewichte erhalten bleiben). Wo man zu recht von Überorganismen sprechen kann, verhält es sich entsprechend, z. B. im Falle des aktiven Haltens der Temperatur bei bestimmten Werten in einem Bienenstock.
Der Begriff des organischen Gleichgewichts bezieht sich also darauf, daß trotz Veränderungen (quantitativer wie qualitativer) im Organismus oder in seiner Umwelt die Selbstproduktion des Netzwerks der Teile durch aktive Regulation aufrechterhalten wird. Was gleich bleibt, ist die Existenz des Ganzen als eine organisierte Ganzheit, und die Organisation ist auf die Erhaltung dieser Existenz gerichtet. Die Struktur kann gleich bleiben, und der Organismus gleicht dann nur durch Veränderung von Prozessen auf Grundlage dieser Struktur die Folgen von Umweltveränderungen oder auch von dysfunktionalen internen Veränderungen aus. Die Struktur kann sich auch ändern; das reicht von ad-hoc-Änderungen wie dem Einkapseln bei Austrocknung der Umgebung bis zu lebenszyklischen Änderungen wie den Insekten-Metamorphosen. Aber diese Strukturveränderungen sind Beiträge zur Aufrechterhaltung der Organisiertheit des Gebildes „Lebewesen“.
Was die Gaia-Hypothese geltend macht, ist, daß es Fließgleichgewichte auf globaler Ebene zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt gibt. Was folgt daraus aber für die Behauptung, daß die Erde insgesamt bzw. die Gesamtheit ihrer Lebewesen ein einziges Lebewesen sei? Nachdem vor über 3 Milliarden Jahren Organismen mit aerober Photosynthese entstanden waren, begann sich die Atmosphäre mit Sauerstoff anzureichern. Über zwei Milliarden Jahre hindurch herrschte diesbezüglich kein Gleichgewicht. Der Gehalt an Sauerstoff – Gift für die vorher die Erde bevölkernden, anaeroben Lebewesen – nahm immer mehr zu. Die Biomasse der aeroben Lebewesen nahm unter den für sie immer günstiger werdenden Umweltbedingungen auch zu, und zwar bis ihr Sauerstoffverbrauch so groß geworden war, daß (unter Mitwirkung anderer sauerstoffverbrauchender Prozesse) die Zunahme des Sauerstoffgehalts der Atmosphäre schließlich aufhörte und man verglichen mit der vorherigen Epoche zur Not – immerhin waren die Schwankungen erheblich – nun von einem Gleichgewicht sprechen kann. Das war erst vor ca. 300-400 Millionen Jahren der Fall.
Wenn sich daraus ableiten lassen sollte, daß die Erde (oder die Biosphäre) ein einziges Über-Lebewesen ist, dann müßte gezeigt werden, daß die Lebewesen in ihrer Gesamtheit die zu Fließgleichgewichten führenden Prozesse regulieren, und zwar, so daß sie funktional für die Erhaltung der Lebewesen in ihrer Gesamtheit (was immer das auch heißen mag) sind. Die Lebewesen auf der Erde müßten sich in einer Weise organisieren, daß das ermöglicht wird. Und in der Tat, „Selbstorganisation“ ist neben Fließgleichgewicht der zweite für die Gaia-Hypothese zentrale Begriff. Darum nun zur Frage: Was bedeutet Selbstorganisation? Tatsächlich wird dieser Begriff auf zwei grundverschiedene Weisen gebraucht (s. z. B. Haken1984, Sendova-Franks & Franks 1999):[7]
(1) Eine Einheit organisiert sich, indem sie – durch eine Art der Koordination, die diese Einheit als ein sich entwickelndes Ganzes voraussetzt, oft vermittelt durch Organe mit Zentralfunktionen – ihre (von der Einheit selbst erzeugten) Teile im Hinblick auf deren Funktion für das Ganze anordnet.
(2) Individuelle Einheiten ordnen sich gemäß ihrer von den anderen individuellen Einheiten unabhängigen Eigenschaften an und werden so zu Untereinheiten einer dadurch erst entstehenden übergeordneten Einheit (siehe z. B. Rensing & Deutsch 1990, Seeley 2002).
Der Begriff Selbstorganisation hat also zwei völlig verschiedene Bedeutungen, eine holistische (1) und eine individualistische (2). Beide Organisationsweisen spielen bei der Entwicklung des Organismus eine Rolle, (2) aber auch in der nicht-lebenden Natur und in den Gesellschaften von Organismen, und nur (1) ist charakteristisch für Lebewesen.
Viele Musterbildungen in der unbelebten Natur erfolgen durch „Selbstordnung“ oder „Selbstmontage“ (Rensing & Deutsch 1990). Das „Selbst“ steht hier nicht für das ganze Gebilde, das in dem Prozeß zustande kommt. Nicht dieses Gebilde montiert sich selbst, es ist, als ein Ganzes, in keiner Weise tätig (wie metaphorisch auch immer man “tätig” verstehen mag), und man braucht kein Wissen über dieses Ganze, um den Vorgang seiner Entstehung zu erklären. Sondern das “Selbst” steht für jedes der einzelnen „Dinge“, die am Prozeß beteiligt sind. Sie ordnen sich selbst an. Es fügen sich hier einzelne zunächst voneinander unabhängige Dinge zusammen. Mit welchen anderen Dingen sie verbunden sind, ändert sich, sofern sie nicht sofort mit den passenden verbunden sind, immer wieder, bis sie schließlich so angeordnet sind, daß sich ein stabiler Zustand ergibt. (Die einzelnen Dinge werden damit Teile eines Systems.) Das ist der Fall, wenn sich Moleküle zu größeren Molekülen verbinden oder wenn Kristalle entstehen. Die Untereinheiten fügen sich nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip oder dem Prinzip von Puzzleteilen aneinander. Viele komplizierte Muster in der abiotischen Natur – aber auch an Organismen –, die uns so vorkommen, als könnten sie nur planmäßig entstanden sein, erklären sich auf eine solche Weise. Bei Organismen gilt das beispielsweise für die Bildung regelmäßig angeordneter radiärer Strahlen. Es handelt sich, zumindest isoliert von dem biologischen Gegenstand betrachtet, in dem sie ablaufen, um rein physikalische Vorgänge, auch wenn man geneigt sein könnte, auf sie Begriffe wie Konkurrenz und Kooperation anzuwenden (s. ebd.). Solche Muster müssen keinerlei biologische Funktion haben, und selbst wenn sie eine haben, so entstehen sie doch nicht ihretwegen. Erweisen sie sich im Nachhinein als funktional für den Organismus, werden sie selektiv gefördert. Sie können z. B., wie die Wellblechmuster der Muschelschalen, der mechanischen Stabilisierung dienen, oder sie können das Wiedererkennen ermöglichen (ebd.).
Ordnungsprozesse im Sinne individualistischer Selbstorganisation treten auch als echte biologische Phänomene auf. Das soll heißen, daß die einzelnen Dinge, die sich anordnen, individuelle Organismen sind. Die Selbstmontage ist nicht funktional für die übergeordnete Einheit, die bei diesem Kombinationsprozeß entsteht, denn diese Einheit ist kein Organismus, der bereits vorher besteht und die Montage veranlaßt und lenkt. Die Verbindungen, die die individuellen Organismen in diesem Prozeß mit Dingen in ihrer Umwelt eingehen, etwa mit den anderen Organismen, sind vielmehr funktional nur für die individuellen Organismen selbst.[8] Eine Ordnung entsteht dabei als Folge lokaler Interaktionen der an der Montage beteiligten Einzelnen. Dazu braucht es also keine Zentrale und kein vorgängiges und übergeordnetes Ganzes.
Bei der Entwicklung des einzelnen Organismus, d. h. bei der Ontogenese haben wir es dagegen im Prinzip aber mit einer Selbstorganisation vom Typ (1), dem holistischen, zu tun: Ein Organismus differenziert sich, indem er seine Komponenten verändert und neue Komponenten aus sich hervorbringt. Die Anordnung hängt durchaus auch hier wie bei der einfachen Selbstmontage von den Oberflächen-Eigenschaften der Untereinheiten in ihrem Verhältnis zueinander ab; was nicht zusammenpaßt, kann sich weder von selbst zu einer Einheit zusammenfügen noch durch eine übergeordnete Instanz zusammengefügt werden. (Mit Oberflächen-Eigenschaften ist alles gemeint, womit die Untereinheiten auf ihre Nachbarschaft einwirken und wodurch sie deren Wirkungen empfangen können.)
Während aber im Falle der individualistischen Selbstmontage diese Oberflächen-Eigenschaften bei jeder Untereinheit schon unabhängig von den anderen Untereinheiten vorhanden waren (eine in einen mitteleuropäischen Wald einwandernde und sich dann diesem Wald als ein Teil desselben einfügende Pflanze aus Innerasien hat die Eigenschaften, die ihr das ermöglichen, unabhängig von diesem Wald erhalten, sie ist ihm zuvor ja nicht begegnet), ist es im Falle des holistischen Typs (1), der Selbstdifferenzierung eines Ganzen, komplizierter. Man nehme als typischen Fall die Entwicklung eines Mehrzellers.
Die Oberflächen-Eigenschaften jeder Komponente existieren nicht vorgängig als Eigenschaften, die jede Untereinheit unabhängig von den anderen mitbringt. Vielmehr sind sie und damit die spätere Ausprägung und Anordnung der Untereinheiten in dem ursprünglich undifferenzierten Gebilde, d. h. dem Ganzen (der Ursprungszelle), aus dem die Teile des differenzierten späteren Gebildes ja hervorgehen, angelegt. Für die Realisierung der Anlagen sind im Falle des sich differenzierenden Organismus nicht in erster Linie Bedingungen, die die jeweilige Komponente (Zelle) selbst mitbringt, sondern die Umweltbedingungen der Zelle ausschlaggebend (Nachbarschaftsbeziehungen, verbunden oft mit „Botschaften“ etwa chemischer Art von einer Zentrale aus). Das heißt, es sind Oberflächen-Eigenschaften anderer Komponenten des Organismus entscheidend. Wenn ursprünglich die Eizelle und auch oft die Zellen nach den ersten Teilungen totipotent sind, dann besteht die Differenzierung des gesamten Organismus in der Einschränkung dieser Totipotenz. Dies bedeutet, daß sie in der Inaktivierung von Teilen des Genoms der Zelle und der Aktivierung anderer besteht. Eben das wird vor allem bewirkt durch den Einfluß anderer, der benachbarten Zellen. Wie diese wirken, beruht jedoch nicht auf Eigenschaften, die den benachbarten Zellen als voneinander unabhängigen „Bausteinen“ schon zukommen. Sondern diese Eigenschaften werden erst realisiert im Prozeß der Individualentwicklung auf eben die Weise, wie sie nun durch die benachbarten Zellen in der fraglichen einzelnen Zelle realisiert werden: Immer wirkt eine bestimmte Konstellation der Umgebung auf die jeweilige Zelle ein, und diese Konstellation war bereits vorher als Anlage in dem Gesamtorganismus (biologisch zu verorten in der DNS) vorhanden, als dieser noch nicht aus mehreren Zellen bestand.
Man sieht, welch ein grundlegender Unterschied zwischen diesen zwei Begriffen von Selbstorganisation besteht. Um zu zeigen, daß die Erde ein Lebewesen ist, müßten die Befürworter der Gaia-Hypothese nachweisen, daß hier eine holistische Selbstorganisation stattfindet und daß die Gleichgewichte organische sind. Die globalen Umweltbedingungen müßten von den zu einem Organismus höherer Ordnung vereinten einzelnen Lebewesen der Erde (so wie Zellen zu einem Mehrzeller vereint sind) in der Weise hergestellt werden, wie ein einzelner Organismus etwas in seiner Umwelt so verändert, daß es für ihn günstig ist, und dies nicht nur zufällig, sondern z. B. so, wie ein Biber einen Stausee und darin Bauten anlegt. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß das gelingen könnte.
Der Nachweis von Fließgleichgewichten und von negativen Rückkoppelungen allein ist für die Frage, ob die Gaia-Hypothese haltbar ist, ebenso irrelevant wie es ein Nachweis wäre, daß die Teile der Biosphäre sich im Zuge einer Selbstorganisation zusammengefügt haben, die vom Typ der individualistischen, der „Selbstmontage“ ist, also etwa in der Art, wie ein Wald entsteht: Manche Bäume fügen sich sozusagen zusammen, etwa die stark schattende Buche und der sehr wenig lichtbedürftige Buxbaum, während lichtbedürftige niedrige Bäume unter den Buchen nicht wachsen können.
Es gibt nicht den mindesten Grund für die Behauptung, „das Leben“ habe den Sauerstoffverbrauch deshalb in Gang gesetzt und gesteigert, damit schließlich nach zwei Milliarden Jahren ein Fließgleichgewicht in der Atmosphäre erreicht werde, weil das für „das Leben“ günstig ist. „Das Leben“ – d. h. der Überorganismus Gaia – veranlaßt nicht ein einzelnes Lebewesen dazu, genau so viel an Sauerstoff freizusetzen oder zu veratmen, wie es freisetzt oder veratmet, damit der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre etwa in seiner jetzigen Höhe bleibt und nicht zwischen 1% und 70 % hin und her schwankt, und dies schon gar nicht, weil das für „das Leben“ günstig ist. Oder nicht-teleologisch formuliert: Man muß nicht wissen, was für „das Leben“ günstig ist, um zu erklären, warum ein einzelnes Lebewesen eine bestimmte Menge Sauerstoff erzeugt oder veratmet. Das erklärt sich ganz anders. Die einzelne Pore in der Haut eines Lebewesens aber wird von diesem als einem Ganzen dazu veranlaßt, sich genau so weit zu öffnen oder zu schließen, daß die Temperatur oder der Wasserzustand im Organismus im Gleichgewicht, d. h. hier: innerhalb bestimmter, für das Lebewesen Grenzen bleibt, zudem für das Lebewesen günstiger Grenzen.
Es ist nicht damit getan, wenn sich Lovelock gegen eine teleologische Deutung seiner Hypothese wendet, solange er dabei bleibt, daß die Erde ein Lebewesen oder etwas von der Art eines Lebewesens ist. Auch ein Biologe, der über Organismen spricht und sagt, hier setze dieser etwas zu seiner Selbsterhaltung ein, meint dies ja typischer- bzw. legitimerweise nicht im Sinne einer objektiven Teleologie, sondern hat eine „Steuerung“ durch ein genetisches Programm im Sinn. Diese hält er entweder für rein kausal erklärbar, oder er meint, mit teleologischen Begriffen zwar nichts erklären zu können, sie aber doch zu heuristischen Zwecken oder zur Verständlichmachung nötig zu haben. Indem die Gaia-Hypothese behauptet, daß die globalen Fließgleichgewichte sich im Dienste von Selbstorganisations- oder Selbstreproduktionsprozessen ereignen, behauptet sie entweder implizit die Wirksamkeit sei es eines genetischen Programms, sei es von etwas Entsprechendem, was immer das sein mag. Oder sie versteht unter dem Begriff Selbstorganisation (und Selbstreproduktion) etwas anderes als das, was man darunter versteht, wenn man Organismen mit seiner Hilfe charakterisieren möchte (also holistische Selbstorganisation). Ich vermute, daß letzteres der Fall ist, die Anhänger der Gaia-Hypothese das aber nicht bemerken und eben deshalb auf den Gedanken kommen, die Erde ein Lebewesen zu nennen und zu meinen, ein genetisches Programm sei dafür nicht nötig.
Schlußbemerkung: Margulis hat sich offenbar zu sehr beeindrucken lassen von der Erkenntnis, daß aus unabhängig voneinander lebenden Organismen im wahrsten Sinne des Wortes ein einziger individueller Organismus werden kann, und zwar auf dem Weg über ihre Symbiose, d. h. über mutualistische Interaktionen: Zusammenwirken mit beiderseitigem Vorteil, Interaktionen vom (+/+)-Typ. Abgesehen davon, daß solche Interaktionen nur ein Teil aller ökologischen Interaktionen sind (es gibt nicht weniger häufig prädatorische und kompetitive, also (+/-)-Interaktionen und (-/-)-Interaktionen): Systeme mit mutualistischen Interaktionen sind keine Organismen. Die kooperierenden Einzelorganismen sind selbständig und sie kooperieren, in teleologischer Formulierung, ganz egoistisch, um für sich möglichst viel herauszuholen, also wie Geschäftspartner, nicht im Auftrag einer ihnen vor- und übergeordneten Instanz, wie die Abteilungen eines Amtes.
Es sind spezielle Vorgänge nötig, damit aus den Symbionten ganz verschiedener Herkunft ein einziger Organismus (eine Zelle) entsteht, in welchem die vorher selbständigen Organismen nur noch Organellen sind. Der entscheidende Vorgang ist die Aufnahme von Teilen der DNS-Ketten aus den jeweils anderen Organismen in das eigene Genom. Damit wird ununterscheidbar, ob ein bestimmter vom Genom ausgehender Prozeß von dem einen oder dem anderen der vereinigten Organismen ausgeht. Die „Anlagen“ dafür, daß sich die Entwicklung eines mehrzelligen Organismus aus einer Ursprungszelle so vollzieht, daß alle Komponenten der Erhaltung des ganzen Organismus dienlich sind, befinden sich nun auf der Ebene des neuen Ganzen der Ursprungszelle: im nun gemeinsamen Genom. So wurde aus individualistischer Selbstorganisation holistische. Entsprechende Vorgänge gibt es auf der Ebene der Biosphäre als ganzer nicht. Sie hat kein genetisches Programm.
Literatur:
Bertalanffy, L. v. 1929: Vorschlag zweier sehr allgemeiner biologischer Gesetze. Biol. Zbl. 49: 83–111.
Eisel, U. 2004: Konkreter Mensch im konkreten Raum. Individuelle Eigenart als Prinzip objektiver Geltung. Arbeitsberichte Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin Heft 100, 197-210 (Internetversion hier)
Haken, H. 1984: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. Berlin.
Kirchhoff, Thomas 2007: Systemauffassungen und biologische Theorien. Zur Herkunft von Individualitätskonzeptionen und ihrer Bedeutung für die Theorie ökologischer Einheiten, Beiträge zu Kulturgeschichte der Natur, Band 16 (Dissertation TU München). (Internetversion hier).
Lovelock, J. 1992: GAIA – Die Erde ist ein Lebewesen. Bern, München, Wien.
Margulis, L. 1998: Symbiotic Planet: A New Look at Evolution. New York.
Rensing, L. & A. Deutsch 1990: Ordnungsprinzipien periodischer Strukturen. Biologie in unserer Zeit 20: 314–321.
Seeley, T. D. 2002: When is self-organization used in biological systems? The Biological Bulletin 202: 314–318.
Sendova-Franks, A. B. & N. R. Franks 1999: Self-assembly, self-organization and division of labour. Philosophical Transactions of the Royal Society of London Series B Biological Sciences 354: 1395–1405.
Trepl, Ludwig 2005: Allgemeine Ökologie, Band 1 – Organismus und Umwelt, Frankfurt am Main: Peter Lang.
Voigt, A. 2001: Ludwig von Bertalanffy: Die Verwissenschaftlichung des Holismus in der Systemtheorie. In: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie, Band 7. VWB, Berlin: 33-47.
Voigt, A. 2009: Theorien synökologischer Einheiten – Ein Beitrag zur Erklärung der Uneindeutigkeit des Ökosystembegriffs, Stuttgart: Franz Steiner Verlag (= Sozialgeographische Bibliothek, Bd. 12) (Dissertation Technische Universität München, 2007). (Internetversion hier).
Weil, A. 1999: Über den Begriff des Gleichgewichts in der Ökologie – Ein Typisierungsvorschlag. Landschaftsentwicklung und Umweltforschung 112.
[1] Typisch der auf Theorien diese Art bezogene Satz des Evolutionsbiologiepapstes Ernst Mayr: Es gibt keine gesunde Herde von Schafen. Es gibt nur eine Herde von gesunden Schafen.
[2] Dabei sollte man bedenken, daß es sich bei der Endosymbiosetheorie nicht um eine Behauptung von der Art eines allgemeinen Naturgesetzes handelt mit all den Problemen der Fallibilität, wie man sie etwa aus der Arbeiten der Popper-Schule kennt, sondern um die Behauptung eines singulären, historischen Sachverhalts, wie im Falle der Theorie eines Detektivs darüber, wer der Täter sei.
[3] Siehe z. B. Kirchhoff 2007, Voigt 2009, zur Bedeutung der christlichen Lehre für dieser Welterklärungsmuster siehe z. B. Eisel 2004.
[4] Man beachte, daß „erzeugen“ hier metaphorisch verwendet wird. Einen Baum kann man möglicherweise als einen etwas erzeugenden Agenten im wörtlichen Sinne betrachten, nicht aber einen Bestand von Bäumen. Das wäre so dämlich wie das modische Geschwätz von der Schwarmintelligenz.
[5] Die folgende Seite ist zum großen Teil Trepl 2005, S. 470 f., entnommen.
[6] Man denke an das einschlägige Lhotka-Volterra-Modell.
[7] Die folgenden eineinhalb Seiten sind weitgehend Trepl 2005, S. 85 ff., entnommen.
[8] Dagegen hat bei der Anordnung von Molekülen im Kristall die Frage, ob diese Anordnung eine Funktion für die Moleküle habe, keinen Sinn. „Funktional“ setzt Organismen voraus.
@ Chrys
„Es ist jedoch nicht unproblematisch, die am Menschen geprägten Vorstellungen als Vorbild für jegliche Lebewesen nehmen und letztere geradezu darüber definieren zu wollen.“
Es ist naturwissenschaftlich sogar unmöglich, nicht nur problematisch. Aber wir tun es doch und konstituieren letztlich darüber einen besonderen Bereich von Naturphänomenen, den biologischen. (Wahrscheinlich tun wir es auch in der Physik, jedenfalls nach Meinung vieler, die sich mit der Rolle von Metaphern in den Naturwissenschaften befassen.) – Ich argumentiere hier nicht dafür, daß wir in den Naturwissenschaften dies oder jenes tun oder lassen sollen, wenn es methodisch zulässig sein soll, sondern dafür, zur Kenntnis zu nehmen, was in diesen Wissenschaften mehr oder weniger unbemerkt geschieht.
„Die Strategien zur Bestimmung von Identität wenden wir allerdings auch an auf Phänomene, die wir gemeinhin nicht als Lebewesen bezeichnen, denn das Konzept von Identität hilft uns ganz allgemein bei der Musterekennung.“
Aber nicht diese Art der Bestimmung von Identität. Denn wir behaupten hier ja nicht, daß etwas aufgrund bestimmter Merkmale unter eine bestimmte Definition fällt und mit Hinblick auf diese Definition mit einem anderen, das auch unter diese Definition fällt, identisch ist (z. B. auch ein Fluß ist oder nach 100 Jahren immer noch dieser eine Fluß).
„Wenn Sterben das Erlöschen der Identität eines Lebewesen kennzeichnen soll, müssten wir noch immer irgendwie gesondert festlegen, was ein Lebewesen ist.“
Wir müssen gesondert festlegen, wie man bestimmt, welche empirischen Phänomene unter diesen Begriff fallen. Mit der Idee des Lebens, deren Kern darin liegt, auf eine besondere Art, die wir „Tod“ nennen, aufhören zu können zu existieren, ist noch nicht festgelegt, woran man diejenigen Gegenstände erkennt, denen wir über uns selbst hinaus eben dies auch zuschreiben. Das ist historisch variabel (anfangs war wohl das einzige Kriterium das Atmen – „alles, was Odem hat“), aber nicht beliebig.
„Durchtrennung mit anschliessender Regeneration der Teile zu zwei kompletten Individuen ist ein Vorgang, der mit unserer Vorstellung von fortbestehender Identität nicht gut zusammenpasst. Aber zu sagen, der ursprüngliche Strudelwurm sei während des Durchtrennens gestorben, wäre reine Willkür, das muss man nicht zwingend so sehen.“
Die Individualität eines Lebewesens kann durch Tod enden, muß aber nicht. Sie kann auch durch Teilung enden (nicht nur bei Durchtrennung, auch bei der normalen Teilung eines Einzellers entstehen zwei Individuen aus einem) oder durch Fusion (die individuellen „Amöben“ eines Schleimpilzes in einem bestimmten Stadium vereinen sich zu einem mit dieser Vereinigung entstehenden einzigen Individuum; das Spermium, ein Individuum, vereint sich mit einem anderen Individuum, der Eizelle, zu einem neuen Individuum; stammesgeschichtlich ist die Eukaryontenzelle durch Vereinigung von nicht-verwandten Zellen, also von mehreren Individuen, und zwar durch Endosymbiose, entstanden). „Dieses Wesen ist nicht mehr“ muß nicht heißen, daß die Lebensprozesse, die in seinem Körper abliefen, ganz beendet sind. Sie können in den Teilungsprodukten weiterlaufen, z. B. in den Keimzellen. Für das eigenartige Erfahrungswissen unserer Endlichkeit ist das aber ohne Bedeutung. Wir wissen um unsere Endlichkeit, weil wir wissen, daß wir sterben werden, nicht, weil wir wissen, daß aus uns durch Teilung (Keimzellenbildung) und Fusion (Befruchtung) andere individuelle Wesen entstehen. Und es ist das Wissen um das Ende als Individuum durch Tod, nicht durch Teilung oder Fusion, das uns veranlaßt, lebende und nicht-lebende Natur zu unterscheiden.
@Ludwig Trepl / Identitätsverluste
Das ist sicherlich so, dass sich die Vorstellung von Sterblickeit an der menschlichen Erlebniswelt orientiert. Das Sterben eines Menschen als das Erlöschen seiner individuellen Persönlichkeit, seiner Identität, ist intuitiv nachvollziehbar. Es ist jedoch nicht unproblematisch, die am Menschen geprägten Vorstellungen als Vorbild für jegliche Lebewesen nehmen und letztere geradezu darüber definieren zu wollen.
Mit dem Begriff Identität wird ja keine observable Grösse festgelegt, die nach einer generell anwendbaren Regel empirisch zu ermitteln wäre. Identität ist etwas, das wir mehr oder weniger bewusst bei der Beschreibung von Phänomenen einführen, wodurch die dabei verwendeten Ausdrucksmittel hinsichtlich Einfachheit und Verständlichkeit optimiert werden können. Identität machen wir typischerweise an Merkmalen fest, die wir im zeitlichen Verlauf eines Prozess wiederekennen können. Die Strategien zur Bestimmung von Identität wenden wir allerdings auch an auf Phänomene, die wir gemeinhin nicht als Lebewesen bezeichnen, denn das Konzept von Identität hilft uns ganz allgemein bei der Musterekennung. Wenn Sterben das Erlöschen der Identität eines Lebewesen kennzeichnen soll, müssten wir noch immer irgendwie gesondert festlegen, was ein Lebewesen ist.
Wenn man einen Strudelwurm in der Mitte durchtrennt, dann bekommt man schlussendlich zwei Strudelwürmer. Der Akt der Durchtrennung mit anschliessender Regeneration der Teile zu zwei kompletten Individuen ist ein Vorgang, der mit unserer Vorstellung von fortbestehender Identität nicht gut zusammenpasst. Aber zu sagen, der ursprüngliche Strudelwurm sei während des Durchtrennens gestorben, wäre reine Willkür, das muss man nicht zwingend so sehen. Freilich ist das alles weniger ein Problem der Biologie als eines der Sprache. Es ist offenbar nicht möglich, dieses Geschehen angemessen in ein sprachliches Korsett zu quetschen, das an die speziellen Gegebenheiten beim Menschen zugepasst ist.
@Ludwig Trepl: Persistenz & Abgrenzung
Unsere intuitiven Ansichten zu Persistenz und Abgrenzung lassen sich vermutlich ohne Rückgriff auf Postulate erklären. Dabei kann aber anders als @Irena Pottel vorschlägt nicht auf Selbsterhaltung zurückgegriffen werden. Vielmehr scheint mir dafür etwas den Teilen von Lebewesen und unbelebten Dingen Gemeinsames nötig, was sich aus unserer wohl insofern geteilten Perspektive in den Dispositionen der Teile findet. Ich will das versuchen als Antwort auf Ihre Einwürfe zu entwickeln – zunächst für die Beliebigkeit der Abgrenzung von ‘Einheiten’.
Beziehung ist mir die Verknüpfung der Dispositionen zweier beliebiger Elemente aus der Perspektive des sich beziehenden Elements. Und diese Verknüpfung hat viele Facetten, die beliebig kombiniert auftreten können. Und nicht jede Beziehung ist direkt oder unmittelbar. Und jedes Element bezieht sich mehr oder weniger intensiv auf alle anderen Elemente.
Abhängigkeit ist eine bestimmte Ausprägung von Beziehung: Der abhängige Teil kann allein nicht existieren (also das sich beziehende Element nicht ohne das bezogene). Nur ist das schon wieder etwas ungenau, denn viele Zellen oder Organe eines Mehrzellers sind zwar insofern abhängig vom gesamten Organismus – aber auch wieder nicht, denn sie können in künstlicher Umgebung (Nährlösung) oder künstlichem/anderen Organismus ebenfalls überleben (Organtransplantation).
Die Intensität von Beziehungen bildet die Bedeutung der jeweiligen Verknüpfung ab. Allerdings ist Kannibalismus insofern nicht besonders intensiv, denn die Verknüpfung richtet sich nicht auf das andere Element als solches, nicht auf seine komplexen Dispositionen, sondern nur auf wenige einfache Dispositionen seiner Teile (als Energielieferant). Darum ist Kannibalismus primitiv.
Umso mehr Dispositionen des anderen Elements mit den eigenen verknüpft werden, desto intensiver wird hingegen die Beziehung. Dabei ist Intensität mehrdimensional, sie meint neben der genannten Fülle der Verknüpfung auch noch deren (potentielle) Bedeutung – etwa für den Erhalt der derzeitigen Disposition(en), für deren Realisierung oder gar deren Ausbau. Und insofern ist dann auch Abhängigkeit allein gar nicht so intensiv, da (wie aus dem Zwischenmenschlichen bekannt) nur eindimensional.
Und dann ist auch Ähnlichkeit (ob nun des Genmaterials, des Phänotyps oder des Erlernten) eine Beziehung – denn alle einem Element in bestimmter Hinsicht ähnlichen (oder komplementären) Elemente sind für die zukünftige Realisierung eigener Dispositionen bedeutsam. Allerdings umgekehrt proportional zu deren (räumlicher bzw. zeitlicher) Distanz. (Für ein zu verpflanzendes Organ sind die Dispositionen jedes passenden Organismus vorerst nahezu ebenso (un)bedeusam – der konkret erwählte Organismus wird aber mit der Transplantation sogar bedeutsamer als der Ursprungsorganismus.)
Das spannende daran ist, dass sich damit einige Entwicklungen in einen größeren Zusammenhang einbetten lassen. Das Modell als Ganzes ist aber zu komplex für die Empirie – für das Denken scheint es hingegen recht nützlich, weil es jeden Ausschluss, Einschluss oder Zusammenschluss als Grenzziehung betrachtet – und die Grenzziehungen ganz verschiedener Gebiete intrinsisch verknüpft, wie Sie das oben mal ansprachen. Schließlich hängen alle Dispositionen für Erhalt/Realisierung/Ausbau irgendwie voneinander ab.
Der Unterscheidung zwischen Dingen und Lebewesen scheint mir insofern nicht so absolut zu sein.
Eine Zelle oder ein Organ eines Lebewesens etwa können wir auch ohne das Lebewesen weiterleben lassen – obwohl ihnen dieses Herkunftslebewesen essentiell war. Und möglicherweise lebt das Lebewesen dann auch noch weiter (mit teils anderen Eigenschaften). Trotzdem würden wir intuitiv zwar sowohl dem Organ als auch dem Lebewesen gewisse Identität zuscheiben – aber dasselbe bliebe für uns nur das Lebewesen. Und würden wir daran nicht zumindest zweifeln, wenn das Zentralnervensystem verpflanzt würde?
Andererseits würden wir einer Uhr etwa auch zugestehen, dass sie dieselbe bleibt, wenn ein (nicht essentielles) Zahnrad oder der Weckmechanismus aus ihr entfernt oder ausgetauscht wird. Und wir würden wiederum dem Zahnrad oder dem Weckmechanismus eine gewisse Identität zuschreiben – aber dieselbe bliebe doch nur die Uhr. Und würden wir nicht daran zumindest zweifeln, wenn das gesamte Uhrwerk verpflanzt würde?
Die Abhängigkeit scheint mir dies nicht erklären zu können, die Intensität von Beziehungen hingegen schon; und zwar nicht die absolute Intensität, sondern die Differenz zwischen der Summe aller Beziehungs-Intensitäten des jeweiligen Teils auf das Ganze vs. auf sich selbst.
Summe aller Beziehungs-Intensitäten aller verbleibenden Teile des Lebewesens auf das komplette Lebewesen
– Summe aller Beziehungs-Intensitäten aller verbleibenden Teile des Lebewesens auf den verbleibenden Teil
= meist nahe Null (schon weil die Ursprungs-Summe groß ist)
–> Erhalt/Realisierung/Ausbau der Dispositionen der verbleibenden Teile ändern sich wenig bis kaum (es sei denn der entfernte Teil war überlebenswichtig).
Summe aller Beziehungs-Intensitäten aller Teile der Zelle auf das komplette Lebewesen
– Summe aller Beziehungs-Intensitäten aller Teile der Zelle auf die Zelle
= deutlich größer Null (schon weil die Ursprungs-Summe klein ist)
–> Erhalt/Realisierung/Ausbau der Dispositionen der Zelle ändern sich deutlich.
Obwohl sich die Strukturen in beiden Fällen zunächst kaum ändern müssen und auch nicht die Wechselwirkungen – ist die Veränderung doch aus der jeweiligen Perspektive unterschiedlich bedeutsam. Und dieser Unterschied schwindet, wenn man das Zentralnervensystem verpflanzte – denn die Summe aller Beziehungs-Intensitäten des ZNS auf den Körper ist ähnlich bedeutsam wie die Summe aller Beziehungs-Intensitäten des Körpers auf das ZNS.
Und dasselbe gilt bei der Uhr im Hinblick auf Zahnrad oder Weckmechanismus bzw. gesamtes Uhrwerk. Und auf diese Weise könnte man relativ objektiv über die Identität bei größeren Einheiten nachdenken – wie etwa einer Biozönose etc.
Schöner aber ist, dass sich Ihre Unterscheidung im Hinblick auf die meisten unbelebten Dinge damit erklären lässt.
Summe aller Beziehungs-Intensitäten aller Teile eines Steines auf die 2cm der ihn umgebenden Luft und den Stein
– Summe aller Beziehungs-Intensiäten aller Teile des Steines auf den Stein
= jedenfalls nicht so nah an Null (schon weil die Ursprungs-Summe gerade bei Festkörpern deutlich kleiner ist als bei Lebewesen – sind doch die Dispositionen entfernterer Elemente meist kaum für die Dispositionen des betrachtenden Elements relevant, sprich es geht vorwiegend um die Beziehungen auf unmittelbare Nachbarn). Aber das wird dann durchaus schon bei Flüssigkeiten oder Gasen etwas anders und erst Recht bei Fließgleichgewichten.
Irgendwie findet sich dann doch wieder das schonmal angesprochene Kontinuum.
Nach dem Vorausgeführten würde ich sagen: Die (zeitbezogen) nur geringe Änderung der Summe aller Beziehungs-Intensitäten der jeweiligen ‘Einheit’.
Innerhalb lebloser Dinge sind die Beziehungen der Teile aufeinander oft nur wenig intensiv, ja in der Regel sind nur die relativ nahen Teile überhaupt signifikant aufeinander bezogen. Der Rest ist oft vernachlässigbar – und darum ist nicht nur die Teilung recht beliebig, sondern auch die Persistenz.
Genau genommen haben dann kleine Kinder sogar Recht, wenn sie den geraden und den gebogenen Draht nicht als identisch ansehen. Mit der Änderung der Form haben sich die Beziehungen der Atome des Drahtes geändert – und zwar nicht nur geringfügig. Mit dem (kulturellem) Lernen wird also anscheinend die Änderungsschwelle für Identitätszuschreibung erhöht.
Innerhalb komplexer lebloser Dinge (wie der Uhr) sind die Beziehungen der Teile aufeinander schon deutlich intensiver, die Dispositionen jedes beliebigen Zahnrades, jeder Schraube oder jeder Feder können sich nur im Zusammenspiel realisieren (und teils erhalten, etwa Geschmeidigkeit älterer Schmiermittel) – wird also ein essentieller Teil entfernt, dann verlieren alle Teile an Beziehungs-Intensität, sie werden zu einem nahezu beliebigen Nebeneinander degradiert.
Innerhalb der Lebewesen sind die Beziehungen der Teile aufeinander noch viel intensiver, jede Zelle ist für ihr konkretes Leben vom konkreten Leben der anderen Zellen und damit des Organismus abhängig. Bei komplexeren Lebewesen manifestieren sich diese interzellulären Beziehungen in verschiedenen Kreisläufen (etwa Blutkreislauf oder Nervenbahnen).
Und die Beziehungen wie ihre Intensitäten ändern sich in Lebewesen auch beim Austausch der Materie nur wenig, wird doch die neue Materie an ähnliche Stelle gesetzt und mit ähnlichen Dispositionen ausgestattet. Selbst beim Altern werden kaum Dispositionen neu geschaffen, sondern eher vorexistierende verwirklicht. Und selbst wenn Dispostionen verschwinden, dann werden sie oft nur deaktiviert.
Vielleicht lässt sich so auch die Besonderheit von Sterben ggü. Zerstören erklären: Zerstören beruht auf der Auflösung der Struktur – Sterben beruht auf dem Abfall der Beziehungs-Intensität innerhalb des Lebenwesens (bei prinzipieller Möglichkeit zur vorübergehenden Weiterexistenz der Struktur).
Wird etwa der Blutkreis unterbrochen, dann beziehen sich die Zellen kaum mehr aufeinander – welche ihrer Dispositionen dann z.B. die Haut-Zelle verwirklichen kann, hängt nicht mehr von den Zellen irgendwo anders ab, sondern allenfalls von ihren Nachbarn (oder der Nährlösung). Gleiches gilt auch für die Unterbrechung von Nervenbahnen – und darum spricht man wohl auch von (wie) abgestorbenen Körperteilen.
Die Uhr mit gebrochener Feder ist dann einerseits genauso tot wie der Körper ohne Blutkreislauf. Beide können zunächst wiederbelebt werden – durch neue Feder oder durch Herzmassage und ggf. Beatmung. Die Beziehungs-Intensität der Teile aufeinander ist in beiden Fällen rapide abgesunken. Aber – und dort liegt der Unterschied – die Struktur der Uhr ist relativ zeitstabil während die Struktur der meisten Zellen, jedenfalls aber komplexer Organismen relativ zeitlabil ist. Natürlich gibt es auch dort wieder Unterschiede – Körperzellen können je nach Temparatur recht lange reaktiviert werden, während Hirnzellen deutlich empfindlicher sind.
@fegalo: Postulat & Wirklichkeit
Welcher Wirklichkeit denn?
Wenn die Wirklichkeit der Universitäts-Wissenschaft gemeint ist, dann natürlich – denn dort muss auf individuellen Methoden (oder kulturellen Praxen) bestanden werden, damit sich die Disziplin von anderen abgrenzen, selbst erhalten, entwickeln und lehren (und prüfen!) kann. Dort geht es gar nicht so sehr um absolute Erkenntnis als vielmehr neben Reputation und Schülerschaft um eine Art von Erzählung über die (gewählten Ausschnitte der) Welt. Und um konkrete Ergebnisse, die in Anbetracht der Masse heutigen Wissens nunmal überwiegend in einem engen Bereich entstehen, dem der Zeitschrift-Wissenschaft.
Wenn die Wirklichkeit der Welt gemeint ist, dann natürlich nicht – denn dort wirken alle Prinzipien zusammen und sie wirken alle aufeinander. Darum sind viele meiner Beispiele auch auf den Menschen bezogen, denn dort wirkt nunmal fast alles – ob nun eigentlich untersucht von Physik, Chemie, Biologie, Hirnforschung, Psychologie, Soziologie, Ökonomie, etc. Wenn wir also ein bestimmtes menschliches Verhalten erklären wollen, dann können wir das auf ganz vielen verschiedenen Ebenen tun – und alle diese Erklärungen sind für sich genommen richtig.
Nur ist keine die Wirklichkeit, hat keine allgemeine Erklärungskraft oder prinzipiell bessere. Vielmehr hat jede einen sehr beschränkten Blick auf die Wirklichkeit – das Elefantengleichnis ist mir dazu immer noch die beste Illustration. Natürlich ist uns im Einzelfall eine Erklärung an-schau-licher als die anderen – aber das nur, weil dieses Schauen gewöhnt sind und teils gewöhnt sein müssen. Unsere Verarbeitungskapazität ist nunmal beschränkt und selbst wenn wir ein perfektes Modell des Menschen auf physikalischer Methode hätten – es wäre nicht anschaulich, und man würde mit ihm nicht im Alltag arbeiten (können).
Das wird von der Physik sehr gut illustriert. Die Relativitätstheorie hat sich etabliert und wir könnten die Planetenbewegungen damit beschreiben und berechnen – nur tut das keiner, weil dieses Modell sehr kompliziert ist. Man rechnet also weiter mit Newton, denn für unser Erkenntnisinteresse ist das bei Planeten ausreichend. Man ist aber doch sehr froh, die Einheit zu kennen – weil man in Grenzbereichen dann doch auf die Relativitätstheorie zurückgreifen kann. Die Physik ist mir darum auch nicht lieber als jede andere Wissenschaft, aber sie ist mir Vorreiter in einer sehr produktiven Theorie und Praxis von Wissenschaft: Man sucht nach einem Alles verbindenden Modell – und arbeitet im Alltag trotzdem mit anschaulicheren Teil-Modellen.
So stelle ich mir das auch generell vor – es gibt Teil-Modelle (in) der Physik, Chemie, Biologie, Hirnforschung, Psychologie, Soziologie, Ökonomie, etc. – aber wir suchen doch nach Möglichkeiten, diese Teile in ein sinnvolles Ganzes einzubinden (innerhalb der Disziplin und zwischen Disziplinen). Das wird uns nie ganz gelingen und es wird auch nie sinnvoll sein, ein Gedicht mit der Physik zu interpretieren – aber wir verknüpfen ja heute schon die Chemie mit der Psychologie. Und ja, viele der großen Theorien sind zunächst hoch spekulativ – aber warum nicht? Diese Spekulation soll doch nicht sakrosankt ‘gelten’, sondern kann vielmehr zur Suche neuer Perspektiven anregen und zur Überschreitung von Denkgrenzen. Und damit jene Konstrukte auflösen helfen, die unsere wissenschaftliche Wirklichkeit von der Wirklichkeit trennen.
Erfahrungstatsache ja, empirisch relativ eindeutig auch – aber ist Leben damit philosophisch eindeutig? Ist Leben überhaupt eindeutig?
Dabei bezweifle ich keineswegs den Sinn der aktuellen Biologie, für ihren Bereich hat sie hohe Anschaulichkeit. Aber Probleme entstehen in Grenzfällen wie hier bei der Gaia-Hypothese oder allgemein bei allen Betrachtungen größerer ‘Einheiten’. Dort muss dann die Erfahrungstatsache Leben hinterfragt werden, denn erfahren können wir nur Leben in unserer Form. Leben höherer Form können wir uns allenfalls vorstellen – und dazu müssen wir erst einmal hinterfragen, worauf denn unsere Erfahrungstatsache beruht. Also welche intuitiv wahrgenommenen Aspekte verknüpfen wir, um zu dieser Erfahrung von Leben zu gelangen.
Man muss also erkennen, dass der Ausgangspunkt der Biologie ein (ggf. notwendiges) menchliches Konstrukt ist. Mit der Dekonstruktion des für die Biologie notwendigen Postulates begibt man sich auf die Suche nach den definitorischen Voraussetzungen für Leben – die dann erst auf höhere ‘Einheiten’ anwendbar werden. Und anders als Sie oben suggerierten glaube ich, dass dort sowohl bottom-up als auch top-down dabei eine Rolle spielen.
Vielleicht davon, dass Zwecke immer willkürlich gesetzt werden? Dass sie also nicht recht zu den Naturwissenschaften passen? Dass menschengemachte (-gedachte) Zwecke die Naturwissenschaft damit eigentlich zur Geisteswissenschaft werden lassen?
Wohlgemerkt geht es jedenfalls mir nicht darum, die Existenz von Aktivität oder Zwecken zu verneinen, sondern nur um die Suche nach Erklärungen ohne sie. Es stimmt, dass deren Existenz oder Nicht-Existenz nicht empirisch beweisbar ist. Doch scheint es mir das Prinzip von (Natur)Wissenschaft zu sein, möglichst viele Aktivitäts- oder Zweckannahmen in ihren Erklärungen zu eliminieren – schließlich haben wir auf diesem Wege einige Aktivität aus unserem Weltbild verbannt (wenn auch vielleicht manchmal zuviel).
Und ich bin überzeugt, dass ein Großteil der zwischenmenschlichen Probleme auf unhinterfragten Zweckzuschreibungen beruhen – auch denjenigen der Biologie. Könnten wir diese Zwecke wenigstens relativieren, dann wäre manche Verständigung leichter. Naja, zumindest könnte man Andersdenkende eher verstehen…
@Noit Atiga 04.03.2013, 21:55
war der Adressat meines Kommentars gerade eben.
“Es kann in der Sprache selbsterhaltender Systeme keine Kausalursache geben – da bin ich bei Ihnen. Nur ist mir dieser Zustand der Erklärungen unbefriedigend, weil wir damit die verschiedenen Naturwissenschaften kategorisch trennen: Die Physik sucht dann nach den Kausalursachen des Universums – während die Biologie mit einem recht beliebigen Konstrukt anfängt Die erstere kennt Naturgesetze – die letztere (obgleich Naturwissenschaft) muss jedenfalls auch mit zugeschriebenen Zwecken arbeiten..“
Zur Einheit der Wissenschaft: Das ist ein naturalistisches Postulat, das schlicht an der Wirklichkeit scheitert. Die Tatsache, dass die Methode der physikalischen Wissenschaft im Bereich der leblosen Materie gut funktioniert, ist im Hinblick auf die Forderung einer Einheit der Wissenschaft vollkommen irrelevant im Angesicht der Feststellung, dass sich Lebendiges mit derselben Methode nicht erfassen lässt.
Jede einzelne Wissenschaft ist erst einmal eine eigene kulturelle Praxis, ein Sich-Zurechtlegen und Handhabbarmachen verschiedener Wirklichkeitsbereiche gemäß den Möglichkeiten unserer Rationalität.
Die Idee einer Einheit der Wissenschaft ist zwar eine schöne Idee, in der derzeitigen Praxis allerdings üblicherweise ein Ausdruck des Glaubens an die Wahrheit des Naturalismus – mithin des Materialismus – für den Wissenschaft aus der Rekonstruktion der Welt aus der Materie „bottom up“ besteht. Nur mit dem Nachteil behaftet, dass das nicht funktioniert beim Lebendigen, und ebenso wenig bei allen Äußerungen menschlichen Daseins. Es bleibt immer nur Ankündigung und nie realisiertes Programm.
Zur Physik: Theorien über „die Kausalursachen des Universums“ sind und bleiben immer hochgradig spekulativ. Man versucht halt, mit den Mitteln der echten empirischen Erkenntnisse der Physik eine Geschichte der Entstehung der Welt zu konstruieren, welche aber selbst als ganze keine empirische Theorie mehr ist, sondern eine blanke Spekulation mit den Mitteln einer naturalistischen Beschreibung der Welt. Verwechseln Sie nicht die soliden Erkenntnisse physikalischer Naturgesetze mit den hochgradig spekulativen Hypothesen der Rekonstruktion einmaliger Ereignisse wie Urknall, Planetenentstehung und dergleichen. Das steht auf ganz verschiedenen Füßen.
Zur Biologie: Das ist überhaupt kein beliebiges Konstrukt, mit dem die Biologie anfängt. „Leben“ ist eine Erfahrungstatsache von völlig unmittelbarer Eindeutigkeit. Und genau diese Erfahrungstatsache ist der Anfangspunkt wissenschaftlichen Forschens. Ein „Konstrukt“ ist es erst innerhalb einer Sicht, die in totaler Umkehrung der realen Praxis den Naturalismus gleichsam als natürliche Sicht der Dinge an den Anfang setzt.
“Diese Differenzierung kann man aber aus meiner Sicht vermittels der Entropieüberlegungen im Zusammenhang mit historischen Dispositionen überwinden. Denn dann kann man auf Selbsterhaltung als letzten Grund (sie bleibt durchaus sinnvoll als Beschreibung) verzichten – braucht keine Aktivitäts-Annahme, keinen zugeschriebenen Zweck. Es reicht das Naturgesetz über spontan in einem konkreten Umfeld ablaufende Prozesse – die eben immer irreversibel sind und damit entropieerhöhend.“
Mal eine Gegenfrage: Woher stammt der Eifer, eine „Aktivitäts-Annahme“, oder das Vorhandensein von Zwecken eliminieren zu wollen? Gibt es dazu neue empirische Erkenntnisse, die das nahelegen? Im Ernst: Zur Erkenntnismöglichkeit dieser Prinzipien gab es in diesem Blog entlang der kantischen Kritik der teleologischen Urteilskraft bereits eine umfangreiche Diskussion. Weder die Bestreiter noch die Befürworter eines aktiven Prinzips können mit den Mitteln der empirischen Wissenschaft die letzten Belege liefern, da ein aktives Prinzip, eine zwecksetzende Instanz, Lebenskraft etc. keine möglichen Gegenstände der empirischen Wissenschaft sind. Aus Sicht der Wissenschaftstheorie bleibt die Sache daher offen. Das dürfte eigentlich geklärt sein. Mit dieser wissenschaftstheoretischen Erkenntnis kontrastiert allerdings die Vehemenz der persönlichen Überzeugtheit sehr vieler Zeitgenossen und auch Wissenschaftler, dass es solche aktiven Prinzipien nicht gibt. Können Sie mir plausibel machen, worauf diese Überzeugtheit gründet? Wenn Sie jetzt mit „Occams Rasiermesser“ kommen wollen, dann kann ich Ihnen gleich entgegenhalten, dass die Evolutionstheorie beispielsweise mit einer Unzahl und mit ständig sich vermehrenden Erklärungen und Ursachen für den Formwandel auftritt, also einen ständigen Verstoß gegen Occams Prinzip praktiziert
@ Irena Pottel
„Ist ein Stein ein selbstorganisierendes System? Warum vergleichen Sie es dann?!(“
Hier habe ich nicht selbstorganisierende Systeme mit nicht selbstorganisierenden Systemen verglichen, sondern Lebewesen mit nicht-lebenden Dingen.
Die Frage nach denjenige Systemen, die wir nicht Lebewesen nennen, denen wir aber doch Selbstorganisation (Selbstorganisation nicht im individualistischen Sinn verstanden, siehe oben im Artikel) zuschreiben, ist eine andere und in der Tat eine schwierige. Hier müßte man (a) über die Frage der Teleologie sprechen und (b) darüber, was es für die Frage der Reduzierbarkeit auf Physik (und darauf wollen Sie ja hinaus) bedeutet, daß hier intentionale Begriffe („Selbst“) verwendet werden. Vielleicht schreibe ich dazu mal einen eigenen Artikel.
„“als Lebewesen mit sich identisch“(… Was für Identität?“
Identität als Lebewesen eben. Als Lebewesen betrachtet ist ein Hund eben genau der Hund, der er vor einem Jahr war, er ist eben dieses Lebewesen. Als Körper betrachtet ist er es nicht. Wenn Sie allerdings „Lebewesen“ mit „Körper“ identifizieren, d. h. wenn das Lebewesen für Sie ein Körper mit bestimmten Eigenschaften ist (und nicht ein Lebewesen ein Wesen ist, das einen Körper hat), dann verschwindet dieser Unterschied. Dann ist der Hund vor einem Jahr ein Körper mit bestimmten Eigenschaften, und der jetzige Hund ist entweder ein andere Körper oder er ist derselbe Körper wie damals, jedoch mit anderen Eigenschaften (das können Sie nach Belieben so oder so machen). In dem Buch von Schark, auf das ich hier schon öfter verwiesen habe, wird dieses Problem übrigens auf vielen Seiten anhand der Frage diskutiert, ob und in welchem Sinne der bartlose Knabe X identisch ist mit dem bärtigen Herrn Dr. X, zu dem dieser Knabe heranwächst.
Sie haben offenbar ein Problem mit dem Begriff identität, weil Sie die Naturwissenschaft nicht verlassen wollen oder können. Sagen wir es anders: Was sind die Persistenzbedingungen eines Lebewesens, was die eines leblosen Körpers?
„Was gilt für den Kohl? Wann verliert er seine Identität?“
Wenn er tot ist, verliert er seine Identität als Lebewesen; er, dieses Lebewesen, „ist nicht mehr“, und das ist etwas kategorial anderes als zu sagen „an diesem Körper ist nun kein Stoffwechsel (usw.) mehr zu beobachten“. Das Problem mit der Individualität bei modularen Organismen habe ich im vorigen Kommentar diskutiert. Die Frage von Leben und Tod ist davon nicht berührt. Ich kann immer sagen: das Modul ist tot, oder das ganze „genet“ ist tot, ich kann nur nicht die Aussage „tot“ anwenden, ohne zu sagen, auf welches Individuum ich sie beziehe. Das ist überigens bei mehrzelligen unitaren Lebewesen auch nicht anders: Da kann das ganze Lebewesen tot sein, einzelne Zellen können aber noch leben, und umgekehrt.
Auf den Vorwurf des Ziekelschlusses habe ich auch bereits geantwortet. Vielleicht haben Sie es überlesen.
@Ludwig Trepl
„Ich kann sagen: Wenn vom Stein ein kleines Stück abgetrennt wird, ist es nicht mehr dieser Stein, sondern es sind zwei andere Steine; ich kann ebenso sagen: Es ist noch derselbe Stein, doch mit etwas anderen Eigenschaften. Das ist bei einem Lebewesen nicht möglich. Es ist so lange dasselbe Lebewesen, wie es lebt, auch wenn noch so viele Teile fehlen.“
Ich lese gerade ein Buch über Statistik, wie man eigene Sicht durch zurechtgeschnittenes Diagramm (bei Ihnen Beispiel) untermauert. Ist ein Stein ein selbstorganisierendes System? Warum vergleichen Sie es dann?!
“als Lebewesen mit sich identisch“
Hier fügen Sie noch eine Definition, die kann auch ewig diskutiert werden. Was für Identität? Man kann genetische Identität haben, man kann kulturelle Identität haben, man kann das „Ich“ Identität haben. Was gilt für den Kohl? Wann verliert er seine Identität? Ist seine Identität in der zurückgebliebenen Wurzel oder in den Kopf, der in meinem Kühlschrank liegt? Oder ist es durch Abtrennung zerstört?
Ohne Diskussionsspirale zu wiederholen, möchte ich nur auf Logik stützen. Die Argumentation: „A definiert durch B“ ist zulässig. Nicht zulässig das B durch A zu definieren. Gerade das machen Sie.
@ Chrys
„Jede physisch manifestierte Struktur auf diesem Planeten ist grundsätzlich durch geeignete physische Einwirkungen zerstörbar …“
Das meine ich eben in meiner Antwort auf @ Irena Pottel (noch einmal) beantwortet zu haben.
„… nichts gewonnen ausser einer Sprachregelung, welche genau jene Phänomena betrifft, die ohnehin (nach einer unspezifisch belassenen Konvention) als Lebewesen bezeichnet werden.“
Unser Begriff von Sterblichkeit kommt, meine ich, nicht daher, daß wir ihn verallgemeinernd von bestimmten Phänomenen abziehen, die wir Lebewesen nennen, sondern kommt von unserem Wissen um unsere eigene Sterblichkeit. „Eigene“ ist allerdings mißverständlich, denn um die Sterblichkeit meiner selbst weiß ich ja unmittelbar nichts, sondern ich weiß, dies aber mit letzter Sicherheit, daß andere Menschen sterben können. „Dieser Mensch“ ist nicht mehr, wenn er gestorben ist, und damit ist kein physischer Sachverhalt gemeint; nicht, „da ist jetzt ein Körper, der sich nicht mehr bewegt, während vorher da ein Körper war, der genauso aussah, sich aber bewegte“, sondern eben er ist nicht mehr. Dabei kommt es auch nicht darauf an, daß wir das bei allen Menschen bisher beobachtet haben, es geht nicht um einen Induktionsschluß; sondern es kommt nur darauf an, wie wir den Tod eines Menschen denken – und wenn wir ihn nur ein eiziges Mal erfahren haben sollten, so würde das reichen.
Das übertragen wir dann auf andere Wesen, denen wir das zuschreiben, was wir von uns selbst wissen: daß wir „leben“. „Unspezifische Konvention“ bezieht sich nur auf die Grenzen des Bereichs der Natur, den wir durch diese Zuschreibung auszeichnen; bezieht sich also auf die Extension, nicht aber auf die Intension.
„Sterblichkeit lässt sich ja durchaus als die intrinsisch veranlagte und mithin unabwendbare Endlichkeit eines Daseins verstehen, und die Auseinandersetzung mit eben diesem Aspekt der Endlichkeit ist es doch, der für die menschliche Kultur belangreich ist. Dass definitiv Lebensformen existieren, für die das so nicht zutrifft, ist auch eine kulturgeschichtlich eher jüngere Erkenntnis durch die Wissenschaft.“
Der biologisch notwendige Tod kommt nicht allen Lebewesen zu. (Ich bin mir nicht sicher, ob man das wirklich erst durch neuere Erkenntnis der Wissenschaft weiß. Die einzelnen Erdbeerpflanzen in meinem Gartenbeet müssen sterben, die Gesamtpflanze könnte immer weiterleben, sie treibt neue Ausläufer; vielleicht hat man das immer gewußt.)(Die „unabwendbare Endlichkeit“ des Daseins eines Lebewesens ist aber auch ohne den biologisch notwendigen Tod sicher: Auch wenn ein Wesen nur durch den sogenannten Katastrophentod sterben kann (wie die Einzeller oder der Mensch, wenn das Anti-Aging erst mal richtig funktioniert), so wird es doch nicht ewig leben, denn in der Ewigkeit tritt die für einen bestimmten Zeitraum nur mögliche Katastrophe garantiert irgendwann ein.
@ Irena Pottel
“Alle Objekte inkl. Lebewesen KÖNNEN vernichtet werden. Hier müssen Sie wieder zurückkehren und erklären, durch was ein Objekt ein Lebewesen ist und dadurch nicht vernichtet aber gestorben ist.”
Alle Dinge können vernichtet werden, aber bloße Dinge sterben nicht. Das Thema hatten wir oben schon einmal. Sie haben geschrieben:
„Z.B. Tod in Bezug auf das Ende eines Sterns ist keine Metapher. Er aufhört als Stern zu existieren und zwar gesetzmäßig, wie gesetzmäßig ein Tier sterben wird.“
Ich habe geantwortet:
Das ist falsch, das ist eine Metapher. „Aufhören zu existieren“ ist im Falle eines unbelebten Dinges, ob das nun ein Stern ist oder ein Stein oder ein Staubkorn, etwas kategorial anderes als im Falle eines Lebewesens, und nur bei diesem kann man von „sterben“ sprechen:
(1) ist es im Falle des unbelebten Dinges eine Sache beliebiger Definition, ob ich es als noch oder nicht mehr existierend betrachten will. Ich kann sagen: Wenn vom Stein ein kleines Stück abgetrennt wird, ist es nicht mehr dieser Stein, sondern es sind zwei andere Steine; ich kann ebenso sagen: Es ist noch derselbe Stein, doch mit etwas anderen Eigenschaften. Das ist bei einem Lebewesen nicht möglich. Es ist so lange dasselbe Lebewesen, wie es lebt, auch wenn noch so viele Teile fehlen.
(2) Das unbelebte Ding bleibt mit sich identisch, solange sich an ihm nichts ändert (vollkommen kann es damit in der Realität nie mit sich identisch bleiben, weil sich immer etwas ändert, doch können die Änderungen innerhalb der Grenzen einer vorher erstellten Definition bleiben, so daß man deshalb sagen kann: nach dieser Definition ist es noch dasselbe). Es könnte nur als völlig geschlossenes System (ohne jede Wechselwirkung materieller und energetischer Art mit der Umgebung) streng identisch bleiben. Ein Lebewesen demgegenüber kann nur ein Lebewesen bleiben (also „leben“, und als Lebewesen mit sich identisch sein), wenn es Stoffe mit seiner Umgebung austauscht, wenn es also materiell nicht mit sich identisch bleibt. Wenn diese Prozesse irreversibel aufhören, ist der Tod eingetreten. Und nur in solchen Fällen sprechen wir von Tod.”
@ Irena Pottel
Nein, ganz so meine ich das nicht, obwohl es richtig ist, daß das, was ein Lebewesen ausmacht, nicht etwas ist, das sich auf physikalisch-chemischer Ebene begreifen läßt, sondern schon etwas damit zu tun hat, was man bei Menschen „Geist“ nennt. Wer stirbt, „gibt seinen Geist auf“. Die naturwissenschaftliche Forschung kann sich nur darauf beziehen, was die physischen Bedingungen sind, unter denen so etwas wie „Geist“ möglich ist. Sie kann nicht selbst definieren, was „Geist“ ist und auch nicht, was „den Geist aufgeben“ bedeutet.
„Geist“ trifft die Sache allerdings nicht so richtig. Was man Geist nennt, wird üblicherweise nur Menschen zugeschrieben. Auf der Stufe darunter in den gängigen Hierarchien entspricht dem Geist die Seele. Bei Aristoteles war „Seele“ nichts als der Inbegriff all derjenigen Vermögen, durch die Lebewesen sich von leblosen Dingen unterscheiden. Erst in späteren Ontologien wurde die Seele zu einer Art Substanz, die mit dem Körper verbunden ist und sich von ihm lösen kann und auch ohne Körper existieren kann. – Die Seele im aristotelischen Veständnis kommt definitionsgemäß allen Lebewesen zu, auch Pflanzen. Später wurde eine Seele nur der besonderen Form der Tiere (im alltagssprachlichen Verständnis) zugeschrieben.
Das Wesentliche an den Tieren – weshalb wir dem Hund problemlos etwas zuschreiben, was wir dem Kohl nur schwer zuschreiben können – scheint mir zu sein, daß sie typischerweise unitare Lebewesen sind. (Ausfühlicher dazu siehe in dem oben zitierten Lehrbuch von mir das Kapitel „unterschiedliche Individualtion von Lebewesen“, S. 94 ff.) Wir können ohne weiteres denken, daß der Hund etwas fühlt oder wahrnimmt. Das ist bei Pflanzen, die typischerweise modulare Organismen sind, nicht oder nur schwer möglich. Beispiel: Ich reiße ein Blatt von einem Sproß einer ausläuferbildenden Pflanze ab. Angenommen, es gäbe da ein Schmerzgefühl: Wer fühlt den Schmerz? Der Sproß? Das ganze Gebilde von durch Ausläufer verbundenen Sprossen („Genet“)? Bei einem unitaren Organismus ist das kein Problem: Wenn ich am Fuß verletzt werde, fühlt nicht der Fuß den Schmerz, sondern ich als Ganzer fühle ihn, und das können wir bei einem Hund genauso denken (eine Zentralisation – Gehirn – ist nicht nötig, um das so zu denken, nur die unitare Organisation).
Da liegt auch bei typischen Pflanzen das Problem mit dem Sterben: Wenn bei einer ausläuferbildenden Pflanze ein Sproß stirbt – ist da ein Lebewesen gestorben oder hat ein Lebewesen (das ganze „Genet“) lediglich einen Teil verloren? Die Frage ist schlechterdings nicht beantwortbar. Dennoch, den Begriff des Todes kann man auch auf Pflanzen anwenden (also von uns selbst ausgehend den Pflanzen zuschreiben). Es stirbt auch da „etwas“, wenn wir auch Schwierigkeiten haben zu sagen, welches Individuum da gestorben ist. Es ist lebensweltlich – und ich vermute, kulturunabhängig – ohne weiters möglich, von einem toten Baum oder einem toten Blatt zu sprechen: Es hat keine „Seele“ im Sinne von Aristoteles mehr.
Woran man erkennt, daß das Blatt, der Baum oder der Hund tot ist, ist allerdings eine empirische Frage, und hier werden die Erkenntnisse der Biologie relevant. Aber die „Denkfigur Tod“, auf die wir uns mit den empirischen Forschungen beziehen (wir fragen, welche Eigenschaften muß eine Entität haben, von der wir sagen, sie lebt, d. h., sie kann sterben), kommt nicht aus den Beobachtungen von Lebewesen, sondern entstammt unserem Wissen über uns selbst, und sie ist konstitutiv für den Gegenstand Lebewesen. Was Sie schreiben über die Schwierigkeiten, bei Lebewesen, die uns nur entfernt ähnlich sind, das zu finden, was uns zu erkennen erlaubt, daß sie Lebewesen sind (also „ihren Geist aufgeben können“), ist kein Einwand dagegen, daß eben dies, das Sterbenkönnen, grundlegend ist für unsere Einteilung der Natur in kategorial verschiedene Bereiche (Lebendes und Lebloses) und daß die Biologie auf diese Einteilung aufbaut, sie voraussetzt. Es heißt nur, daß es empirisch schwierig ist (und immer war), festzustellen, was denn dieser an uns selbst gewonnenen Denkfigur in der Natur entspricht, worauf wir sie anwenden können (so daß sich halt ergibt, daß wir „Lebewesen“ als Typenbegriff mit unscharfem Rand verwenden).
Man könnte die ganze Diskussion auch an einer anderen Frage aufrollen, der der Zuschreibung von Handeln aus Absichten, also der Rolle der Teleologie, aber dazu würde hier zu weit führen.
@Ludwig Trepl
An dieser Stelle bräuchten wir sicherlich eine Begriffserklärung für Sterblichkeit bzw. für sterben können. Jede physisch manifestierte Struktur auf diesem Planeten ist grundsätzlich durch geeignete physische Einwirkungen zerstörbar, aber falls Sterblichkeit gerade die strukturelle Zerstörbarkeit von Lebewesen bedeuten soll, dann wäre zunächst nichts gewonnen ausser einer Sprachregelung, welche genau jene Phänomena betrifft, die ohnehin (nach einer unspezifisch belassenen Konvention) als Lebewesen bezeichnet werden.
Sterblichkeit lässt sich ja durchaus als die intrinsisch veranlagte und mithin unabwendbare Endlichkeit eines Daseins verstehen, und die Auseinandersetzung mit eben diesem Aspekt der Endlichkeit ist es doch, der für die menschliche Kultur belangreich ist. Dass definitiv Lebensformen existieren, für die das so nicht zutrifft, ist auch eine kulturgeschichtlich eher jüngere Erkenntnis durch die Wissenschaft.
N.B. Das Lehrbuch, Trepl 2005, fehlt aktuell noch in der obigen Literaturliste, das sollten Sie noch korrigieren.
@Ludwig Trepl
Es bringt doch Nichts zum Verständnis vom Leben. Alle Objekte inkl. Lebewesen KÖNNEN vernichtet werden. Hier müssen Sie wieder zurückkehren und erklären, durch was ein Objekt ein Lebewesen ist und dadurch nicht vernichtet aber gestorben ist.
@Ludwig Trepl
Es scheint, dass Sie das Tod mit dem Geist komplementär sehen. Wir hatten schon die Unterschiede zwischen Kohl und Hund, zwischen Einzeller und komplexen mehrzelligen Lebewesen angesprochen.
Entschuldigung, aber Geist von Kohl, wenn wir schon annehmen, dass er ein hat, ist grundverschiedener Natur als des Menschen. Schon das Mentale des Menschen hat verschieden Manifestationen, die mit einander nicht zu vergleichen sind: das Gefühl der Geborgenheit, die visuelle Wahrnehmung, das Sprachdenken. Es gibt sicher eine Deutungsebene in einem Kohl. Er deutet das Licht,die Nährstoffe. Seine Deutungsebene bleibt aber für uns verschlossen. Wie können es nicht im Entfernstestens nachvollziehen, wie es z. B. mit Empfindungen des anderen menschen oder höheren Tier der FAll ist. Die Deutung des Kohl von seiner Umwelt und sich selbst ist genau so für uns verschlossen, wie die Deutung des Elektrons der e/m Ladung.
Folgend kann ich nicht ausschließen, dass in anderen selbstorganisierenden Systemen auch etwas wie eine Deutungsebene sind. Letztendlich ist die Physik auf 4 Naturkräfte begründet, von der jede als eine bestimmte Art der Deutung ist. Sie sagen “Nein”, es ist nur die Lebewesen sind. Nur der Grundlegende Unterschied zwischen “des Geistes” der Lebewesen lässt mich daran zweifeln, bzw. bei Anerkennung dem Kohl und Einzeller einer geistige Ebene, ist für mich nur logisch, dass es nicht nur auf das Lebewesen beschränkt ist.
@ Chrys
Viele Lebewesen haben keinen biologisch notwendigen Tod. Einzeller sind das Paradebeispiel: Ihr individuelles Leben endet notwendig durch Teilung, nicht durch Tod. Modulare mehrzellige Lebewesen können sich prinzipiell durch Wachstum erneuern, es muß nicht ein “Körper” sterben, so daß die Fortexistenz in der Generationenfolge von besonderen “Keimzellen”, die andere Individuen sind, ausgeht, wie bei den unitaren Organismen. Aber es kommt hier nicht auf das Sterbenmüssen, sondern auf das Sterbenkönnen an. Alle Lebewesen können durch Tod enden. Was nicht sterben kann, ist kein Lebewesen. Das ist eine Implikation des Begriffs Lebewesen, nicht eine empirische Frage. Es wäre also verfehlt zu sagen: Zeigen Sie mir eine Ausnahme.
Ausführlicher siehe das oben zitierte Lehrbuch von mir, S. 92 ff., S. 473 ff.
@Irena Pottel, Ludwig Trepl
Man kennt da beispielsweise doch gewisse Strudelwürmer, die gar nicht in dem Sinne sterblich sind wie Menschen oder Mäuse.
Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Planarian
@Ludwig Trepl
“Können Sie das begründen? Daß der allgemein, d. h. kulturabhängig anerkannte Begriff des Lebewesens nicht der ist, daß die betreffende Entität sterben kann? Daß man also auch eine Entität ein Lebewesen nennen kann (und vielleicht irgendwo tatsächlich nennt), das nicht sterben kann?
Ich kenne „eine sehr breite Strömung szientifisch-naturalistischen Philosophierens“ nicht, weil , was Philosophen dazu gesagt haben, interessiert mich weniger. Von Anfang an hat mich dieser Begriff in der Deutung der Naturwissenschaft – also Biologie – interessiert. Dies hat ihre, mir bewusste Problematik auch, aber eben nicht in dem Maßstab wie Sie, wenn sie das Hauptmerkmal an den möglichen Tod legen. Lesen Sie WIKI: http://de.wikipedia.org/wiki/Lebewesen
@ Irena Pottel
„Mit dem, was sie mit allgemein anerkanntem Begriff des Lebewesens verstehen, kann ich mich nicht anfreunden. Ich bin auch nicht die einzige.“(
Können Sie das begründen? Daß der allgemein, d. h. kulturabhängig anerkannte Begriff des Lebewesens nicht der ist, daß die betreffende Entität sterben kann? Daß man also auch eine Entität ein Lebewesen nennen kann (und vielleicht irgendwo tatsächlich nennt), das nicht sterben kann?
Ich vermute, Sie meinen mit „Ich bin auch nicht die einzige“, daß es eine sehr breite Strömung szientifisch-naturalistischen Philosophierens (und des common sense der Biologen) gibt, die eine innerhalb der Naturwissenschaften mögliche Definition von Lebewesen versuchen (als eine Eigenschaft bestimmter Körper, beispielsweise, offene Systeme im Fließgleichgewicht zu sein). Aber die setzen dann entweder den lebensweltlichen Begriff des Lebewesens voraus (suchen eine naturwissenschaftlich beschreibbare Eigenschaft, die allen Gegenständen, von denen sie vorher schon wissen, daß sie Lebewesen sind, gemeinsam ist). Oder sie versuchen den Begriff des Lebewesens überflüssig zu machen (wie hier @ Noït Atiga) zugunsten eines Begriffs bestimmter Systeme (z. B. dissipativer), der auch Systeme, die wir lebensweltlich als unbelebt bezeichnen, umfaßt, so daß dann die Biologie bruchlos in einer physikalischen Überwissenschaft aufgeht. Das würde aber, selbst wenn es gelingen sollte, nichts daran ändern, daß der lebensweltliche Begriff des Lebewesens bleibt und daß er seinen Grund im Sterbenkönnen hat. Jeder Mensch weiß nun einmal, daß er ein lebendes, also sterbliches Wesen ist, und diese für ihn wichtigste Differenz innerhalb all dessen, was es in der Welt gibt und was er sich darüber hinaus vorstellen kann (z. B. unsterbliche Götter), ist nicht zu beseitigen.
„…heute der Hirntod – aber auch der ist inzwischen nicht mehr unumstritten. Haben wir doch ganz andere Möglichkeiten, die Funktionen des Gehirns zu ersetzen jedenfalls soweit es nur um den Körper geht (siehe den Fall des Erlanger Babys).“
Ich will nachvollziehen, um Gehirn welches Organismus geht es bei Ihnen in Fall des Erlangers Babys. Es gerade doch zeigt, dass ein nicht entwickeltes Embryo außerhalb Mutter kann nicht überleben. Er stirbt, wie jede andere Zelle bzw. Organ, die vom Körper abgetrennt ist. Es war 15(!) Wochen alt.
Zwar stimme ich auch @Ludwig Trepl zu, dass wir es beim überleben nur weniger Zellen nicht mehr mit einem lebenden Organismus zu tun haben – aber wann sind es denn nur noch wenige Zellen? Wieviel Prozent müssen überleben oder welche?
Ab wann, ist relativ einfach zu antworten. Wenn das Rest noch selbstorganisierende Eigenschaften besitzt, wenn es den Verlust durch Umorganisation des Restes aufgefangen kann, so dass die Ganzheit sich weiter erhält. Umso differenzierter und komplexer Körper ist, umso mehr erhält er die Stellen, die unersetzbar sind.
Zum Anderem geht in dieser Diskussion unter, dass ein Mensch kein Gemüse ist, obwohl beide Lebewesen sind. Seine (und anderer Tiere) ruht sich nicht nur auf genetischem Gut. Er hat auch eine mentale Identität.
@Ludwig Trepl
„Ihr Fehler ist, daß Sie eine naturwissenschaftliche Lösung eines Problems suchen, das kein naturwissenschaftliches ist. „
Ich hab gesagt, dass ich naturwissenschaftlich geprägt bin, nicht dass ich naturwissenschaftliche Lösung biete. Ein weltanschauliches Model ist immer eine Philosophie.
Zur der Begrifflichkeit. Es sind wandelnde Bedeutungen. Mit dem, was sie mit allgemein anerkanntem Begriff des Lebewesens verstehen, kann ich mich nicht anfreuen. Ich bin auch nicht die einzige.
@Ludwig Trepl: Seins-Kategorien
Aber muss denn das Geworden-Sein zwingend für die Kategorien herangezogen werden?
Dabei bezweifle ich nicht, dass wir das heute tun, sondern nur, dass das notwendig ist (und hilfreich).
Kommen wir nicht vielmehr gerade durch diesen Bezug auf Geworden-Sein in große (Abgrenzungs)Schwierigkeiten, gerade in der Zeit? Gar wenn wir an den Urknall anknüpfen müssten? Würden diese nicht durch eine nur auf Sein bezogene Kategorisierung beseitigt? Also eine, die lediglich zwischen dynamischem ‘Selbsterhalt’ (Lebewesen) und statischer Existenz (lebloses Ding) unterscheidet? Idealerweise als Kontinuum – also wieder nicht kategorisch? Weil es etwa (teilweise) lebensfähige leblose Dinge gibt?
Mir scheint diese Kategorisierung auch unter einem anderen Aspekt nützlicher zu sein. Sie interessiert sich nämlich nicht so sehr für die (nicht zu verändernde) Geschichte, als vielmehr für die aktuell gegebenen Dispositionen. Wie es dazu gekommen ist, das ist ja für die Zukunft irrelevant. Viel bedeutsamer ist, was mit dem Existierenden möglich ist – und warum sich daraus eher diese statt jene Zukunft ableiten wird. Oder wie man die Dispositionen ändern müsste, um gewisse ‘Ziele’ zu erreichen, und welche Nebenwirkungen damit einhergehen.
@Ludwig Trepl: Kausalursache
Es kann in der Sprache selbsterhaltender Systeme keine Kausalursache geben – da bin ich bei Ihnen. Nur ist mir dieser Zustand der Erklärungen unbefriedigend, weil wir damit die verschiedenen Naturwissenschaften kategorisch trennen: Die Physik sucht dann nach den Kausalursachen des Universums – während die Biologie mit einem recht beliebigen Konstrukt anfängt. Die erstere kennt Naturgesetze – die letztere (obgleich Naturwissenschaft) muss jedenfalls auch mit zugeschriebenen Zwecken arbeiten.
Diese Differenzierung kann man aber aus meiner Sicht vermittels der Entropieüberlegungen im Zusammenhang mit historischen Dispositionen überwinden. Denn dann kann man auf Selbsterhaltung als letzten Grund (sie bleibt durchaus sinnvoll als Beschreibung) verzichten – braucht keine Aktivitäts-Annahme, keinen zugeschriebenen Zweck. Es reicht das Naturgesetz über spontan in einem konkreten Umfeld ablaufende Prozesse – die eben immer irreversibel sind und damit entropieerhöhend.
Kausalursache sind dann die historischen Dispositionen in Verbindung mit den Naturgesetzen – sprich aus bzw. bei bestimmten Bedingung entsteht zwingend Leben…
@ Noït Atiga
„Warum gibt es die Selbsterhaltung dieser ‘Ganzheit’?( Das ist doch DAS zu erklärende Problem. (Dazu ist mir bisher keine Theorie oder Hypothese bekannt.“
Ich vermute, sie ist Ihnen nicht bekannt, weil es sie nicht gibt, und es gibt sie nicht, weil es sie nicht geben kann.
Die Naturwissenschaft sucht von allem eine Kausalursache, das ist ihr Wesen. Wenn wir aber davon sprechen, daß etwas „sich selbst erhält“, dann sagen wir damit, daß es dafür keine andere Ursache gibt als eben dieses Etwas selbst. Die Suche nach Ursachen hört hier auf. Das klassische Wort dafür ist „spontan“ (nicht in dem heute üblichen alltagssprachlichen Sinn gemeint, sondern so, wie das „spontane“ Vermögen des Verstandes dem „rezeptiven“ der Sinnlichkeit gegenübergestellt wurde).
Nur zur Illustration: Wenn die Autopoiesistheorie von sich selbst (re-)produzierenden Systemen spricht, dann erklärt sie nicht, wie es dazu kommt, sondern geht von Systemen, die so etwas tun, sozusagen als dem letzten Grund aus, auf den wir bei unserem Forschen stoßen können. Es „gibt“ eben solche Systeme, und alles weitere (etwa daß sie beobachten, decodieren, Subsysteme bilden usw.) leitet sich davon ab. Sie erklärt alles von der Existenz solcher Systeme aus, sie erklärt nicht, warum es diese Systeme gibt.
@ Irena Pottel
„Es ist eben Ihre Definition von Lebewesen, in der Sie im Kreis drehen: das Lebewesen kann sterben, der Tod ist das Aufhören zu leben.“
Nein, das ist nicht meine Definition von Lebewesen. Das ist die Definition von Lebewesen, die wir alle haben, unabhängig von allen kulturellen Besonderheiten, die in diesem Rahmen vorkommen, und die wir bereits hatten, bevor es Naturwissenschaft gab.
Entitäten können auf verschiedene Weisen aufhören zu persistieren. Eine davon ist das Sterben. Was das ist, dazu haben wir einen unmittelbaren Zugang, und zwar deshalb, weil wir selber sterben können, also Lebewesen sind. Wenn ein Mensch stirbt, dann wissen wir, daß er auf eine kategorial andere Weise nicht mehr existiert, als z. B. ein Stück Eisen, das man durch Schmelzen dazu gebracht hat, nun kein Stück Eisen mehr und sein, oder ein Kristall, der dadurch zerstört wurde, daß er zu Staub zermalen wurde; d. h. wir wissen damit, daß der Mensch vorher auf eine kategorial andere Art existiert hat, als es bei diesen Dingen vor ihrer Zerstörung der Fall war. Es liegt hier kein Zirkel vor, sondern wir sind auf ein nicht mehr weiter rückführbares Wissen gestoßen.
Etwas anderes ist das, was auf der naturwissenschaftlichen Ebene geschieht. Wir fragen dann, was an dem Körper des Lebewesens beobachtet werden kann und was nicht mehr beobachtet werden kann, wenn es gestorben ist. Aber dabei ist aber immer schon vorausgesetzt, daß wir wissen, was ein Lebewesen ist; das finden wir nicht auf naturwissenschaftliche Weise heraus, sondern das läßt sich die Naturwissenschaft aus der „Lebenswelt“ vorgeben, und eben dadurch ensteht „Biologie“. Würden wir einen Gegenstand treffen (irgendwo auf einem anderen Planeten), der keine der Definitionen erfüllt, die sich die Naturwissenschaft von „Leben“ ausgedacht hat, d. h. auf die sie durch Vergleich aller Lebewesen als das ihnen allen Gemeinsame gekommen ist, der aber „offensichtlich“ lebt, nämlich sterben kann, dann müßte die Naturwissenschaft ihre Definition ändern.
Ihr Fehler ist, daß Sie eine naturwissenschaftliche Lösung eines Problems suchen, das kein naturwissenschaftliches ist.
@ Noït Atiga
„Also wozu ist die Unterscheidung zwischen gestorbenen Lebewesen und toten Dingen nützlich oder notwendig?“
Leblose Dinge (man sollte sie nicht tot nennen, meine ich inzwischen) haben nie gelebt. Sie sind zu dem, was sie nun sind, nicht durch Sterben geworden. Das ist ein kategorialer Unterschied. Physikalisch-chemisch allerdings ist kein Unterschied zu bemerken. (Der ist auch nicht zwischen Lebewesen und lebloser Natur zu bemerken. Dispositionale Funktionen, z. B. Herztöne, sind von ätiologischen, also im eigentlichen Sinne biologischen, z. B. Blutpumpen, physikalisch-chemisch, also naturwissenschaftlich im engeren Sinn, nicht zu unterscheiden).
„Und ist die Zuordnung nicht nur so möglich, wie @Balanus schrieb – also über die Existenz der organismischen Strukturen (die wir aber auch in eindeutig toten Dingen wie dem Gestein finden, siehe Fossilien)?“
Die Frage, aufgrund welcher Indikatoren oder Indizien wir etwas feststellen, ist eine andere als die, was das ist, was wir da feststellen. Aufgrund von Indizien stellt der Kommissar fest, wer der Mörder ist. Aber der Mord ist nicht die Summe der Indizien.
„finden sich nicht gewisse organismische Strukturen in allen toten Dingen, weil sie alle durch jedenfalls ‘lebensähnliche’ Prozesse entstanden sind?“
Ich vermute, das bezieht sich jetzt nicht auf das Wiederauftauchen von ehemaligen Bestandteilen von anderen Lebewesen in Lebewesen, sondern auf Strukturen oder Ereignisweisen, die auf tieferen Stufen der üblichen ontologischen Hierarchien auch vorhanden sind, aber „unentwickelt“ bzw. nur als Anlage, als Potential. Das ist die Denkfigur der Monadologie, da wird vorgeführt, wie bis zur toten Materie hinunter man das, was man jeweils weiter oben findet, eine Stufe tiefer auch schon da in, wenn auch „unrealisiert“. Es handelt sich also nicht um etwas, was die moderne Naturwissenschaft herausgefunden hätte, sondern um eine Möglichkeit (und unter bestimmten Umständen Denknotwendigkeit), die in unterem – man muß wohl sagen: christlich-abendländischen – Denken angelegt ist, die Welt zu sehen (dazu gibt es vor allem Arbeiten von U. Eisel). Dieses Denken, das Leibniz da vorexerziert, ist aber nicht mit dem Denken der modernen Biologie verträglich, da müssen Sie also aufpassen.
„Können wir sie wirklich so frei abgrenzen? Ist nicht zwingend erforderlich, dass ihre Teile miteinander interagieren? Aber eben weniger intensiv und ohne allseitige Angewiesenheit?“
Das sind zwei verschiedene Probleme. (1) Wir können völlig frei abgrenzen. Wir können z. B. aus einem Stein und der ihn umgebenden Luft bis 2 cm Entfernung einen Gegenstand machen, aber auch aus dem gedanklich geteilten Stein drei Gegenstände. Daß das gewöhnlich nicht geschieht, liegt einfach daran, daß es normalerweise kein Erkenntnisinteresse gibt, das das als sinnvoll erscheinen läßt. (2) Die Intensität der Beziehungen – von der Frage abgesehen, was das überhaupt heißen soll – ist egal. Aber die Abhängigkeit der Teile ist nicht egal. Sie führt dazu, daß wir Systeme (bzw. Dinge) nicht beliebig teilen können (bzw. durch andere Abgrenzung etwas hinzufügen können), wenn sie als diese Systeme (bzw. Dinge) erhalten bleiben sollen. Wenn wir diese andere Abgrenzung machen, haben wir anschließend andere Systeme vor uns. Wir können uns aber auch entschließen, nach wie vor von demselben System/Ding zu sprechen, das nun lediglich andere Eigenschaften hat. Bei einem Lebewesen ist es anders. Es existiert nicht etwa nach der Abtrennung eines Teils als ein anderes Lebewesen weiter, sondern je nach dem, ob der Teil nicht-essentiell war (dann existiert es als dieses, nicht als ein anders Lebewesen, aber mit veränderten Eigenschaften weiter) oder essentiell war. Dann hört es auf zu leben, d. h. zu existieren, denn ein Lebewesen, das nicht lebt, existiert nicht. Es ist dann etwas anderes entstanden, ein totes Ding. – Das ist der kategoriale Unterschied. Es ist einfach sinnlos, von einem (nicht-lebenden) Ding in dieser Weise zu reden. Naturwissenschaftlich (physikalisch-chemisch) gesehen gibt es diese Unterschiede aber nicht.
„…Ameisenkolonie – bei diesen ‘Populationen’ sind die Interaktionen so intensiv, dass wir sie als lebendig ansehen. Während sie uns bei anderen Populationen zumindest nicht so intensiv erscheinen, und wir diese daher nicht als lebendig ansehen.“
Ameisenstaat, nicht -kolonie. – Es kommt nicht auf die Intensität der Interaktionen an. Ganz heftige, hochintensive Interaktionen gibt es auch in einer Population mit Kanibalismus. Auch intensive mutualistische Interaktionen machen eine Population noch nicht zu einem Lebewesen (ich glaube, das meinen Sie mit „lebendig“). Entscheidend ist, daß der Ameisenstaat eine Funktionseinheit ist und die Antivitäten der einzelnen Ameisen für den Staat geschehen. Daß die einzelne Stöpselameise mit ihrem Kopf den Eingang verschließt, erklärt sich nicht dadurch, daß sie selbst, als Einzelameise, davon etwas hat (im Gegenteil), sondern allein aus der Funktion dieses Verhaltens für das Ganze des Staates. Bei Populationen müssen nur von Zeit zu Zeit Paarungen stattfinden, wenn die Fortpflanzung sexuell ist; bei asexueller Fortpflanzung sind überhaupt keine Interaktionen notwendig, nicht einmal räumliche Nähe ist notwendig, und in sehr vielen Fällen gibt es auch keine. (Population ist hier im in der Populationsgenetik üblichen Sinn verstanden; in dem in der Ökologie verbreiteten Gebrauchsweise von Population braucht es ohnehin keine Interaktionen).
Tod von Mehrzellern
Mir sprechen die Argumente hier für die Ansicht von @Balanus. Tot ist der Organismus erst, wenn alle seine Zellen tot sind, auch wenn wir ihn aus gewissen Gründen schon eher tot nennen.
Der von @Irena Pottel angesprochene Übergang zum Abgrund ist ja an die Möglichkeiten und Absichten im zeitlichen und räumlichen Umfeld gebunden und damit auch Definitionsfrage. Das zeigen etwa die Entwicklungen und Diskussionen zum Todeszeitpunkt von Menschen recht gut. Früher war dort insbesondere das Ausbleiben des Herzschlages relevant, heute der Hirntod – aber auch der ist inzwischen nicht mehr unumstritten. Haben wir doch ganz andere Möglichkeiten, die Funktionen des Gehirns zu ersetzen jedenfalls soweit es nur um den Körper geht (siehe den Fall des Erlanger Babys).
Und auch die Identität machen wir wohl (mit) an der Zahl weiterlebender Zellen fest – ersetzen wir doch heute viele lebenswichtige Organe und sehen den Menschen immer noch als denselben an. Wieviele dürften wir denn (gleichzeitig) ersetzen, damit es noch derselbe Mensch ist?
Zwar stimme ich auch @Ludwig Trepl zu, dass wir es beim überleben nur weniger Zellen nicht mehr mit einem lebenden Organismus zu tun haben – aber wann sind es denn nur noch wenige Zellen? Wieviel Prozent müssen überleben oder welche? Wie wäre es, wenn wir das Gehirn in anderem oder künstlichem Körper erhalten könnten? Oder gar dem Körper ein künstliches Gehirn geben? Oder ganze (Gruppen von) Organe(n) aus Stammzellen neu wachsen und ersetzen?
@Irena Pottel: Selbsterhalt ohne Zweck?
Aber das ist ein Zweck im Lebewesen (oder unbelebtem System)! Einer, der sich selbst erst einmal erklären lassen muss. Warum ist denn diese ‘Ganzheit’ (=Ordnung) zu verwirklichen? Warum gibt es die Selbsterhaltung dieser ‘Ganzheit’?
Das ist doch DAS zu erklärende Problem.
Dazu ist mir bisher keine Theorie oder Hypothese bekannt. Wenn wir aber auf die reine Entropieerhöhung im jeweiligen Umfeld (relativ geschlossenes System) zurückgreifen, dann ist das einfach eine ganz normale Auslese, ähnlich der darwinistischen für die Lebewesen. Insofern geht meine Argumentation auf die Arbeiten von Andy Pross zurück, die bei der Diskussion um die den Tod fürchtenden Organismen zur Sprache kamen.
@Noit Atiga
„Warum existiert und entwickelt sich Leben? Bisher wird das (wenn überhaupt) teleonomisch erklärt – für das Leben, für die Ordnung, für die Informationsverarbeitung o.ä. Man liest also immer irgendeinen Zweck in das Lebewesen hinein.“
Da bin ich irgendwie sprachlos. Bewegen wir auf der gleichen wissenschaftlichen Landschaft? Ich behaupte, dass es das Gegenteil ist. Man will keine Zweckmäßigkeit anerkennen. Einzelne Zweckmäßigkeit des Lebwesens ist auf seine Ganzheit begründet. Die Ganzheit äußert sich durch die Selbsterhaltung, die nicht nur den Lebewesen zugeschrieben werden kann.
Hier sind wir schon an Anfang der Diskussion mit Herr Trepl gelandet, wo ich geschrieben habe, dass aus dieser Sicht gibt es kein grundsätzliches Unterschied zwischen selbstorganisierenden unbelebten, belebten und lebenden System. Lebendes System ist ein Lebewesen. Belebtes System ist ein System aus Lebewesen. Selbstorganisierende unbelebte Systeme sind vielfach in makrokosmischen Umwelt zu entdecken: entstehende und entwickelnde Sterne, Galaxien, Galaxienhaufen, ganze Universum. Ein Kieselstein mit dem Lebewesen zu vergleichen, ist ein grober kategorialer Fehler.
Der Tod und das Lebewesen
„Der mehrzellige Organismus ist ein Lebewesen, also etwas, das sterben kann.“
Es ist eben Ihre Definition von Lebewesen, in der Sie im Kreis drehen: das Lebewesen kann sterben, der Tod ist das Aufhören zu leben.
Nichtdestotrotz stimme ich Ihrem Verständnis über den Tod des komplexen mehrzelligen Organismus, da das langsamere Absterben der Zellen zeigt nur den unvermeidlichen seit dem Tod Zerfall des Körpers. Wie in obigem Beispiel mit der Landschaft, geht es um die Festlegung, wann wir den Tod deklarieren: wann man die Schwelle zum Abgrund überschritten hat (ich, Sie) oder wann man auf dem tiefsten Punkt gelangt hat (Balanus). Wenn die Ereignisse an der Schwelle noch rückgängig gemacht werden können, „der freie Fall“ führt notwendige Weise nur in eine Richtung.
Daher ist für Definition wichtig die Schwelle zum Abgrund. DieFrage hier lautet: was bildet diese Schwelle? – Es sind die Kreisläufe der Wechselwirkungen, durch die das Überleben der Zellen gesichert werden kann. Wird die Schwelle überschritten, kollabieren diese Kreisläufe. Der Abtransport der Nebenprodukte der Funktionalität der Zelle und sie ertrinkt in eigenen Exkrementen. Die Versorgung mit notwendigen Stoffen wird lahmgelegt und sie erstickt bzw. verdurstet/verhungert. Die Abwehr der Zelle wird geschwächt und sie ist den Mikroorganismen ausgeliefert.
Beim einen Tier gibt es noch ein Organ – das Gehirn, der eigene Ganzheit bildet. Gerade wenn man über Identität des Lebewesens spricht, bezieht man sich oft auf diesen W-W-Netz, da hier die Erinnerungen, die unsere Identität ausmacht, gespeichert wurden. Deswegen werden medizinische Überlebensmaßnahmen fortgesetzt, wenn die Gehirnkreisläufe noch funktionieren. Der Mensch wird für Toterklärt, wenn sein Gehirn stirbt. Es bedeutet nicht, dass jede seine Gehirnzellen gestorben ist. Es bedeutet, dass die Kommunikation zwischen den Zellen unterbunden ist.
Typ und Klasse
Der Unterschied zwischen Typ und Klasse ist genauso unscharf, wie das, was sie unterscheiden sollen. Einerseits umgeht die biologische Klasse eine Unschärfe, indem die Hierarchien oberhalb und unterhalb eingeführt werden. Anderseits finden genetischen klassebestimmende Mutationen nicht auf einmal. Wenn wir es als eine Landschaft mit Vertiefungen betrachten, dann die Klasse ist das, was sich auf tiefsten Punkt befindet. Der Fall der Mutationen von dem Rand der Senke zum diesem Punkt bildet die Unschärfe.
Jedenfalls, wie jeder Begriff, ist eine Übereinstimmung notwendig, was man unter einem Begriff versteht. Für sie ist schwer anzuerkennen, dass eine Spore kein Lebewesen ist. Ich habe kein Problem damit. Andere haben kein Problem auch den Viren zu Lebewesen zu zählen. Ich wehre mich dagegen. Diese Diskussion-Übereinstimmung ist gerade im Gange und wir alle nehmen daran teil.
“In der empirischen Wissenschaft ist, wie ich oben mal gesagt habe, der Begriff Lebewesen ein Typenbegriff, und man kann ihn nur künstlich, um ihn zu bestimmten Zwecken zu operationalisieren, zu einem Klassenbegriff machen, der eindeutige Zuordnungen erlaubt.
Jede Zuordnung ist ein künstlicher Vorgang. Man vereinbart sich auf eine bestimmte Anwendung.
Toter Organismus /@Ludwig Trepl
»Einen Menschen nennen wir tot, wenn er nicht mehr „zum Leben erweckt werden“ kann. Da können durchaus einzelne Zellen noch leben.«
Gewiss, wir nennen ihn tot, aber das bedeutet eben nicht, dass er gänzlich, in allen seinen Teilen, tot ist. Manchmal können z. B. noch “lebende“ Organe entnommen werden (wobei Organe nicht wirklich lebendig sind, das können nur die Zellen sein, die den Organen ihre Funktionsfähigkeit verleihen.)
Es ging ja um die Frage nach dem Zustand des Lebendig seins. Und es besteht doch auch Einigkeit darüber, dass ein vielzelliger Organismus nur deshalb ein abgeschlossenes lebendes Ganzes ist, weil er aus einer einzigen, bereits lebenden Zelle hervorgegangen ist, die sich im Zuge des Wachstums lediglich umorganisiert hat. Das Lebendige im Organismus bleibt aber immer auf die Körperzellen beschränkt, nur dort können die selbsterhaltenden Lebensprozesse stattfinden. Bevor der Organismus als Ganzes stirbt, sterben bestimmte Zellen in ihm. Und wir können einen Organismus für tot erklären, wenn manche seiner Teile noch leben.
@Ludwig Trepl
Hier liegt aus meiner Sicht ein Missverständnis vor. Mir ging es nicht um die Unterscheidung zwischen Umbelebtem und Leben bzw. dessen Bestandteilen – also nicht darum, dass Leben sich irgendwie aus Unbelebtem entwickelt. Sondern es ging mir darum, die Sinnhaftigkeit der Unterscheidung zwischen dem toten Ding und dem gestorbenen Lebewesen anzuzweifeln.
Das gestorbene Lebewesen ist doch nun auch ein totes Ding, was gar nicht sterben kann. Also wozu ist die Unterscheidung zwischen gestorbenen Lebewesen und toten Dingen nützlich oder notwendig?
Gibt es überhaupt einen kategorialen Unterschied? Und ist die Zuordnung nicht nur so möglich, wie @Balanus schrieb – also über die Existenz der orgasmischen Strukturen (die wir aber auch in eindeutig toten Dingen wie dem Gestein finden, siehe Fossilien)? Und noch weitergehend – finden sich nicht gewisse orgasmische Strukturen in allen toten Dingen, weil sie alle durch jedenfalls ‘lebensähnliche’ Prozesse entstanden sind?
Können wir sie wirklich so frei abgrenzen? Ist nicht zwingend erforderlich, dass ihre Teile miteinander interagieren? Aber eben weniger intensiv und ohne allseitige Angewiesenheit?
Mir scheint das übrigens eine sinnvolle Unterscheidung zu sein, mit der sich gewisse intuitive Abgrenzungen erklären ließen, die wir oben schon hatten. Im Bienenschwarm sind alle Bienen zwingend in Beziehungen zueinander wie auch bei der Ameisenkolonie – bei diesen ‘Populationen’ sind die Interaktionen so intensiv, dass wir sie als lebendig ansehen. Während sie uns bei anderen Populationen zumindest nicht so intensiv erscheinen, und wir diese daher nicht als lebendig ansehen.
@Irena Pottel
Nein – das Beziehungsnetz ist ebenfalls ein offenes System. Insofern sind Wechselwirkungs- und Beziehungsnetz identisch. Der Unterschied der Modelle ist: Das Wechselwirkungsnetz wird nur über die aktuellen Wirkungen definiert – während das Beziehungsnetz über aktuelle Wirkungen und (auch davon beeinflusste) Dispositionen für kommende Wirkungen definiert wird. Wenn Sie so wollen ist das Wechselwirkungsnetz der aktuell externalisierte Teil des Beziehungsnetzes. Und darum ist heute auch das W-W-Netz aktuell – weil fast nur empirisch gedacht wird.
Das habe ich auch gar nicht bestritten. Mir geht es nur um einen anderen Erklärungsansatz für die Existenz des Lebewesens – also: Warum existiert und entwickelt sich Leben?
Bisher wird das (wenn überhaupt) teleonomisch erklärt – für das Leben, für die Ordnung, für die Informationsverarbeitung o.ä. Man liest also immer irgendeinen Zweck in das Lebewesen hinein. Über die Entropie als Naturgesetz könnte man Entstehung, Entwicklung und Auslese ganz ohne Ziel oder Zweck erklären – und für die jeweilige Situation sogar voraussagen…
@ Balanus @ Irena Pottel
@ Balanus
„Es gibt Zellen, in denen ist zwar alles Lebensnotwendige vorhanden, aber dennoch finden keine Lebensprozesse (mehr) statt. Zellen, die bloß (noch) die Fähigkeit zum (Weiter)leben haben.“
Genau das ist es ja, was reicht, um von einem Lebewesen zu sprechen: Solange die Fähigkeit zum (Weiter)leben vorhanden ist, ist es noch ein Lebewesen. Erst wenn sie irreversibel nicht mehr vorhanden ist, ist es tot, ist kein Lebewesen mehr da und eine Leiche entstanden.
„die Population ist doch nur ein gedankliches Konstrukt, die Frage nach dem Seinszustand ‚lebend oder leblos’ stellt sich nach meinem Empfinden hier gar nicht.“
Hmm …, mir scheint das komplizierter. Sie ist kein Individuum von der Art eines Organismus, kein „Wesen“, kein „sich selbst abgrenzendes System“, sondern wir grenzen sie ab nach unseren Erkenntnisinteressen (eine Freiheit, die wir beim Organismus nicht haben). Aber wenn wir sie abgegrenzt haben, ist sie ein „Ding“, als physisches Ding keines wegs enstanden durch unsere Konstruktion (sondern z. B. dadurch, daß Individuen sich vermehrt haben), wohl aber als unser Gegenstand. Sie entsteht als dieser Gegenstand auf die gleiche Weise wie alle natürlichen nicht-lebenden Dinge (oder Materieanhäufungen). Das gilt bei einer Biozönose oder einem Ökosystem genauso.
(“’Sterben’ im engeren Sinne kann nur das elementare lebende System, die Zelle. Wenn eine Zelle zu einem vielzelligen Organismus ausgewachsen ist, dann ist dieser Organismus erst dann vollends ‚gestorben’, wenn in der letzten Zelle die Lebensprozesse zum Erliegen gekommen sind.“
Das halte ich für falsch. Einen Menschen nennen wir tot, wenn er nicht mehr „zum Leben erweckt werden“ kann. Da können durchaus einzelne Zellen noch leben. Aber dann leben eben die Zellen, der mehrzellige Organismus ist tot. Der mehrzellige Organismus ist ein Lebewesen, also etwas, das sterben kann. Daß er aus Lebewesen besteht, die durch diese Zugehörigkeit ihre Selbständigkeit verloren haben – sie aber u. U. wiedererlagen können – ist eine andere Frage. Daß der mehrzellige Organismus als Organismus ein Lebewesen ist, daß er damit tot sein kann ganz unabhängig von der Frage, ob einzelne Zellen noch leben, sieht man auch daran, daß dann, wenn aus einer solchen Zelle wieder ein Mehrzeller wird, wir das nicht als das Weiterleben dieses gestorbenen Lebewesens bezeichnen würden. Die Identität des mehrzelligen Organismus liegt auf der Systemebene des Ganzen.
Hier gibt es allerlei nicht klar einzuordnende bzw. nur als Übergänge einzuordnende Phänomene. In der empirischen Wissenschaft ist, wie ich oben mal gesagt habe, der Begriff Lebewesen ein Typenbegriff, und man kann ihn nur künstlich, um ihn zu bestimmten Zwecken zu operationalisieren, zu einem Klassenbegriff machen, der eindeutige Zuordnungen erlaubt. Aber auf der begrifflichen Ebene bestehen eindeutige Unterschiede. Ein Lebewesen ist kategorial etwas anderes als eine Leiche, und eine Leiche ist kategorial etwas anderes als ein Ding, das nie gelebt hat und nie leben kann.
@ Irena Pottel “lebende Systeme”
Zustimmung. Was diese „Unterwerfung“ bedeutet, kann man im Prinzip von Leibniz erfahren (sein Begriff ist „Zentralmonade“).
@ Noït Atiga
„Schark … scheint ja auch philosophisch gar nicht so unumstritten zu sein“.
Natürlich nicht. Nichts, aber auch gar nichts ist in der Philosophie unumstritten, das liegt im Wesen der Philosophie. Ich bin mit Schark auch bei weitem nicht in allem einverstanden, ich bin kein Aristoteliker. Und das Buch von Schark richtet sich ja explizit gegen eine mächtige Strömung in der Philosophie, natürlich wehren sich die. Mit meinem Hinweis wollte ich nur sagen, daß Sie das, was Sie gesagt haben, nach der Lektüre mehr so sagen werden; wenn Sie den Kern verteidigen wollen, dann müssen Sie einen anderen Anlauf nehmen.
„Und wenn nun einmal ein großer Teil dessen, was nicht sterben kann, aus gestorbenen Lebewesen besteht – dann muss sich die Philosophie durchaus fragen lassen, ob diese Unterscheidung irgendwie zwingend oder nützlich ist.“
Das berührt diese Unterscheidung überhaupt nicht. Man hat das ja auch immer gewußt, es gab wahrscheinlich von den alten Griechen an keinen einzigen Philosophen, der nicht berücksichtigt hat, daß wir aus dem Staub bestehen, zu dem andere, früher lebende geworden sind. Ich verstehe überhaupt nicht, wie Sie auf den Gedanken kommen können, daß dadurch diese Unterscheidungen zum Problem werden. Es war doch nicht das Molekül, das von einem Lebewesen aufgenommen wird und früher mal in einem anderen Lebewesen war, früher ein Lebewesen.
lebende Systeme
Nach meinem Verständnis kann ein lebendes System nur auf das Lebewesen bezogen werden. Ein Einzeller ist ein Lebewesen. Ein Hund ist auch ein Lebewesen. Beide sind lebende Systeme. Eine Kolonie oder ein Rudel sind keine lebenden Systeme. In dem Sinne auch das Leben im Ganzen ist kein lebendes System. Wie logische Weise ein Rudel aus Hunden ergibt kein Hund.
Die Frage wäre, warum wir einen Hund, der aus lebenden Zellen besteht, als ein lebendes System bezeichnen und anderen Systemen diese Bezeichnung verweigern wollen. Für mich wäre ein Antwort in dem Grad der Unterwerfung (ich hasse in diesem Zusammenhang den Begriff Versklavung). Die Zelle eines komplexen Organismus ist in völliger Abhängigkeit von dem übergeordneten Ganzen. Sie kann den Organismus nicht verlassen und selbständiges Dasein führen.
Auch hier haben wir Ausnahmen in einfachem mehrzelligem Lebewesen wie z.B. Algen. Die Entwicklung eines Embryos durchläuft eine anfängliche Phase, wann seine undifferenzierten Zellen potentielle Selbständigkeit besitzen. Das Gefälle der Entwicklung läuft zu der Vermehrung und der Verminderung der Freiheit der nächsten Teilungs-Generationen, bis die Zellen, die der Gestaltung des Ganzen in Weg stehen, ganz eliminiert werden.
Wir sollten diese völlige Unterwerfung als das Hauptmerkmal zur Unterscheidung anerkennen. Wenn auch hier ein Unschärfeübergang gibt, das keine deutliche Grenze zeigen lässt. Es gibt eine graue Zone, die sowohl einen als anderen „bedient“.
@Noit Atiga
In Bezug auf Beziehungs- kontra W-W-Netz werden wir wohl auf unseren verhärteten Fronten verbleiben.
“Da vergessen Sie den 2. Hauptsatz der Thermodynamik: Innerhalb des Netzes sinkt die Entropie – aber im geschlossenen System muss sie wachsen.”
Danke für die Erinnerung, aber ein W-W-Netz ist kein geschlossenes Netz. Die Störungen der Umwelt (wie die Ausscheidungsprodukte, die Störung des e/m Feldes, die Erzeugung der Schallwellen) entstehen durch bloße Existenz der Lebewesen. Durch sie manifestiert sich die Offenheit des Netzes. Durch die Entwicklung des Netzes wird immer mehr von dieser verlorenen Information zurück in das Netz zurückkoppeln und für seine Existenz sorgen. Da er durch die WECHSEL- Wirkungen „lebt“. Was nur in einer Richtung geht und wird nicht rückgekoppelt, ist für das Netz irrelevant.
Es scheint, dass hier meine ursprüngliche Anmerkung, die auf die Offenheit des W-W-Netzes bezogen ist, stößt auf Ihre Vorstellung des Beziehungsnetzes als abgeschlossenen Netzes.
Lebendig sein
@Dietmar Hilsebein
»Alles, was Odem hat, gehört zu den Lebenden. Man kann durchaus weiter dieser Ansicht sein, da nicht klar ist, wie eine Zelle zum Leben erweckt werden könnte, selbst wenn alle Bestandteile vorhanden sind. «
Es gibt Zellen, in denen ist zwar alles Lebensnotwendige vorhanden, aber dennoch finden keine Lebensprozesse (mehr) statt. Zellen, die bloß (noch) die Fähigkeit zum (Weiter)leben haben. Sie unterscheiden sich praktisch in nichts von einem komplizierten kristallinen Gebilde, alle Atome und Moleküle bleiben auf ihrem Platz.
@Ludwig Trepl
»Eine Population besteht aus Lebewesen, aber sie lebt nicht und ist auch nicht belebt. Aber ist sie leblos? Hat jemand eine Idee? «
Ja, vielleicht… die Population ist doch nur ein gedankliches Konstrukt, die Frage nach dem Seinszustand „lebend“ oder leblos“ stellt sich nach meinem Empfinden hier gar nicht.
Die Elementareinheit des „Lebens“ ist nun mal die Zelle, da sind wir uns wohl alle einig. Nur in ihr können jene dynamischen Prozesse ablaufen, die aus einem unbelebten Gegenstand ein (in unseren Augen) „lebendes System“ (= Organismus) machen. Daran ändert sich auch nichts, wenn sich die Zelle zu einem vielzelligen Organismus ausdifferenziert oder sich zu einem zusammenhängenden Gebilde aus gleichartigen Einzelzellen formiert. Andere Organisationsformen aus lebenden Systemen fallen definitionsgemäß (und aus kategorialen Gründen) nicht unter den Begriff Zelle oder Organismus als lebende Grundeinheit.
Diese Lebensprozesse, die, wie gesagt, nur innerhalb einer Zelle stattfinden können, haben auf diesem Planeten vor rund 3,8 Milliarden Jahren begonnen und erhalten sich seither selbst. Alle heute lebenden Organismen sind die Endglieder oder Abkömmlinge der einstmals entstandenen, (hypothetischen) Ur-Lebensform, der „Keimzelle“ des irdischen Lebens. Wenn sie „sterben“, endet irreversibel ein Prozess, der seit fast vier Milliarden Jahre am Laufen ist.
„Sterben“ im engeren Sinne kann nur das elementare lebende System, die Zelle. Wenn eine Zelle zu einem vielzelligen Organismus ausgewachsen ist, dann ist dieser Organismus erst dann vollends „gestorben“, wenn in der letzten Zelle die Lebensprozesse zum Erliegen gekommen sind, das heißt, wenn sich deren funktionelle strukturelle Organisation auflöst.
»Wie unterscheidet man sprachlich etwas, das nicht sterben kann, weil es gar nicht lebt, von dem gestorbenen Lebewesen? Man sagt vielleicht „es ist ein totes Ding“, aber es ist klar, daß da etwas nicht stimmt. «
Da redet man wohl von einem toten Organismus. Das können wir solange tun, wie noch organismische Strukturen zu erkennen sind.
»Man sagt vielleicht „es ist ein totes Ding“, aber es ist klar, daß da etwas nicht stimmt. «
„Dinge“ oder „Gebilde“ (Entitäten) sind das ja ohnehin alles, ob wir sie nun als „lebendig“ oder „tot“ erkennen. „Leben“ ist ja keine Eigenschaft einer Entität, sondern eine spezielle Seinsweise.
@ Noït Atiga
Danke für den Link zum Aufsatz von Susanne Hiekel. Mal sehen, was eine gelernte Philosophin zu Marianne Scharks Buch zu sagen hat. Als Laie, der man ist, kann man sich ja kaum zu metaphysischen Fragen qualifiziert äußern…
@Ludwig Trepl
Die Frage war philosopisch gemeint – denn ich bezweifle durchaus die metaphysische Notwendigkeit dieser Unterscheidung. Und ich beweifle, dass die Lektüre von Schark daran soviel ändern wird (aber ich werde das testen). Sie scheint ja auch philosophisch gar nicht so unumstritten zu sein (siehe etwa Susanne Hiekel).
Mein Verweis auf die Naturwissenschaften war dann auch in dem Sinne gemeint, dass man in der Philosphie die Erkenntnisse der anderen Wissenschaften zur Kenntnis nehmen muss. Und wenn nun einmal ein großer Teil dessen, was nicht sterben kann, aus gestorbenen Lebewesen besteht – dann muss sich die Philosophie durchaus fragen lassen, ob diese Unterscheidung irgendwie zwingend oder nützlich ist. Ob sie nicht vielmehr tradiert ist aus einer alltagsgewöhnten Sicht.
Und dafür sprechen mir dann auch die von @Chrys angeführten Beispiele, welche die Prämissen von Schark wenn nicht zu erschüttern vermögen, so doch jedenfalls zu hinterfragen anregen. Wenn die Kategorie der Sortale nicht so absolut ist und nicht ohne Weiteres für die Einteilung reicht – dann ist sie vielleicht doch mehr sprachlich vorgebildet denn metaphysisch zwingend.
@Ludwig Trepl
Von einem Lebewesen redet man üblicherweise ja, wenn das so bezeichnete Phänomen oder Objekt die Merkmale von Vitalität und Individualität intuitiv erkennen lässt (wie immer diese Merkmale genauer zu spezifizieren wären, das will ich hier gar nicht erst versuchen). Anscheinend haben wir aber kein gutes Adjektiv zur Kennzeichnung dieses Sachverhalts. Ein Hund, ein Mensch, auch ein Bakterium unter dem Mikroskop — die sind uns alle recht unproblematisch in diesem Sinne als Lebewesen identifizierbar.
Bei einer Ameisenkolonie haben wir ein Problem, eine Individualität des grossen Ganzen wahrzunehmen, denn wir sehen bevorzugt immer nur individuelle Ameisen. Gleichwohl kann eine solche Kolonie als Einheit systematisch agieren auf eine Weise, die unserer Vorstellung sehr fremd ist.
Bei einer Staatsqualle ist es eher umgekehrt, da erkennen wir das grosse Ganze als ein Individuum, das in seiner Erscheinung an eine Meduse erinnert, obwohl es keine solche ist.
Und dann sind da noch zelluläre Schleimpilze, die ihren Lebenszyklus abschnittsweise sowohl als einzellige Organismen wie auch als vielzellige Aggregation absolvieren. Das passt nicht gut zu unserem gewohnten Konzept von Individuum.
Mutter Gaia hat sich offensichtlich mehr Varianten einfallen lassen, als wir in einfachen Worten ausdrücken können — rein metaphorisch gesprochen.
@ Hilsebein @Noït Atiga
@ Dietmar Hilsebein
„erkenntnistheoretisch gelangen wir in eine Tautologie. “Der Geist/Odem ist’s, der lebendig macht und lebendig ist, wer Odem hat. Fragen wir nun, wo der Odem seinen Anfang nahm, so gelangen wir, wenn wir religiös sind, zu Gott.“
Könnte es sein, daß dieses „zu Gott gelangen“ einfach eine andere Formulierung ist für einen kategorilen Unterschied, hinter den wir nicht zurück können? Wir unterscheiden z. B. abstrakte und konkrete Gegenstände, wir unsterscheiden Dinge und Ereignisse, wir unterscheiden Mögliches, Wirkliche und Notwendiges, Allgemeines, Besonderes, Individuelles. Warum? Wir wissen es nicht. Wir können es nicht erklären, nur explizieren, was gemeint ist. Keine Erklärung ist möglich, weil die Erklärung immer schon voraussetzt, was erklärt werden soll (was szientifische Naturalisten nie begreifen). Die traditionelle Formulierung für dieses Unhintergehbare ist halt: Gott hat es so eingerichtet. Dann hat man eine „Erklärung“ für das prinzipiell Unerklärliche.
@Noït Atiga
„’Wie unterscheidet man sprachlich etwas, das nicht sterben kann, weil es gar nicht lebt, von dem gestorbenen Lebewesen?’(
Muss man das denn unterscheiden? Oder anders gefragt: Gibt es dort überhaupt einen relevanten Unterschied?“
Ich müßte jetzt ein paar Seiten vollschreiben; vielleicht schreibe ich auch mal einen extra Blogartikel. Vorläufig: Ich rate Ihnen dringend, das Buch von Marianne Schark zu lesen. Sie würden dann garantiert nicht mehr diese Frage stellen. Sie versuchen eine metaphysische Frage naturwissenschaftlich zu beantworten, und das ist einfach nicht möglich.
@Ludwig Trepl, all: Lebendigkeit
Muss man das denn unterscheiden? Oder anders gefragt: Gibt es dort überhaupt einen relevanten Unterschied? Sind nicht vielmehr die leblos gewordenen Lebewesen immer Ursprung des toten Dings?
Erdgeschichtlich passte das doch, denn viele Gesteine sind ja aus organischem Material entstanden. Und selbst das anorganische – ist das nicht gewissermaßen aus ‘Leben’ hervorgegangen, wenn wir damit einmal nur selbsterhaltende Kreisläufe bezeichnen?
Könnte es sein, dass da nur eine graduelle Steigerung exisitert: leblos – belebt – interagierend (= beliebig aufeinander beziehend) – lebendig (= zwingend aufeinander beziehend)?
Und geht es dann nicht vielleicht bei der Abgrenzung immer nur um den Grad von Ordnung, der dynamisch aufrechterhalten wird? Bei leblos erhält sich nichts dynamisch (obwohl das auf atomarer Ebene nicht mehr unbedingt stimmt) – bei belebt erhalten sich Teile selbst dynamisch und unabhängig – bei interagierend erhalten sich Teile selbst dynamisch großteils durch allerdings frei wählbare Beziehungen aufeinander – bei lebendig erhält sich das Ganze dynamisch durch die zwingende Beziehung aller Teile aufeinander?
@Irena Pottel: Beziehungsnetz
Und genau dort liegt aus meiner Sicht die Beschränkung, die das Wechselwirkungsnetz zu abstrakt macht. Am Menschen illustriert kann zunächst überhaupt keine Äußerung folgen – und trotzdem ist das Netz nicht mehr dasselbe. Denn die ‘Deutung’ dieses einen Menschen hat seine Dispositionen verändert, er kann und wird auf zukünftige Äußerungen anders reagieren können. Uns ist das auch recht klar, denn sonst wäre Lesen ziemlich unnütz. In einem Beziehungsnetz wird diese innere Verarbeitung(skapazität) mitgedacht und damit das Modell umfassender, denn es beobachtet nicht nur die (unmittelbaren) Wirkungen, sondern auch die (sich wandelnden) Dispositionen.
In der Systemtheorie werden diese Deutungen ausgeschlossen – insofern ist das Wechselwirkungsnetz deren konsequente Fortführung. Nur bleiben damit beide auf einer Beschreibungsebene hängen, die jedenfalls überwiegend empirisch ausgerichtet ist und pauschalierend. Das fällt schon bei physikalischen Wechselwirkungen auf, wenn auch weniger bei der Gravitation. Anschaulicher sind da etwa die elektromagnetischen Wirkungen – die brauchen einen Empfänger, der elektromagnetisch disponiert ist. Und die Physik untersucht insofern zutreffend, welche Dispositionen denn erforderlich sind, damit ein entsprechendes Feld wirken kann. Beziehung kann das recht leicht beschreiben, weil es die in der Äußerung liegende Disposition aus der Perspektive der inneren Disposition potentieller Empfänger auffasst.
Und das Netz lebt eben nicht nur von den Äußerungen, sondern auch von den Entwicklungen seiner ‘Knoten’, also deren Dispoitionen. Wir wissen das für neuronale Netze. Dort müssen sich die Äußerungen erstmal gar nicht so stark wandeln – aber die Reaktionsart der ‘Knoten’ verschiebt sich mit jeder empfangenen Äußerung. Das Netz als Ganzes ändert sich also schon durch den reinen Empfang – es nach jedem Eingang potentiell anders auf Zukünftiges reagieren.
Das ist wieder eine aus meiner Sicht unpraktische Trennung, die auf zu klassischem Denken in Soft- und Hardware basiert. Es gibt für Systeme oder Netze keinen externen Speicher – vielmehr ist jedes Speichern eine Änderung des Beziehungsnetzes und jedes Abrufen ebenfalls. Jeder Speicher ist dann ein ‘Knoten’ in dem Netz – ein passiver, der sich selbst zwar in Beziehung zu vorexistierenden ‘Knoten’ gesetzt hat, aber mit seinem Erscheinen unveränderlich wird. Nunmehr können sich nur noch andere ‘Knoten’ zu ihm in Beziehung setzen und damit das Netz verändern, auch durch reines Konsumieren. Zu diesem ‘Knoten’ besteht nunmehr eine reine Einbahnstraße.
Da vergessen Sie den 2. Hauptsatz der Thermodynamik: Innerhalb des Netzes sinkt die Entropie – aber im geschlossenen System muss sie wachsen. Umso mehr Ordnung also ein Netz konstruiert, umso mehr erhöht es die Entropie des übergeordneten geschlossenen Systems. Und das war meine Hypothese – dass quasi jene Dispositionen funktional werden, die im gegebenen Umfeld am effizientesten die Entropie erhöhen.
Da gehen Sie vermutlich von einem anderen Beziehungsbegriff aus. Beziehungen brauchen etwas Vorexistentes – aber das gilt für Wechselwirkungen auch; in beiden Fällen müssen die Teile schon existieren. Aber in beiden Fällen können sich die aufeinander wirkenden Teile wandeln – oder die sich aufeinander beziehenden. Beides hängt von den vorgegebenen Dispositionen ab – und beides verändert diese mit der Zeit.
Nachtrag
Wenn wir nun nach der Lebendigkeit fragen, so können wir nicht sagen: “alles, was Odem hat”, denn diese mögen vielleicht den Herrgott preisen, aber erkenntnistheoretisch gelangen wir in eine Tautologie. “Der Geist/Odem ist’s, der lebendig macht und lebendig ist, wer Odem hat. Fragen wir nun, wo der Odem seinen Anfang nahm, so gelangen wir, wenn wir religiös sind, zu Gott. Und wenn wir bei Gott sind, sind wir beim dogmatischem Abbruch. Scheiße!
@ Trepl
“Wie unterscheidet man sprachlich etwas, das nicht sterben kann, weil es gar nicht lebt, von dem gestorbenen Lebewesen? Man sagt vielleicht „es ist ein totes Ding“, aber es ist klar, daß da etwas nicht stimmt.”
Schwierig. Da gab es mal eine Unterscheidung -ist lange her. Alles, was Odem hat, gehört zu den Lebenden. Man kann durchaus weiter dieser Ansicht sein, da nicht klar ist, wie eine Zelle zum Leben erweckt werden könnte, selbst wenn alle Bestandteile vorhanden sind. Wer also stirbt, gibt seinen Geist auf. Daher wäre es falsch zu sagen, die Glühbirne hätte ihren Geist aufgegeben, da die Glühbirne jenen Odem nie besaß, um ihn aufgeben zu können.
@ Chrys
„Stimmt, meine Wortwahl mit ‚belebt’ und ‚unbelebt’ war schlecht. Ein Kollektiv von Lebewesen ist jedenfalls auch dann irgendwie belebt“.
Stimmt. Könnte man vielleicht von „leblos“ sprechen? Das Kollektiv von Lebewesen oder eine alltagssprachliche Einheit, die so ein Kollektiv enthät (Wald, See) lebt sicher sicher nicht, ist vielleicht leblos, aber doch belebt. Oder täuscht mich da mein Sprachgefühl? Andererseits: Eine Population besteht aus Lebewesen, aber sie lebt nicht und ist auch nicht belebt. Aber ist sie leblos? Hat jemand eine Idee?
Es gibt noch ein Problem: Ein Lebewesen kann sterben und ist dann tot, eine Leiche. Die ist leblos. (Unbelebt ist sie nicht, denn da wimmelt es von Mikroorganismen.) Wie unterscheidet man sprachlich etwas, das nicht sterben kann, weil es gar nicht lebt, von dem gestorbenen Lebewesen? Man sagt vielleicht „es ist ein totes Ding“, aber es ist klar, daß da etwas nicht stimmt.
@Irena Pottel
»Das Problem ist m. E. tiefer als es nur von Unschärfe kommen würde. Problem sehe ich, was wir unter belebt oder unbelebt verstehen.«
Stimmt, meine Wortwahl mit “belebt” und “unbelebt” war schlecht. Ein Kollektiv von Lebewesen ist jedenfalls auch dann irgendwie belebt, wenn dieses Kollektiv selbst nicht als ein Lebewesen angesehen wird.
Ein Beispiel, wo der Übergang zwischen einem Lebewesen und einer Kolonie von Lebewesen besonders diffus ist, wäre eine Staatsqualle.
@ Irena Pottel letzter Kommentar
„einen Unterschied zwischen Klasse und Typ kenne ich nicht“
Man kann den Unterschied leicht sehen an der Praxis der sytematischen Biologie, wenn „morphologische Arten“ (Morphospezies) gebildet werden: Wenn diese Arten „Klassen“ sind, werden Merkmale durch Definition festgelegt. Wenn die Art- und die Gattungsmerkmale vorhanden sind, gehört das jeweilige Lebewesen der Art an, sind die Artmerkmale nicht vorhanden, gehört es nicht der Art an. Alle der Art angehörigen einzelnen Lebewesen gehören der Art gleichermaßen an, es ist nicht eines „mehr“ Artmitglied als ein anderes – so wie wenn der Besitz eines Personalausweises einen Menschen als Angehörigen eines bestimmten Staates definiert: keiner ist „mehr“ Staatsangehöriger als ein anderer.
Wenn die Spezies ein „Typ“ ist, dann sind die einzelnen Mitglieder nicht eindeutig durch das Vorkommen definierter Merkmale als dieser Art zugehörig definiert, sondern aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit einem Exemplar dieser Art, das irgendwo (z. B., wenn es eine Pflanze ist, in Kew Gardens) aufbewahrt ist und als „der Typ“ bezeichnet wird. Die einzelnen Angehörigen der so definierten Spezies können dem „Typ“ mehr oder weniger ähnlich sein, und es kann dann auch Übergangsphänomene geben, bei denen man nicht sagen kann, ob sie der Art „noch“ angehören oder „bereits“ einer anderen. Das ist bei Arten als Klassen nicht möglich, da gibt es nur entweder – oder.
Es ist so wie im Alltagsleben: da gibt es z. B. den Typ des Professors (des Engländers, des Franzosen, des Boulevardjournalisten, des Politikers). Er ist arrogant, zerstreut, spricht in geschwollenen Sätzen usw. Die wirklichen Professoren sind diesem Typ nur mehr oder weniger nahe, keiner muß ihm ganz entsprechen. Wenn einer ganz anders ist, nicht wie ein typischer Professor, sondern z. B. wie ein typischer Politiker oder Manager, obwohl er dadurch, daß er eine Urkunde besitzt, der Klasse der Professoren angehört, dann sagt man: Na, ein richtiger Professor ist das aber nicht.
– Wenn Sie ein Atom als ein sich selbst erhaltendes System bezeichnen, dann bedeutet das etwas ganz anderes, als wenn man von der Selbsterhaltung eines Lebewesens spricht. Das ist aber kein naturwissenschaftliches Problem, sondern ein philosophisches. Naturwissenschaftlich ist dieses Problem nicht zu lösen, nicht einmal zu begreifen.
@Ludwig Trepl, Not Atiga, Chris
»Er [der Begriff des Lebewesens] ist aber kein Klassenbegriff, sondern ein Typenbegriff. Das bedeutet, daß es einen Kern gibt, darum aber einen mehr oder weniger breiten Rand, bei dem man nicht sagen kann, ob es noch erlaubt ist, von einer Zurechenbarkeit zu dem Typ zu sprechen oder nicht.«
Ich sehe durchaus den Unschärfeübergang zwischen den Kategorien (einen Unterschied zwischen Klasse und Typ kenne ich nicht, wenn es welches gibt, wichtig ist eben die Klassen mit Klassen vergleichen und nicht Klasse mit Typ). Die Unschärfeübergang betrifft sowohl das Lebewesen wie auch andere Ebenen der Wechselwirkungen. Es betrifft auch die unbelebte Natur. Ein Atom ist ein sich selbsterhaltendes Quantensystem, das in Dekohärenz-Zustand sich befindet. Also ein Gegenstand der klassischen Materie, die nach klassischen Regeln sich verhält. Dennoch gibt es bestimmte Umweltbedingungen, bei denen sogar komplexes Molekül geht in kohärenten Zustand über. Er agiert nach Außen (nicht nur nach Innen!) nach quantenmechanischen Regeln, zeigt seine Wellennatur.
Ein Ausweg m. E. bietet die Betrachtung des Netzes in seiner Entwicklung. Man kann als ein Beginn des Lebens ein Zeitpunkt der Entstehung einer Zelle, die den Beginn des Lebens bedeutete, nehmen. In dem Sinne ähnelt es durchaus dem von Ihnen erwähnten modularen Organismus (dessen Begriff finde ich genauso fraglich, wie das Leben – das Lebewesen), wenn wir vorstellen, dass ein Teil kann absterben, wenn andere sich weiter fortpflanzt. In dieser Vorstellung kann ein Merkmal des Lebens lokal verloren gehen. Im Ganzen aber schreitet er sich weiter. In diesem Konzept wird nicht einfach ein zeitlicher Schnitt – ein bestehende Zustand analysiert. Es wird ein raumzeitliche Einheit analysiert.
@Chrys
“ Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dann, dass die Übergänge zwischen den als “belebt” oder “unbelebt” bezeichneten Erscheinungsformen der Natur ausgesprochen diffus sind.“
Das Problem ist m. E. tiefer als es nur von Unschärfe kommen würde. Problem sehe ich, was wir unter belebt oder unbelebt verstehen. Wenn ein mehrzelliges Lebewesen neben einem Einzeller als ein Lebewesen gilt, wollen wir es auch auf andere Einheiten des Lebens und des Lebens im Ganzen übertragen? Ist ein Staat, von einem Art Lebewesen – dem Mensch – begründet, auch ein Lebewesen? Ist ein Wirtschaftsmarkt ein Lebewesen?
Wenn man mit der evolutiven Entwicklung der unbelebten Materie sich befasst, stellt man fest, dass der Stoffwechsel, die Selbsterhaltung schon auf dieser Ebene vorhanden sind. Folgend sehe ich keinen logischen Grund auch sie nicht als Lebewesen zu betrachten. Was ist denn das Besonderes, was ein Lebewesen ausmacht, auf was wir zeigen können und sagen, hier ist das Lebewesen, hier ein selbstorganisierendes System anderer Art?
@Noit Atiga
“Wechselwirkungsnetze sind heute wohl in – mir gefällt der Begriff Wechselwirkung nicht, da er zu abstrakt ist.”
…zu Abstrakt… Genau das ist das Ziel. Verschieden Materieformen in ihrer Entwicklung aus dieser Perspektive zu beobachten. Ein Objekt von anderen Merkmalen (wie etwa Farbe als ein Merkmal eines Gegenstands) abstrahieren und durch dieses Merkmal eine Beziehung zu anderen Systemen herstellen. So etwa die Farbe Rot verbindet die verschiedenste Gegenstände, die sonst nichts Gemeinsames haben. Wobei hier die Beziehung eine andere Bedeutung hat, als Sie es deuten.
“Er bleibt zu stark am Beobachtbaren kleben – an den Wirkungen.“
Das Problem, dass das Beobachtbare ist zweierlei Arten. Einerseits sind es die Gegenstände, anderseits ist es die Systeme, die für die unsere Wahrnehmung diffus sind (wie etwa Biozönosen, sozialen Gruppen, Gesellschaften etc.). Wenn ich beides als W-W-Netz betrachte, dann habe ich eine Basis für die Vergleichsanalyse. Hier wird der Einfluss von Sinnen auf unsere gedankliche Welt geschmälert, da die sinnliche Wahrnehmung, die evolutiv unsere Überleben gesichert hat, steht hier als Hindernis zum Nachvollziehen der Zusammenhänge, die für das Überleben nicht präsentativ sind bzw. waren, für unsere Weltbild dennoch von immenser Bedeutung sind.
“Und Beziehung kann dann normale Straße sein, Einbahnstraße, Ring etc.“
Dass diese Ansicht wird vermieden, halte ich für Vorteil. Da in meinem Modell ist es eine Kultur, die äußerst wichtige Kategorie in Selbstorganisation, die keinesfalls auf zivilisatorische Einheiten eingegrenzt werden darf (bzw. wurde von zivilisatorischen Gegebenheiten geliehen um ähnliche Beziehungen in anderen evolutiven Netzen aufzuzeigen). Die Kultur ist der Speicher der aktivenTeilnehmer, in dem sie ihre Bedeutungswelt realisieren. Es kann ein Buch sein, aber auch eine gebaute bzw. vielfach gefahrene Straße sein. In dem Sinne kann auch eine Beziehung darstellen.
“Dort gibt es eine gewisse subjektive Konnotation, die darauf hindeutet, dass die Bedeutung der Elemente füreinander nicht vom Wirkenden bestimmt wird (wie es in Wirkung steckt) – sondern vom Bewirkten als Reaktion auf den Wirkenden.“
Ich kann jetzt nicht richtig nachvollziehen, was Sie damit meinen. Ist es nicht schon von mir geäußerte Rückkopplung der eigenen Wirkung? Oder meinen Sie in etwa so, dass eine Anziehung des massenhaften Objektes steckt nicht selbst in ihm sondern in dem Angezogenen, der die Masse unwiderstehlich findet ;-)? Die Idee ist schon richtig. Im Sinne eine Wirkung muss gedeutet werden. Aus diesem Sinne ist mir nicht nachvollziehbar, wenn derzeit alles auf eine Information (als Bedeutungsspeicher) reduziert und den essentiellen Teilnehmer – den, der diese Information deutet vergisst. Dennoch mit dem Erkenntnis, dass eine Deutung „in Schwarzem Loch“ passiert, leidet das W-W-Netz-Modell nicht. Es ist eben so, dass die Deutungen, als subjektives Verfahren, können und müssen wir ausschließen. Für das Netz und seine weitere Entwicklung ist wichtig die folgende Äußerung dessen, der eine Deutung vollzogen hat. Seine Reaktion, die das Netz verändert.
Man kann z.B. sehr gute Ideen haben. Wenn er sie nicht äußert, wenn er damit nicht anderen bewirkt, bleibt es eben seine private Sache, die KEINE Auswirkung auf seine Umwelt hat und ist damit für die Entwicklung des Netzes irrelevant. Aber auch wenn er sich äußert, muss es nicht zwangsläufig in Netz integriert werden. Wenn ich in Wald laut schreie, dann die Möglichkeit Integration dieser Äußerung in unseren W-W-Netz ist äußerst gering. Oder wenn eine Idee auf Unverständnis stößt, weil sie aus irgendeinem Grund nicht gedeutet werden kann (ist nicht konsistent oder ist der Zeit voraus), dann geht diese Information als Entropie des W-W-Netzes verloren. Wobei hier, anders als bei Nicht-Äußerung, wird die Außeinandersetzung den Anderen doch zur einen Änderung des Netzes beitragen. Z.B. Verärgerung über wahnsinnige Äußerungen des Eines können auf andere Arten der Äußerungen, die mit der Idee nichts gemeinsam haben, auswirken. Man erfüllt zwar nicht den gewünschten Effekt (wie hier: die Idee akzeptiert zu werden lassen), dennoch auf vielfach andere Weise bringt man das Netz in Schwung. Davon „lebt“ das Netz.
“Die ‘Äußerungen’ sind dann wie Sie schrieben wichtig – nur entscheiden eben nicht die ‘äußernden Knoten’ über deren Bedeutung, also ob das Geäußerte nun Information ist oder Entropie. Vielmehr bieten die Äußernden lediglich an, was andere verarbeiten können oder nicht. Letztlich sind Äußerungen dann Dispositionen – ob und wie sie sich realisieren (was also ätiologische Funktion bekommt), das beurteilt sich nach den Dispositionen des potentiellen Empfängers.“
Wir müssen unterscheiden, ob die Äußerung „eines Knotens“ sich durch ihre essentiellen Eigenschaften wie seine Offenheit entsteht oder es gezielte Kommunikation ist. Ein Lebewesen durch seine bloße Existenz stört das e/m Feld. Es ist die Umweltstörung, die vorerst als Entropie verloren geht. Nach und nach lernt „der Knoten“ kennen, dass ein Zusammenhang zwischen einer Störung und der Beute bzw. dem Jäger gibt. Wir es in Einzelnem verläuft betrifft die Ebene der Knoten, der ebenfalls ein W-W-Netz darstellt. Auf unsere beobachtbare Ebene sehen wir dann, dass immer weniger die Information, die durch bloße Störung der Umwelt entsteht, geht verloren. Sie wird von den Knoten gedeutet und entspreche Reaktion hervorrufen.
In dieser Hinsicht bedeutet die Entwicklung eines W-W-Netzes nicht zuwachsende Entropie, wie Sie annehmen (in einem Beitrag hier). Im Gegenteil, die Entropie sinkt. Es ist aber auch nicht im Sinne, wie es Ludwig Trepl in Bezug auf Gaia-Hypothese Theoretiker erwähnt hat. Ich leite die Minderung der Entropie nicht aus bloßem Wachstum der Komplexität ab. Man kann zwar einen gewissen Zusammenhang sehen, weil entstehende noch davor nichtgewesene Deutung eben mit dem Wachstum der Komplexität des Deutenden geht (z.B. Lebewesen entwickelt Sinne, das neuronales Netz). Dennoch begründet ist es auf andere Weise, die vom obigen mechanistischen Ansatz sich grundlegend unterscheidet.
Auch mit der Henne-Ei-Problem verhält es anders als Sie denken. In einem Beziehungsnetz sind Beziehungen ausgerichtet auf schon gegebenen Etwas. Ein W-W-Netz kann es in seiner Wandlung umfassen. Die Beziehungen entstehen und runtergehen, die Wechselwirkungen sind immer da. Die Beziehungen entstehen anhang der Wechselwirkungen, da die da sind, wenn noch keine Beziehungen gibt. Sie sind eine Voraussetzung für die Entstehung der Beziehungen.
@Ludwig Trepl
Den Anfang sehe ich anders, denn ich bin vom Ende nicht überzeugt – aus zwei Gründen.
Zunächst ist mir auch Denken eine Erfahrung – und zwar bis hin zu seinen Grundlagen. Alle Reflexion über (eigenes) Denken ist also empirisch. Und damit gilt auch für sie, dass wir niemals sichere Erkenntnis haben können. Wir können also auch die Grundlagen unseres Denkens immer nur in den aktuellen Formen unseres Denkens erkennen.
Weiterhin bin ich überzeugt, dass sich das Denken inclusive seiner Grundlagen ebenso entwickelt wie alles Andere – als verwirklichende Kombination historisch gegebener Dispositionen. Und das sowohl auf den Einzelnen als auch auf DEN Menschen bezogen. In beiden Fällen erscheint es nicht plötzlich in vollem Umfange so als ob ein Schalter umgelegt würde, sondern es erwächst kontinuierlich aus dem reinen denklosen Sein (und das gilt auch für die Grundlagen des Denkens). Und bei dieser Entwicklung ist die Disposition der Umwelt entscheidend – denn unser Denken kann sich (jedenfalls zunächst und teilweise) nur als ‘Reaktion’ auf diese Umwelt entwickeln. Insofern bestimmt die Palette der in einer Umwelt möglichen Erfahrungen auch nicht nur das Wissen über die Welt, sondern das Denken selbst. Kants Begründung der Kausalität, die Sie letztens anführten, ist mir ein Beispiel dafür – denn heutigen Computer- oder Fernseh-Kids ist diese Begründung nicht mehr (so) zwingend.
Darum auch kann ich mir sehr gut vorstellen (ja bin sogar davon überzeugt), dass es gleichzeitig extrem wahrscheinliches (also nahezu sicheres) Wissen bei gleichzeitig radikaler Begrenztheit des Wissens überhaupt gibt. Und so war meine Aussage oben auch gedacht: Das Wissen über die Welt ist in Ihrem Modell solches 2. oder allenfalls 3. Ordnung – und dieses ist relativ, in der Abbildung ist die Funktion dort offen, führt also ins Unendliche. Doch anders als Sie bin ich überzeugt, dass auch das Wissen 4. Ordnung – also Wissen über die Grundlagen des Denkens – niemals absolut sein kann (und zwar nicht nur wegen ev. Irrtümer, sondern ob der angeführten prinzipiellen Überlegungen).
Hier gibt es eben aus meiner Perspektive noch ein Weiteres: Möglichkeiten, die auf Erfahrung beruhen. Es gibt Denken (oder Grundlagen des Denkens), das sich nur durch gewisse Erfahrung entwickeln kann – und das damit weder dem durch Erfahrung widerlegbaren wissen angehört noch der Diskussion um die Bedeutung der Erfahrung für die Erkenntnis. Und bei diesen Möglichkeiten geht es nicht um Gedanken, die vorher nicht in der Diskussion gewesen sind – sondern um Denkgrundlagen, die vorher nicht realisierbar waren; also um Dispositionen, die vorher (oder anderswo) nicht funktional werden konnten – und darum dem funktionierenden Denken (dort) unerkennbar bleiben mussten.
Geht man aber davon aus, dass Denkarten bzw. -grundlagen (jedenfalls auch) auf Erfahrung beruhen – dann gibt es kein falsches Denken und dann gibt es kein gegen Kant (Idealismus, Rationalismus etc.). Sondern dann gibt es nur ein mit allen Philosophie- und Denkrichtungen. Dann müssen sie sich alle als Sonderform einer generellen Philosphie erklären lassen. Und genau darum geht es mir, um die Konstruktion einer solchen Philosphie.
Mir ist also jede Philosophie richtig – und jede unvollständig; auch die meinige muss zwingend unvollkommen sein.
Aber dann wird der Genesis-Geltungs-Fehlschluss auch angreifbar – wie jede Geltung überhaupt. Das hatte ich schonmal in einer anderen Diskussion hier an- und ausgeführt. Jede Geltung kann sich nur aus ihrer Entstehung ableiten – und darum schließt man immer von Genesis auf Geltung, wenn man Geltung diskutiert. Daher ist mir auch jede Geltungsdiskussion sinnlos – soweit sie nicht im Rahmen einer bestimmten Genisis geführt wird…
@ Noït Atiga
„Ihrer These von der Relativität des Relativismus kann ich dann auch weitgehend zustimmen. Mein einziger Einwurf wäre wohl, dass die Kurve unten für den Beobachter 1. Ordnung die Achse berührt, sich ihr aber oben beim Beobachter 4. Ordnung nur wie eine konvergierende Funktion mit der Zeit annähert (also der Relativismus nie ganz verschwindet).“
Man muß, um „mit der Zeit annähert (also der Relativismus nie ganz verschwindet)“ meinen zu können, meinen, daß wir die Welt, wie sie an sich ist, erkennen können. Als Kantianer bin ich da anderer Meinung: Von der Erkenntnis der Welt, wie sie an sich ist, sind wir immer unendlich weit entfernt. Und um diesen unaufhebbaren Relativismus – was wir erkennen, ist immer relativ zu den Formen, in denen wir erkennen – können wir wissen, denn das Wissen um Formen des Erkennens der Welt kann sicher sein, es steht anders als das empirische Wissen nicht unter dem Vorbehalt, daß die nächste Erfahrung die bisherigen Erfahrungen aufhebt. Allerdings kann es auch falsch sein, die Formen müssen ja erst gefunden werden und dabei sind Irrtümer möglich. Sicher ist aber, daß uns die Welt nur unter den Bedingungen zugänglich ist, die diese Formen setzen. Man kann dagegen allenfalls argumentieren, daß es sinnlos ist, einen solchen Begriff von Wahrheit, der quasi als Grenzbegriff die Welt, wie sie an sich ist, einführt, überhaupt in Anschlag zu bringen.
Also: der Relativismus wird nicht allmählich weggearbeitet, sondern ist unaufhebbar, und das wissen wir, weil wir auf anderer Ebene etwas sicher wissen. – Ein neuerer Kantianer, ich weiß nicht mehr, war es J. Ebbinghaus oder K. Alphéus, hat einmal auf die Frage, warum es denn so wenig Kantianer gebe, geantwortet: weil es so schwer ist zu denken, daß wir sicheres Wissen haben können und zugleich gewiß zu sein, daß unser mögliches Wissen radikal begrenzt ist.
„Auch haben wir heute ganz andere Möglichkeiten der Erfahrung als noch zu Zeiten Kants – insofern hat er für seine Zeit viel erreicht, nur scheint mir manches heute nicht mehr so unbedingt zu gelten.“
Es geht in der Diskussion nicht um ein Wissen, das an der Erfahrung scheitern könnte, sondern um die Bedeutung der Erfahrung für die Erkenntnis. Da kann man sich nicht auf Erfahrung berufen, denn um die Relevanz der Erfahrung geht es ja gerade. Sie hätten nicht sagen dürfen „wir haben heute ganz andere Möglichkeiten der Erfahrung“, sondern sagen müssen: Die Diskussion um die Frage der Bedeutung der Erfahrung für die Erkenntnis ist heute weiter als vor 200 Jahren. Da hätten Sie natürlich recht: Auch wenn es immer noch wie vor 2000 Jahren Aristoteliker gibt, so kann doch keiner von denen einfach Aristoteles wiederholen, sondern muß auf 2000 Jahre Kritik eingehen, und das tun die heutigen Aristoteliker ja auch. – Im Übrigen wirkt Ihr Einwand etwas schwächlich, denn die Position, die Sie vertreten, ist ja noch älter als die von Kant. Je nachdem, ob man sie mit den klassischen Empiristen oder mit den Nominalisten beginnen läßt, stammt sie aus der frühen Neuzeit/Frühaufklärungszeit oder aus dem Hochmittelalter. Aber auch dieser Position gegenüber kann man nicht argumentieren: Wir haben heute ganz andere Möglichkeiten der Erfahrung, sondern nur: Es sind Gedanken in die Diskussion gekommen, die die damals nicht kannten (z. B. die Kant’schen). Sie werden vielleicht sagen: Aber diese Gedanken verdanken sich doch auch Erfahrungen, nämlich denen mit der entwickelten bürgerlichen Gesellschaft, ohne die wäre Kant nicht möglich gewesen. Dem stimme ich zu, aber wenn Sie daraus ein Argument gegen Kant (oder den Idealismus, oder den Rationalismus, oder …) machen wollen, dann machen Sie einen Genesis-Geltungs-Fehlschluß.
@Irena Pottel
Wechselwirkungsnetze sind heute wohl in – mir gefällt der Begriff Wechselwirkung nicht, da er zu abstrakt ist. Er bleibt zu stark am Beobachtbaren kleben – an den Wirkungen. Im Netz oder Muster der Beziehungen wird noch weit mehr mitgedacht (was sich aber schlecht übersetzen lässt, gerade ins Englische). Dort gibt es eine gewisse subjektive Konnotation, die darauf hindeutet, dass die Bedeutung der Elemente füreinander nicht vom Wirkenden bestimmt wird (wie es in Wirkung steckt) – sondern vom Bewirkten als Reaktion auf den Wirkenden. Und Beziehung kann dann normale Straße sein, Einbahnstraße, Ring etc.
Die ‘Äußerungen’ sind dann wie Sie schrieben wichtig – nur entscheiden eben nicht die ‘äußernden Knoten’ über deren Bedeutung, also ob das Geäußerte nun Information ist oder Entropie. Vielmehr bieten die Äußernden lediglich an, was andere verarbeiten können oder nicht. Letztlich sind Äußerungen dann Dispositionen – ob und wie sie sich realisieren (was also ätiologische Funktion bekommt), das beurteilt sich nach den Dispositionen des potentiellen Empfängers.
Das Henne-Ei-Problem (in welcher Sprache ist es denn Henne und Huhn?) wird mir auch von keiner der beiden Sichten besser oder schlechter gelöst – sprich ob nun Wechselwirkungsnetz oder Beziehungsnetz ist insofern egal, denn sowohl die Wechselwirkungen ändern sich als auch die Beziehungen.
@Ludwig Trepl
Nun geistiger Schüler auf dem Gebiete der Ökologie bin ich sicher, wurde doch meine wissenschaftliche Beschäftigung damit überwiegend von Ihrem Blog angestoßen. Und eine gewisse Parallelität in den metaphysischen Einstellungen würde erklären, warum die hiesigen Diskussionen für mich so interessant und fruchtbar sind.
Ihrer These von der Relativität des Relativismus kann ich dann auch weitgehend zustimmen. Mein einziger Einwurf wäre wohl, dass die Kurve unten für den Beobachter 1. Ordnung die Achse berührt, sich ihr aber oben beim Beobachter 4. Ordnung nur wie eine konvergierende Funktion mit der Zeit annähert (also der Relativismus nie ganz verschwindet). Mir scheint das insofern bedeutsam, als sich ja auch unser Denken evolutionsgeschichtlich aus dem unserer Vorfahren entwickelt hat und wohl noch entwickelt, dass also immer neu Perspektiven hinzukommen können (müssen). Auch haben wir heute ganz andere Möglichkeiten der Erfahrung als noch zu Zeiten Kants – insofern hat er für seine Zeit viel erreicht, nur scheint mir manches heute nicht mehr so unbedingt zu gelten. Und dann wird auch unter diesem Aspekt spannend, wie sich das auf Politik und Gesellschaft auswirkt.
Da @Chrys die Frage nicht beantwortet hat, darf ich vielleicht ein paar Überlegungen dazu anstellen. Das lässt sich wohl soziologisch erklären ;-).
Die Autopoiesistheorie ermöglicht die Konstruktion eines Selbstbewusstseins ohne auf ein Apriori zurückgreifen zu müssen und ohne auf die (Gefühle der) Teile. Man konnte also absolut Richtiges finden ohne sich selbst angreifbar zu machen. Damit musste sie gerade in Deutschland auf fruchtbaren Boden fallen (besonders in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts). Entspechend wurde sie auch im Ausland nicht überall gleichermaßen intensiv rezipiert.
Darüber hinaus scheint ein gewisser kultureller Aspekt mitgespielt zu haben – schaut man nämlich auf Parsons, dann schließt der mit seiner Handlung noch recht stark an der Einzelperson an. Während Luhmann weiter abstrahiert und damit beliebiger und offener wird – aber damit das Individuum letztlich ganz ausblendet (was sicher auch mit seiner Vorbildung als Jurist zusammenhängt). Interessant auch, dass Bourdieu in Frankreich etwa zur gleichen Zeit den umgekehrten Weg geht und mehr am Individuum anknüpft (wie oft auch heutige Franzosen).
@Trepl
Ja, sorry, der Webbaer hat sich halt arttypisch zu verhalten und bleibt ein wenig grumpig.
Sie haben ja mit der Biologie und der Ökologie etwas Handfestes; bei all der Schöngeistigkeit würde der Webbaer ansonsten vielleicht noch ein wenig mehr rumpeln.
MFG
Dr. W
@ Webbaer
“Das eigentlich erschreckende ist die Länge der hiesigen Debatte …”
Na ja, nicht die Debatte ist lang, sondern die einzelnen Kommentare.
Genau so soll es aber sein: Es soll diskutiert werden, man soll sich nicht Bekenntnisse an den Kopf werfen. Diskutieren, genau darzulegen, was man meint, erfordert leider manchmal Platz. Es gibt hier auch andere Blogs, die haben mehr journalistischen als wissenschaftlichen Charakter, da muß man nicht so viele Worte machen, wenn es einem schwerfällt.
@Chrys
Man kann die Erde als Lebewesen betrachten oder auch nicht. Das eigentlich erschreckende ist die Länge der hiesigen Debatte, der Schreiber dieser Zeilen arbeitet nicht ohne Grund gerne auch mit dem Begriff der Kommentatorik.
Aus einer bestimmten fachlichen Sicht Fachvokabular zitierend wird Herr Trepl natürlich recht haben.
Aber damit hätte es sich schon.
Es ist eine Frage der Sicht und der sprachlichen Arbeit [1]:
-> http://apod.nasa.gov/apod/ap120312.html
MFG
Dr. W
[1] die sich hier denn auch in feinsten Unterscheidungen altsprachlicher Art (‘typ’ vs. ‘classis’ etc.) zu manifestieren suchte
@all
Es wird zunehmend schwierig, der Diskussion zu folgen, doch ein Aspekt, den Herr Trepl genannt hat (25.02.2013, 16:53), scheint mir dabei von ganz zentraler Bedeutung und verdient Beachtung:
»Er [der Begriff des Lebewesens] ist aber kein Klassenbegriff, sondern ein Typenbegriff. Das bedeutet, daß es einen Kern gibt, darum aber einen mehr oder weniger breiten Rand, bei dem man nicht sagen kann, ob es noch erlaubt ist, von einer Zurechenbarkeit zu dem Typ zu sprechen oder nicht.«
Der Begriff ist unproblematisch, wenn es nur gilt, den Unterschied zwischen einem Hund und einem Kieselstein zu kennzeichnen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dann, dass die Übergänge zwischen den als “belebt” oder “unbelebt” bezeichneten Erscheinungsformen der Natur ausgesprochen diffus sind. Es können also durchaus unterschiedliche, jedoch gleichermassen plausible Auffassungen darüber vertreten werden, was in einem konkreten Fall noch als ein Lebewesen anzusehen ist, diese Frage ist nicht generell befriedigend entscheidbar.
Das ist ähnlich wie mit dem Sorites, wo wir auch an die Grenze der Sprache anrennen, wenn wir grundsätzlich entscheiden wollen, ob eine gegebene Ansammlung von Sandkörnern einen “Sandhaufen” darstellt oder nicht.
@Noit Atiga
Nur zu einem einzigen Punkt (ich schaffe es nicht mehr, all die Kommentare meinerseits zu kommentieren):
„Aber wenn Sie nun allein diese andere Perspektive einnähmen, dann würde ich Ihnen Ihre jetzige entsprechend entgegenhalten (oder eine weitere).“
Das( hat schon eine gewisse Ironie: Wenn jemand, der die einschlägige (deutsche) Diskussion um unser Thema (ökologische Superorganismen) ein wenig kennt, Ihren Satz läse, würde er wahrscheinlich sagen: Aha, Schüler von Trepl. Genau das dürfte bei denen, die diese Diskussion ein wenig kennen (also die allermeisten derer, die überhaupt von ihr gehört haben), hängengeblieben sein von meiner Position: Es gibt in dieser Frage nicht wahr oder falsch, sondern je nach Paradigma (oder Weltanschauung, dem das Paradigma zugehört) eine andere „Wahrheit“, und die Paradigmen sind inkommensurabel, können einander nicht widerlegen, und darum gibt es seit vielen Jahrzehnten einen Dauerstreit, eine empirische Entscheidung ist nicht in Sicht.
Nun bestreite ich, könnte man meinen, Ihnen gegenüber meine eigene Auffassung. Aber es ist nur bei oberflächlicher Kenntnis meine Auffassung. Sozusagen nach unten wie auch nach oben hört der Relativismus auf. Ich will das anhand der Luhmann’schen Beobachter-Metaphorik erläutern.
Der Beobachter 1. Ordnung sieht, was er sieht und glaubt, die Welt sei so, wie er sie sieht. Der Beobachter 2. Ordnung sieht, daß es außer ihm noch andere Beobachter gibt, von denen jeder die Welt anders sieht; er bemerkt, daß seine eigene Perspektive wie die eines jeden anderen nicht privilegiert ist und glaubt darum, daß die Perspektiven alle gleichberechtigt sind, daß es folglich keine Erkenntnis gibt, sondern nur vermeintliche Erkenntnis.
Der typische unreflektierte Naturwissenschaftler ist Beobachter 1. Ordnung. Er glaubt, die Welt sei so, wie sie ihm von seiner Wissenschaft gezeigt wird. Reflektiert er ein wenig, wird er zum Beobachter 2. Ordnung. D. h., er wird zum radikalen Relativisten. Was die Naturwissenschaft herausbekommt, erweist sich vielleicht als nützlich, aber es ist, so meint er nun, nicht wahrer oder weniger wahr als das, was irgendeine andere Perspektive ergibt, und vor allem sind in Zukunft unendlich viele andere Perspektiven möglich.
Nun gibt es aber noch den Beobachter 3. Ordnung. Der sieht auf die vielen Beobachter mit je verschiedener Perspektive und versucht, Muster oder Gesetze zu erkennen, nach denen die Beobachter beobachten und sich voneinander unterscheiden. Dabei erkennt er vielleicht, daß die einen doch besser beobachten als die anderen; manche haben vielleicht eine verzerrende Brille auf, anderen ist die Sicht verstellt. Und er sieht den Zusammenhang der Perspektiven mit dem Leben der Beobachter. Er sieht z. B. , daß die jeweils eingenommene Perspektive „lebensdienlich“ ist, also etwa als Ideologie Rechtfertigungen liefern soll für interessenbedingtes Handeln, damit von vornherein mit Unwahrheit belastet ist. Auf diese Weise kommt der Beobachter 3. Ordnung darauf, daß doch nicht alle Perspektiven gleich gültig sind.
Nun gibt es noch einen Beobachter 4. Ordnung, den Luhmann als Empirist (er reflektiert ja nicht als Denkender aufs Denken über die empirische Welt, sondern er geht von der Existenz bestimmter empirischer Gegenstände, der autopoiestischen Systeme, aus) nicht kennen kann: Es könnte ja sein, daß alle, ja alle möglichen Beobachter letztlich von einem Kern gleicher nicht-empirischer Voraussetzungen ausgehen müssen, ob man das nun sprachphilosophisch-kommunikationstheoretisch sieht wie Habermas oder transzendentalphilosophisch wie Kant (oder, anders, Husserl).
Jedenfalls: Der radikale Relativismus hebt sich auf den höheren Stufen des „Beobachtens“ wieder auf.
In unserem Fall (Superorganismus) kann man z. B. fragen (und wir – also die Leute, die die Sache wie ich sehen, manche reden übertrieben von „Schule“ – haben das auch immer so gemacht), auf welchen Ebenen, unter welchen Voraussetzungen ein ökologischer Holismus-Organizismus, d. h. eine Superorganismus-Theorie von Teilen der Natur oder von der Welt im Ganzen möglich ist. Dann wird man vielleicht dahin kommen, daß unter den Voraussetzungen des alten Rationalismus (insbesondere der Existenz Gottes) eine Superorganismustheorie des Kosmos möglich ist (Leibniz), daß sie aber unter den Voraussetzungen der modernen Naturwissenschaft unmöglich ist. D. h., daß jemand, der beansprucht, in den Bahnen moderner Naturwissenschaft zu denken, solche Theorien nicht vertreten kann (das war im wesentlichen das, was ich im obigen Artikel behauptet habe), daß er das aber durchaus kann, wenn er in ein anderes, älteres Paradigma wechselt; wobei er aber dann sagen müßte, wie das heute überhaupt gehen kann und ob er den Preis dafür zahlen möchte.
Man kann in unserem Fall (Superorganismen) auch fragen, wie die jeweiligen Naturbilder mit politischen Weltanschauungen verbunden sind. Dann stellen sich ganz andere Fragen. Will man die politischen Konsequenzen ziehen, die diesen Naturbildern implizit sind? Muß man sie überhaupt ziehen, d. h. gibt es Auswege, kann man z. B. ein typisch konservatives-organizistisches Naturbild haben und dennoch auf der politischen Ebene beispielsweise liberal sein (falls man das will)? Das heißt: die Frage nach der Wahrheit stellt sich nun auch in einem anderen, umfassenderen (dem alten, emphatischen Wahrheitsbegriff, der das Wahre, Gute und Schöne nicht trennt, gemäßen) Sinne: Moralische Wahrheit wird relevant, obwohl man den Bereich von Theorien über die Natur gar nicht verläßt. Hier stellt sich die Frage des Relativismus auf ganz andere Art, weil es bei der Frage nach dem unbedingten Sollen nicht um die Wahrheit von Gedanken über die empirische Welt geht.
@Ludwig Trepl, Not Atiga, Chris
Nach genauen Lesen, sehe ich ein Mißverständnis:
„Bei einem Organismus aber sehen Sie es unausweichlich als Aufgabe an, dessen wirkliche Perspektive zu finden“
Ich meinte nicht die Blickperspektive, als ich zur Biozönose würde und die Umwelt betrachtete. Es war falscher Ausdruck meinerseits. Wenn Sie Biozönosenentwicklung in ihrer Ganzheit wie in beshleunigten Film beobachten würden, ihre Zeitraum übernehmen würden, dann würden Sie feststellen, dass sie wiederholt das Muster der Evolution des Lebens. Es ist ein Fraktal (dem Ganzen ähnliche Einheit), das mit der Entwicklung des Lebens entsteht.
Aber auch ein Lebewesen ist ein Fraktal des Lebens, nur schon selbst aus vielen Fraktalen bestehend.
Noit Atiga: „Wenn es ähnliche Beziehungsmuster innerhalb eines Schwarmes wie innerhalb einer Amöbie gibt – dann sollten für uns doch die Beziehungsmuster entscheidend sein.“
Jein. Die Beziehung beinhaltet etwas subjektives. In einem Wechselwirkungsnetz sind die Äußerungen eines „Knotens“, durch die er die Umwelt stört (daher die Offenheit eines „Knotensystems“ ist essentiell für die Evolution), wichtig und zwar die Äußerungen, die von anderen wahrgenommen bzw. gedeutet werden. Die Äußerungen, die nicht in das Netz integriert wurden, gehen als Entropie verloren. Sicher werden wir ein Beziehungsnetz feststellen können, wenn wir sehen, dass eine bestimmte Äußerung verursacht bestimmte Reaktion. Dennoch können sie hier die Ganzheit in ihrer Selbstorganisation nicht erfassen. Die Beziehungen ändern sich, die Frage nach Henne und Huhn bleibt unverantwortet.
Das W-W-Netz dagegen erlaubt uns es.
Übrigens dieser Vorstellung macht auch manche Ereignisse auf Quantenebene anschaulicher. Auch da geht es nur um die Wechselwirkungen. Ein klassischer Objekt ist nichts anders als „ein Schaum“, erzeugt durch die Wechselwirkungen der Teilchen. Nicht die Teilchen selbst bilden die klassische Materie – ihre Wechselwirkungen.
@Noit Atiga
da meine Auseinandersetzung mit Ihnen zu weit von Thema des Artikels führen würde, möchte ich ihm vorschlagen, wenn Sie eine Interesse an Diskussion haben, mir schreiben: Vorname.Name@t-online.de
@Ludwig Trepl
Paradigmatische Gründe… Ja, es trifft zu. Ich habe mir wohl zu viel Gedanken gemacht und von der gegenwärtigen Paradigma zu weit entfernt.
Sie sprechen von gedanklichen Konstrukten in Bezug auf die Biozönose. Nur täuschen Sie sich nicht: das was sie mit Sinnen wahrnehmen, sind auch gedankliche Konstrukten. Wie uns diese Konstrukten täuschen, ist von Psychologen nachgewiesen. Der Konstrukt, den ich mit meinem Denken in Sprachmedium baue, ist nur ein Konstrukt s. z. höherer Ordnung. So viele Konstrukten, wie Sie denken, wird man nicht bauen. Es wird durch Diskussionen und Kontroversen für einen – der Realität am nächsten – Konstrukt einigen müssen. Daran liegt auch Unterschied von der sinnlichen Wahrnehmung eines Individuums. Weil da ein Konsens auf richtige Wahrnehmung von dem neuronalen Netz getroffen wird (dies wird auch durch alltägliche Erfahrung immer bestätigt. Die richtige Idee herauskristallisiert sich in einem Kommunikationsnetz.
Wenn man den „Denkstil“ verändert, wenn man die Gegenstände als W-W-Netz betrachtet, dann stellt man fest, dass alle Formen der Materie etwas Gemeinsames haben, dass alle das gleiches Entwicklungsmuster haben. Im Grunde nichts Neues. Man kann es auch in Algorithmen der Komplexitätstheorie fassen. Dennoch mir geht es nicht um eine mathematische Beschreibung. Ich möchte es anders verständlich machen, diese Gemeinsamkeiten „visualisieren“, in der Sprache, nicht Formeln fassen. Wie äußert sich konkret die Fraktale, die Fluktuation, die Attraktors? Welche Rückschlüsse kann man davon ziehen?!
Eine Kategorisierung hier ist von essentieller Bedeutung, weil man wissen muss, was mit was vergleicht. Daher ist mir schwer nachvollziehen, wenn sie Ihren Sichtweise untermauern mit einem Vergleich, das nach mir nicht zulässig ist.
Jedenfalls ich bedanke mich herzlich, dass Sie Zeit genommen haben. Es war mir interessant. Ich hoffe, Sie haben auch ein Paar Gedankenanstöße bekommen.
@ Chrys
Sprachphilosophisch ist „Autopoiesis“ bezogen auf das, was man da mit „autopoiestisches System“ meint, zweifellos eine Metapher, und zwar, wie man da oft sagt, eine anthropomorphe. Nur von uns selbst kennen wir ja dieses Selbst. Das erschafft sich hier selbst. (Vielleicht sollte man darum lieber von theomorpher Metapher sprechen? )
Bedenklich daran ist nicht, daß man solche Metaphern in der Biologie anwendet – so unvermeidlich die Tendenz zur Eliminierung intentionaler Begriffe in ihr wie in allen Naturwissenschaften wohl ist, so unvermeidlich sind solche Begriffe letztlich für den Gegenstandsbereich der Biologie; sie sind nämlich hier konstitutiv für den zentralen Gegenstand, den Organismus. Bedenklich scheint mir vielmehr, daß man den metaphorischen Charakter solcher Begriffe (bzw. nicht sprach-, sondern transzendentalphilosophisch: den regulativen Charakter der entsprechenden Ideen) bezogen auf den Gegenstand, wenn dieser den Kriterien der Naturwissenschaft genügen soll, leugnet: Man erweitert einfach den Bereich, für den die jeweilige Rede als wörtliche gelten soll. So wie man etwa von „Botenstoffen“ spricht und damit so tut, als ob da tatsächlich Botschaften – die ja von einem verständigen Sender zu einem verständigen Empfänger gehen müßten – übermittelt würden, so spricht man mit dem Begriff der autopoietischen Systeme von den Lebewesen, als ob sie wirklich Subjekte wären, die Zwecke verfolgten, Codes entschlüsselten usw.; was die Lebewesen ja sein könnten, aber nicht aus der Perspektive der Naturwissenschaft sein können.
Das scheint mir der Grund zu sein, wieso Leute wie Stuart Kauffman und überhaupt die Biologen diesen Begriff kaum zur Kenntnis nehmen: Da wird etwas in die Naturwissenschaft geschmuggelt, was in ihr allenfalls heuristisch (ich meine, es ist mehr als nur heuristisch, aber das merken nun wieder diese Leute nicht) benutzt werden kann, aber eben nicht im Sinne objektiver Erkenntnis; ein „Selbst“ läßt sich nicht als eine Eigenschaft des Objekts erkennen, es ist nicht vor der Art seines Gewichts oder seine Härte.
Umgekehrt lehnen die Philosophen solche Theorien eher ab, weil sie bemerken, daß hier etwas Unmögliches versucht wird: Subjektivität auf das einer objektwissenschaftlichen Theorie faßliche Format schrumpfen zu lassen und gerade so zu erfassen, was es damit “in Wirklichkeit” auf sich hat. Eine gewaltige Karriere hat die Autopoiesistheorie dagegen in der Soziologie gemacht. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum?
@Ludwig Trepl, @Irena Pottel, @Chrys
Aber vielleicht müssten wir auch bei der Biozönose nach der wirklichen Perspektive suchen?
Mir sind die Ausführungen von @Chrys dafür ein gutes Argument: Wenn es ähnliche Beziehungsmuster innerhalb eines Schwarmes wie innerhalb einer Amöbie gibt – dann sollten für uns doch die Beziehungsmuster entscheidend sein. Also deren Bedeutung für den Verbund, sei es nun der Zellen, der Mehrzeller oder der Organismen. Dann stimme ich aber auch @Crys’ Bedenken zu, dass die uns gewohnte räumliche Abgrenzung nur eine unter vielen Beziehungen ist. Und dann wird doch möglicherweise die Abgrenzung von Lebewesen (fast) ebenso willkürlich wie die von Biozönosen.
Ist diese Definition dann nicht schon zu stark von unserer alltäglichen Sicht geprägt? Müssten wir dann nicht eigentlich definieren: Man kann es nicht teilen, ohne daß es aufhört, dasselbe Lebewesen zu sein.
Damit würden wir die Identität explizit in die Definition aufnehmen und sie damit von unser alltäglichen Vorstellung trennen. Und ist das nicht treffender, denn man kann ja Zellen von jedem Mehrzeller trennen und in Kulturen weiterleben lassen. Und auch Lebewesen im klassischen Sinne können außerhalb ihrer natürlichen Kultur (=Umgebung) weiterleben, obwohl sie sich dann an die neue Kultur anpassen, also ändern.
Dann wäre aber alle Lebewesen teilbar, wären unteilbar nur insofern als die Beziehungsstruktur trotz Trennung oder Zusammenführung zu gewissem Grade identisch bliebe – und diese Grade könnte und müsste man dann definieren, könnte den Typus auf bestimmte Werte eichen. Aber das wären sicher nicht 100% – und damit ähnlich beliebig wie für Unbelebtes. Sprich: vielleicht beruht die bisherige Konstruktion der Einheit einfach auf einer bestimmten unbewussten Eichung, die wir erkunden müssten – um die für alle Lebewesen typische zu finden?
@ Irena Pottel letzter Kommentar
„die Perspektive einer Biozönose einzunehmen… bedeutet, sich nicht als ein Beobachter, der über ein Landschaft geht und rumschaut, verhalten. Es bedeutet, gedanklich es als eine Einheit umfassen …“
Ich habe es schon an @ Noït Atiga geschrieben: Dann können Sie nur die Perspektive Ihrer Idee einer Biozönose einnehmen, und sie können sich beliebig viele Ideen davon machen. Bei einem Organismus aber sehen Sie es unausweichlich als Aufgabe an, dessen wirkliche Perspektive zu finden; und wenn die Perspektive eines Organismus für Sie nur eine regulative Idee ist (wie es auch für mich ist), so ist es doch eine notwendige regulative Idee.
„Die Biozönose verträgt auch nur bis gewissen Masse eine Abschneidung.“
Ja, manches ist nicht erlaubt. Was das ist, hängt von der (fast nach Belieben möglichen) Definition dieser jeweiligen Biozönose ab. Ich kann nicht, wenn ich einmal die Top-Prädatoren als zur Biozönose gehörig definiert habe, eine Gebietsgröße wählen, die für die diese zu klein ist, da haben Sie recht. Es steht mir aber frei, sie in die Definition aufzunehmen oder nicht (nehme ich sie nicht auf, sind sie aber trotzdem potentiell auf der Fläche vorhanden, gelten sie als äußerer Faktor). Und die Zahl der Möglichkeiten der Teilung ist unermeßlich groß: Ich kann die Biozönose einer Fläche von 1 ha als eine nehmen oder sie in 10 oder 10.000 oder 1000.000 Teile teilen (die Untergrenze ist durch die von den kleinsten Lebewesen benötigte Fläche gegeben), ich kann die Hälfte der Fläche als die eine, die andere als 100 andere Biozönosen definieren, ich kann dieses Spiel mit jeder der 100 wieder machen, ich kann nicht die Hälfte, sondern nur 49% oder 48% oder 47% der Fläche als die eine große Biozönose definieren usw.
„Sie neigen [dazu] als Lebewesen nur höheres Tier in Betracht ziehen bzw. nur mit ihm vergleichen. Das Lebewesen ist aber auch ein Einzeller, eine Flechte, ein Baum, ein Wurm etc.“
Das ist ein wichtiger Punkt. Sie – und die meisten anderen Komentatoren hier – neigen dazu, den Begriff des Lebewesens (und des Organismus) als einen Klassenbegriff zu nehmen. Das bedeutet, daß durch definierende Merkmale eindeutig festliegt, was zu dieser Klasse gehört und was nicht. Er ist aber kein Klassenbegriff, sondern ein Typenbegriff. Das bedeutet, daß es einen Kern gibt, darum aber einen mehr oder weniger breiten Rand, bei dem man nicht sagen kann, ob es noch erlaubt ist, von einer Zurechenbarkeit zu dem Typ zu sprechen oder nicht.
Ein Lebewesen ist z. B. typischerweise ein In-dividuum im strengen Sinn: Man kann es nicht teilen, ohne daß es aufhört, ein Lebewesen zu sein. Viele Lebewesen kann man aber teilen, ohne daß sie dadurch sterben: die ausgeprägt modularen. (Allerdings sind dann die einzelnen Module oft unteilbare Sub-Lebewesen, ebenso die Zellen.) Oder: Auch wenn insbesondere die Grenze Leben-Tod eine überaus scharfe Grenze, eine Entweder-Oder-Grenze ist, gibt es doch zeitlich gesehen einen Bereich, in dem man nicht sagen kann, ob es sich noch um ein Lebewesen handelt oder nicht mehr um ein Lebewesen, sondern eine Leiche. Und auch wenn etwas entweder ein individueller Organismus ist oder aber nicht, gibt es zeitlich gesehen doch im Zuge der Teilung (von Einzellern und Mehrzellern) einen Übergangsbereich, mag er noch so kurz sein, in dem man nicht sagen kann, ob es sich noch um einen individuellen Organismus handelt oder um zwei. Das berührt aber alles nicht den Organismusbegriff, sondern nur Entscheidbarkeit der empirischen Frage, ob in diesem oder jenem Fall ein Organismus vorliegt.
Im Übrigen: Flechten sind keine Lebewesen, sondern mutualistische Lebensgemeinschaften, und zwar im allgemeinen nicht einmal besonders enge, vergleichen mit anderen Mutalistensystemen, bei denen man viel eher von einem Übergang zu einem Lebewesen sprechen kann; insbesondere betrifft das viele intrazelluläre Symbiosen.
@ Irena Pottel
Liebe Irena Pottel,
ich habe nicht alles verstanden; dies weniger aus Gründen der Sprache, sondern weil mir der theoretische Kern Ihrer Gedanken wohl fremd ist (also aus „paradigmatischen“ Gründen) und ich darum immerzu falsche Spuren verfolge. Nur zu einigen Punkten möchte ich etwas sagen:
„Wenn schon, dann müssten Sie die Erde im Ganzen vergleichen. Oder das Leben im Ganzen.“
Da machen Sie einen Kategorienfehler. „Erde im Ganzen“ ist ein Individualbegriff, er bezeichnet ein ganz bestimmtes, einmaliges, einzelnes System, ein „Ding“. „Das Leben“ aber ist ein Allgemeinbegriff. Er bezeichnet eine Klasse von Objekten, die durch unbestimmt viele Objekte „gefüllt“ werden kann. Eine Klasse ist kein raumzeitlicher Gegenstand. Darum ist auch dieser Satz falsch: „Richtig wäre, den Wald bzw. eine Biozönose als ein Organ des Lebens sehen.“ Denn eine Klasse kann keine Organe haben. Die Klasse der Häuser oder der Diamanten oder der Sandkörner kann logisch keine Organe habe. Auch die Klasse der Hunde kann keine Organe haben, das kann nur der einzelne Hund.
Aber auch nicht nicht alle „Dinge“ (als numerische Individuen) haben Organe, wohl aber haben alle „Dinge“ Teile (anders als Klassen, die haben Elemente oder auch „Mitglieder“; ich habe das in dem 2. Band des oben zitierten Lehrbuchs „Allgemeine Ökologie“, im Kapitel “Zum Artbegriff“, sehr ausführlich behandelt.) Teile, die Organe sind, haben nur Organismen (und vielleicht auch andere selbstreferentielle Systeme im Sinne der Autopoiesistheorie), nicht z. B. die Erde oder ein Stein.
„Ich würde vermeiden, über die Identität, Individualität und ähnl. sprechen, wenn wir über entwickelnde und sich erhaltende Systeme reden. Da bin ich eher auf naturwissenschaftlichen Pfad.“
Ich stimme Ihnen insofern zu, als es Identität in dem Sinne, wie ich darüber gesprochen habe, naturwissenschaftlich nicht gibt. Und wenn wir streng naturwissenschaftlich über „Systeme“ sprechen, dann wird es dafür wohl auch kein Äquivanent geben (das wäre wohl kritisch gegen die Autopoiesistheorie einzuwenden). Trotzdem kommt die Naturwissenschaft nicht um diesen Begriff von herum; er ist notwendig, um zu verstehen, was „Lebewesen“ bedeutet; „Lebewesen“ ist aber kein Begriff, den die Naturwissenschaften definieren könnten, vielmehr wird er diesen vorgegeben aus der „Lebenswelt“ und konstituiert sozusagen von außen den Gegenstandsbereich der Biologie. – Da Sie sich so intensiv mit diesen Fragen beschäftigen, möchte ich Ihnen raten, vielleicht meinen Blogartikel „Lebewesen gibt es, weil wir unseren Tod fürchten“ zu lesen, und unbedingt möchte ich Ihnen raten, das darin zitierte, im neoaristotelischen Geist geschriebene Buch von Marianne Schark zu lesen.
„Ich habe [bezüglich Fortpflanzung] über essentielle Eigenschaft des Lebens, nicht des Lebewesens in Einzelnem gesprochen. Sicher pflanzt sich eine Arbeitsbiene nicht fort. Die Biene ist zuerst ein integrativer Teil des übergeordneten Ganzen …“
Fortpflanzung ist aber auch keine essentielle Eigenschaft des Lebens, denn es ist Leben ohne Fortpflanzung denkbar (und kommt auch vor). Doch nicht die Arbeitsbiene ist ein Beispiel dafür, denn da handelt es sich nur darum, daß die Teile des Bienenvolkes im Verhältnis zu diesem als Ganzem Organe sind: Der Insektenstaat ist ein Superorganismus, so wie ein Mehrzeller ein Superorganismus aus Einzelorganismen (den Zellen) ist, mit allem, was dazugehört, z. B. dem von Ihnen angesprochenen Sich-Opfern der Einzelnen – einem Phänomen, das es bei Systemen von der Art von Biozönosen, selbst solchen, die ausschließlich aus mutualistischen Beziehungen bestehen, und auch der Biosphäre nicht gibt. Im Grunde ist der „eusoziale“ Insektenstaat eine Population, und zwar eine solche, deren Einzelorganismen, anders als bei einem Mehrzeller (der auch eine Population ist) nicht räumlich beisammen geblieben sind, sondern sich wie bei einer Kolonie (mit gemeinsamer Abstammung aller Einzelnen) nach der Teilung getrennt haben. Aber anders als bei einer Kolonie (nämlich so, wie bei einem Mehrzeller) sind sie eine funktionale Einheit geblieben, nur daß die Funktionen kein räumliches „Aneinanderkleben“ erfordern.
Das Paradigma von Leben ohne Fortpflanzung sind nicht Arbeitsbienen, sondern bestimmte modulare Organismen: Sie wachsen an einem Ende immer weiter, während sie am anderen absterben. So geschieht die notwendige Erneuerung ohne Fortpflanzung, denn es lebt (theoretisch) immer der selbe individuelle Organismus, er muß sich nicht teilen usw. Sicher, es pflanzen sich bei einem modularen Organismus die einzelnen Zellen fort, nicht aber der Organismus als ganzer. Und denkbar wäre so eine Art der Erneuerung auch bei einem Einzeller.
„Außerdem der Satz ‚Lebewesen sterben können müssen’ kann nicht stimmen. Der Einzeller ist ein Lebewesen und er stirbt nicht.“
Das haben Sie falsch verstanden: Sie müssen sterben können. Der notwendige Tod tritt erst bei Mehrzellern auf, und auch da nicht bei allen. Aber alle Lebewesen, auch Einzeller (deren individuelles Dasein ja nicht durch Tod, sondern durch Teilung endet), können sterben, z. B. dadurch, daß sie von einem anderen Lebewesen gefressen werden. Allein auf das Können kommt es beim Sterben an.
„Ähnlich ist es mit einer Kolonie der prokaryotischen Einzeller. Die von Ihnen nicht als eine Einheit wahrgenommene Kolonie beginnt bei Nahrungsknappheit sich als Ganze verhalten.“
Von diesem Moment an ist sie keine echte Kolonie mehr. Was man gemeinhin Kolonie nennt, umfaßt sowohl echte Kolonien, also solche, die keine funktionalen Einheiten sind, und solche, die sich im Übergang zum „Superorganismus“ befinden, d. h. zu einem Mehrzeller (auch das habe ich in dem o.g. Buch ausführlich beschrieben).
„Der Schwarm verhält sich als Ganzheit“.
Das ist genau das eben angesprochene Phänomen: funktionale Beziehungen zwischen den Teilen entstehen, funktional im Hinblick auf die übergeordnete Einheit. Das ist an sich unproblematisch, denn wie bei der Kolonie haben die Einzelnen das gleiche Genom und damit die „Anweisung“ für ihr funktionales Verhalten fürs Ganze bereits in sich. Interessant wird es erst, wenn es dieses bei allen Einzelnen gleiche Genom aufgrund nicht-gemeinsamer Abstammung nicht gibt, d. h. wenn nicht-verwandte Organismen den Schwarm (oder die Kolonie) bilden. Das habe ich mir noch nicht überlegt, aber es stimmt wohl, daß auch auf diese Weise (Sie beschreiben sie ja), also durch Zusammenschluß zuvor Unabhängiger, nicht durch Differenzierung einer ursprünglichen Einheit, funktionale Einheiten (Ganzheiten) entstehen können. Das sind vor allem die Mutualisten-Gesellschaften. Aber – ich habe das oben im Artikel kurz angesprochen – (Super-)Organismen sind das noch lange nicht; da muß erst das hinzukommen, was man in der Endosymbiosetheorie (Margulis u.a.) herausgefunden hat: auf der Genom-Ebene muß eine neue Einheit entstehen.
„Z.B. Tod in Bezug auf das Ende eines Sterns ist keine Metapher. Er aufhört als Stern zu existieren und zwar gesetzmäßig, wie gesetzmäßig ein Tier sterben wird.“
Das ist falsch, das ist eine Metapher. „Aufhören zu existieren“ ist im Falle eines unbelebten Dinges, ob das nun ein Stern ist oder ein Stein oder ein Staubkorn, etwas kategorial anderes als im Falle eines Lebewesens, und nur bei diesem kann man von „sterben“ sprechen:
(1) ist es im Falle des unbelebten Dinges eine Sache beliebiger Definition, ob ich es als noch oder nicht mehr existierend betrachten will. Ich kann sagen: Wenn vom Stein ein kleines Stück abgetrennt wird, ist es nicht mehr dieser Stein, sondern es sind zwei andere Steine; ich kann ebenso sagen: Es ist noch derselbe Stein, doch mit etwas anderen Eigenschaften. Das ist bei einem Lebewesen nicht möglich. Es ist so lange dasselbe Lebewesen, wie es lebt, auch wenn noch so viele Teile fehlen.
(2) Das unbelebte Ding bleibt mit sich identisch, solange sich an ihm nichts ändert (vollkommen kann es damit in der Realität nie mit sich identisch bleiben, weil sich immer etwas ändert, doch können die Änderungen innerhalb der Grenzen einer vorher erstellten Definition bleiben, so daß man deshalb sagen kann: nach dieser Definition ist es noch dasselbe). Es könnte nur als völlig geschlossenes System (ohne jede Wechselwirkung materieller und energetischer Art mit der Umgebung) streng identisch bleiben. Ein Lebewesen demgegenüber kann nur ein Lebewesen bleiben (also „leben“, und als Lebewesen mit sich identisch sein), wenn es Stoffe mit seiner Umgebung austauscht, wenn es also materiell nicht mit sich identisch bleibt. Wenn diese Prozesse irreversibel aufhören, ist der Tod eingetreten. Und nur in solchen Fällen sprechen wir von Tod,
„Die Zelle in unserem Organismus erhält kein Befehl aus einer übergeordneten Instanz – dem Ganzen. Sie verhält sich so, weil es eine gegebene Wirkung gibt, auf die sie entsprechend (nach ihre erzogene „Programm“ bzw. genetische Spezialisierung in Ganzem) reagiert. Die Funktionalität des Ganzen ist hier gegeben aus den Interaktionen der Teile.“
In dem sich entwickelnden Organismus ist es im allgemeinen so, daß eine Zelle aufgrund von Nachbarschaftswirkungen von einer relativ unspezialisierten, totipotenten Zelle zu einer immer mehr spezialisierten Zelle wird (und sich so der ganze Organismus differenziert). Dabei spielen durchaus „Befehle aus einer übergeordneten Instanz“ eine Rolle, etwa in Form von Botenstoffen, aber das ist nicht das Entscheidende. Entscheidend ist vielmehr: Die Nachbarschaft ist gemäß den „Anlagen“ beschaffen, die auf der Ebene des Ganzen (d. h. zunächst der Ursprungszelle) angesiedelt sind, natürlich modifiziert durch zufällige, äußere Umweltbedingungen. Die „Befehle“ für die Zelle bzw. die Teile kommen also aus einer Umgebung („innere Umwelt“ des Organismus), welche sich den Anlagen des Ganzen, mehr oder weniger „normal“ realisiert, verdankt. In diesem Sinne kommen die “Befehle” von dem Organismus als Ganzem. Was Sie als den nicht-genetischen Anteil („erzogen“ schreiben Sie) dieser „inneren Umwelt“ betonen, sind jene „äußeren“ Umweltbedingungen, die dafür sorgen, daß die genetischen Anlagen in (in gewissen Grenzen) unterschiedlicher Weise realisiert werden. Ob es eine Zentrale („Gehirn“) gibt oder nicht gibt, ist nur von sekundärer Bedeutung. Eine Amöbe und andere niedere Lebewesen haben keine solche Zentrale, und doch sind sie funktionale Ganzheiten und in diesem (sozusagen nicht-räumlichen) Sinne „zentralisiert“, nämlich als Einheit sich verhaltend.
@Ludwig Trepl
Nein, beides behaupte ich gerade nicht. Alles was ich behaupte (und insofern stimme ich mit Fleck überein) ist, dass jeder Denkstil unvollständig ist. Dass er von Prämissen ausgeht, die ihm Teile der Erkenntnis verschließen. Und dass man darum für bessere (= genauere) Erkenntnis auch das Gegenteil dieser (und andere) Prämissen mitdenken muss. Ich habe mich daher stets bemüht, Ihre Aussagen nicht als falsch zu bezeichnen – sie sind mir nicht falsch, sondern nur aus anderer Perspektive zu einseitig. Aber wenn Sie nun allein diese andere Perspektive einnähmen, dann würde ich Ihnen Ihre jetzige entsprechend entgegen halten (oder eine weitere).
Das ist das schon mehrfach erwähnte Problem meines Denkens: Jeder Entweder-oder-Denkende findet in meinen Aussagen immer nur den Widerspruch und das Andere. Die vielen sprachlichen Formulierungen über Perspektive, Möglichkeit oder Überzeichnung kommen zunächst nicht an – weil ihre Konsequenz dem Entweder-oder-Denken nicht denkbar ist.
Vielleicht hilft ein Beispiel aus der Mathematik, um das Problem zu verdeutlichen. Wenn man ein dreidimensionales Ding in eine Fläche projiziert, dann gibt es ganz viele verschiedene Abbilder. Und Mathematiker wissen, dass keines der Abbilder falsch ist – und doch jedes der Abbilder unvollständig, keines ideal. Wollen sie also das Ding bestmöglich erfassen, dann experimentieren sie mit allen denkbaren Abbildern – und ziehen jeweils diejenigen heran, die im aktuellen Umfeld die größte Erklärungskraft besitzen. Und auch Architekten tun das beim Hausbau.
Und genau diese Herangehensweise verwende ich für das Denken allgemein. Aber dann ist eben nie eine Denkweise oder ein Denkstil ideal. Auch als Sowohl-als-auch-Denkender brauche ich dann das Entweder-oder, denn nur so kann ich die beiden Seiten des Dinges zunächst erkennen. Bevor ich sie anschließend zum Ganzen wieder zusammenbaue, sowohl als auch. Auch die Sprache trennt mir dann nur, um besser verbinden zu können.
Da aber jeder Mensch eine andere Erfahrung hat, also auch eine andere Kombination von Perspektiven, darum kann selbst der positivistische Amateurphilosoph dem positivistischen Profi-Philosophen noch etwas beibringen. Der Amateur hat nämlich eine (jedenfalls leicht) andere Perspektive, er hat auch die Literatur anders verstanden als der Profi, und wenn sich beide als gleichberechtigt unterhalten, dann werden sich beide entwickeln – also auch der Profi. Dass das meist nicht geschieht, das hat nur einen Effizienz-‘Grund’: Die Entwicklung des Profis würde bei Diskussionen mit andersdenkenden Profis schneller verlaufen – jedenfalls glaubt das der Profi. Nur stimmt auch das nicht immer, wie ich bei den Korrekturen studentischer Arbeiten anderer Gebiete oft erlebt habe – was da als Irrsinn erscheint bringt bei intensiver Beschäftigung nicht selten weiter als manch gelehrtes Buch.
Hier gibt es aus meiner Sicht jedenfalls im ersten Teil nur ein Missverständnis. Ich meinte wie Sie, dass die Unterscheidung Teil eines Denkstiles ist und von allen so Diskutierenden geteilt wird, diese sich also nicht unterscheiden. Nur ist mir dieser Denkstil nicht der einzig mögliche.
Sie schrieben ja auch oben, dass ‘aktiv’ in der Biologie nur eine regulative Annahme (für die Unterscheidung von Lebewesen und Nichtlebewesen) ist – und ich lese das so, dass diese Annahme ebenfalls auf die ätiologische Funktion bezieht, auf das genetische Programm. Soweit man die Existenz gewisser Dinge/Prozesse nicht rein historisch erklären will/kann, soweit braucht man diese Annahme – und begründet einen entsprechenden Denkstil, der jede Vermischung unterbindet.
Nur kann er viele Erscheinungen dann doch wieder nicht anders erklären als historisch. Dabei können wir ganz einfach bei den Lebewesen und deren genetischer Anlage bleiben. Das Programm ist auch nur eine Disposition, denn es eröffnet zahlreiche Möglichkeiten – von denen nur einige wenige realisiert werden. Und zwar je nach Sichtweise aktiv oder passiv. Wir Menschen erklären uns das allgemein mit aktiven Handeln des Lebewesens – wenn man aber auf die Zell- oder Organebene schaut, so passiert das einfach ohne jedes Ziel, es wird nur die entropisch effizienteste Reaktion verwirklicht. Und damit können konkrete Gestaltungen etc. wieder nur aus der Historie des konkreten Lebewesens erklärt werden.
Ich bezweifle auch nicht, dass der Begriff Fehler in dieser Sicht intentional ist und nur auf Anlagen bezogen werden kann. Aber das liegt in der Prämisse von Intention. In diesem intentionalen Denkstil weiß ich, wann ich von Fehler sprechen kann. Ich weiß aber auch, dass dieselbe Entwicklung auch in diesem Denkstil sowohl als Fehler als auch als Verwirklichung beschrieben werden kann – wenn wir etwa an die Mutationen im Erbgut denken. Dann ist die Unterscheidung erst NACH Verwirklichung des angeblich vorgegebenen Zieles möglich: Lebt der so entstande Organismus nicht (lange), dann war es ein Fehler. Vermehrt er sich hingegen erfolgreich oder verdrängt sogar seinen Herkunftsorganismus, dann war es Verwirklichung.
Darum ist die ätiologische Funktion immer nur für eine konkrete Situation sinnvoll – während die dispositionale universell ist. Die von Ihnen genannte Uhr etwa mag ursprünglich mit dem Ziel der Zeitanzeige konstruiert worden sein, aber sie wird nun von einem Kind als Musikinstrument verwendet oder als Spiegel oder Motor einer kleinen Figur oder … Für dieses neue Etwas ist die aus der urspünglichen Sicht nur zufällige Disposition zur ätiologischen Funktion geworden. Darum ist die Sicht als ätiologische Funktion dann aber wiederum hilfreich – denn wenn diese Funktion dem Element verloren geht, wenn er also diese gewisse Disposition verliert, dann verschwindet auch dasjenige Etwas, für welches diese Disposition eine ätiologische Funktion ist.
Momentan habe ich für Kant nicht die Zeit, aber ich werde es an seinen Ausführungen erproben und meinen ‘Denkstil’ dann vielleicht mal ausführlicher als Kritik der Kritik ausführen.
Wir tun das heute, ja. Und vielleicht müssen wir es jedenfalls mit Menschen im Alltag tun, damit wir nicht ganz verzweifeln. Aber meine Behauptung ist ja gerade: Wir können auch aufgeklärt werden, dass diese Redewendung selbst für die anderen Lebwesen nur metaphorisch ist.
Aber das können wir solange nicht sehen, wie wir definitionsgemäß von einem Ziel ausgehen. Solange wir also Leben ätiologisch, aktiv oder programmatisch definieren, solange sind uns Lebewesen Subjekte, solange müssen sie es sein. Nur schrieben ja auch Sie, dass das eine Annahme ist, eine Prämisse ohne die wir uns das heute nicht erklären können – so wie früher auch nicht Berge und Flüsse.
Wenn wir aber Lebewesen und deren Funktionieren soweit dekonstruieren können, dass sie ebenso mechanisch ‘funktionieren’ wie jeder Berg oder Fluss, dann werden wir ihnen auch keine Subjekt-Eigenschaft mehr zuschreiben müssen. Oder wenn wir es tun, dann werden wir bei entsprechenden Parallelen diese Eigenschaft auch der Biozönose etc. zuschreiben können.
Beides natürlich nur in der Wissenschaft – denn unser Gehirn ist (heute) zu wenig komplex und unsere Sinne sind zu wenig ausgebildet, damit wir all die mechanischen Reaktionen im Alltag erkennen und verarbeiten können. Sprich: Die Zuschreibung werden wir für diesen Alltag weiter behalten, um sinnvoll kommunizieren und reagieren zu können. Aber sie wird uns dann im Denken nicht mehr zwingend vorgegeben sein.
@Ludwig Trepl
„Aber was soll es heißen, die Perspektive einer Biozönose einzunehmen?“
Ich klinke hier ein, weil es auch etwas, was ich beschrieben habe, betrifft. Es bedeutet, sich nicht als ein Beobachter, der über ein Landschaft geht und rumschaut, verhalten. Es bedeutet, gedanklich es als eine Einheit umfassen, sowohl räumlich als zeitlich – in ihrer Entwicklung.
Die Teilung, die sie vorschlagen, kann auch auf niedere Tiere angewendet werden, geschweige an die Pflanzen. Die Biozönose verträgt auch nur bis gewissen Masse eine Abschneidung. Sie neigen als Lebewesen nur höheres Tier in Betracht ziehen bzw. nur mit ihm vergleichen. Das Lebewesen ist aber auch ein Einzeller, eine Flechte, ein Baum, ein Wurm etc.
“Selbsterschaffung”
Die Autopoiesis autopoietischer Systeme ist letztlich ja auch nur eine Metapher, und es ist darauf zu achten, dass dort nicht mehr herausgelesen wird, als darinsteckt. Varela et al. haben [hier] einmal anhand eines Modells illustriert, was sie unter einem autpoietischen System verstanden wissen wollen. Es ist ein celluläres Automaton (CA).
Das System besteht jedenfalls aus einer Menge von algorithmischen Regeln und einem Definitionsbereich, wo durch iterative Anwendung dieser Regeln dynamische Muster entstehen, die bei Visualisierung an eine umherkriechende “Amoebe” erinnern. Das Metaphorische entsteht dadurch, dass man nun diese “Amoebe” für das System hält, das aus einem innerem Antrieb heraus agiert.
Die Autoren legen Wert darauf, dass ihre “Amoebe” einen erkennbaren Rand hat, durch den sie einen inneren Bereich nach aussen hin abgrenzt. Auf vergleichbare Weise lässt sich mit einem CA freilich auch ein “Schwarm” modellieren. Der “Schwarm” hat dann keinen Rand, oder genauer, er hat kein berandetes Inneres und besteht nur aus Rand. Für die Autoren wäre das deswegen kein autopoietisches System, obwohl die Selbstorganisation und Selbsterhaltung des “Schwarms” nach ganz ähnlichen Regeln geschieht wie die der “Amoebe”.
Den Unterschied zwischen einem modellierten Lebewesen (“Amoebe”) und einem modellierten Nicht-Lebewesen (“Schwarm”) etwa daran festmachen zu wollen, dass sich bei Modellierung im einen Fall abgegrenzte Innenbereiche zeigen und im anderen nicht, ist nicht gerade uberzeugend. Dabei wird lediglich ein bereits bestehendes Vorurteil über das, was ein Lebewesen kennzeichnen soll, als visuelles Merkmal zur Unterscheidung herangezogen. Zwischen den zur jeweiligen Modellierung verwendeten Algorithmen wird hingegen kein prinzipieller Unterschied erkennbar, eine Rechtferigung für das kategorielle Vorurteil über Lebewesen erhält man so gewiss nicht.
Nach meinem Eindruck sind “autopoietische Systeme” für Leute, die um eine rigorose Auseinandersetzung mit komplexen Systemen ernsthaft bemüht sind, auch nicht sonderlich interessant. Ich wüsste nicht, dass etwa Stuart Kauffman diesen Begriff überhaupt jemals irgendwo genannt hätte. In der Encyclopedia of Nonlinear Science findet sich eine einzige Erwähnung von Autopoiesis im Zusammenhang mit “Artificial Life”, und auch das nur in einem Nebensatz.
@ Noït Atiga
Nur zu wenigen Punkten (zu anderem vielleicht später):
„Dass ein gewisses Denken heute falsch sei, das habe ich dort [bei Fleck] nicht gefunden – obgleich ansatzweise die Vorstellung, dass ein Denken nicht durch neues Denken falsch wird (aber letzteres habe ich ja nie bezweifelt, denn es geht mir um Zusammenschau und Zusammenbau, richtig/falsch gibt es mir also nicht).“(
Nicht daß ein Denkstil falsch sei, sondern ein Denken, Gedanken, die innerhalb eines Denkstils gedacht weden. Aber das ist ja trivial. Sie behaupten doch auch dauernd, daß mein Denken falsch sei an allen möglichen Stellen. Sie behaupten allerdings auch, daß „Denkstile“ falsch sein können. Das behaupten Sie von der „continental philosophy“, während sie die angloamerikanische für richtig halten (wobei man allerdings prüfen müßte, ob der Fleck’sche Denkstil-Begriff auf so etwas anwendbar ist). Mir ging es aber nur darum, daß das, was in einem Denkstil richtig ist, nicht dadurch falsch werden muß, daß der Denkstil wechselt – denn auf diese Idee könnte man bei Kuhn manchmal kommen –, sondern daß sich in verschiedenen Denkstilen die gleiches Sache verschieden darstellen kann, aber jedes mal richtig. Das habe ich von Fleck; ob aus dem Buch, das Sie gelesen haben, weiß ich nicht mehr, ist Jahrzehnte her.
Übrigens: Mit Fleck hätten wir schon einen dritten Laien, der zwar nicht zu Philosophie, aber doch zur Wissenschaftstheorie bemerkenswertes beigetragen hat.
„… warum Ungebildete in fast jedem Fach sinnvolles finden können – dies aber (meist) nicht anerkannt werden wird: Weil es nämlich nicht zum aktuellen Denkstil passt, weil es in diesem nicht anschlußfähig ist“
Das kommt vor. Z. B. wird ein philosophierender Laie, der Heidegger zustimmend gelesen hat, möglicherweise aus eben dem von Ihnen genannten Grund keine Anerkennung bei einem positivistischen oder marxistischen Philosophen finden. Das wird aber auch ein hochgelehrtet Heideggerianer nicht. Ich meine dagegen den Fall, daß ein positivistisch denkender Amateurphilosoph auch von einem positivistischen Profi-Philosophen nicht beachtet werden wird, weil er ihm nämlich nichts sagen kann, was für diesen nicht ein alter Hut ist.
„Denn jedes Modell ist eine Metapher, eine Verbildlichung.“
Ja, sag ich doch. Meist sagt man, daß ein Modell von einer Metapher sich nur durch einen gewissen Grad an Sysematisierung unterscheidet, aber im Grunde sind Metapher und Modell (jedenfalls in der häufigsten Verwendung von „Modell“) das selbe. Bei dem Rom-Beispiel ging es aber um etwas ganz anderes: Um den Unterschied zwischen Modell/Metapher auf der einen Seite, der damit beschriebenen Sache auf der anderen. Wenn ich sage: Der Körper ist eine Metapher/ein Modell für Rom, dann sage ich etwas anderes, als wenn ich sage, Rom ist ein menschlicher Körper oder ein menschlicher Körper ist Rom. Bei letzterem geht es nämlich darum, ob beide in die selbe Klasse gehören oder dem selben Typ angehören, nicht, mit welchen Bildern oder Denkfiguren ich sie beschreiben kann. Wenn ich sage, Hunde gehören wie Katzen der Klasse der Säugetiere an, dann deshalb, weil sie bestimmte gemeinsame Merkmale haben. Das ist bei der Metapher zwar auch der Fall, aber doch würde man nicht Hund als Metapher für Katze nehmen.
„Das ist wieder nur ein Denkstil – nämlich einer, der meint zwischen dispositionalen und ätiologischen Funktionen strikt trennen zu müssen.“
Oh nein, diejenigen, die da diskutieren, unterscheiden sich in ihrem „Denkstil“ nicht. – Es ist eine notwendige begriffliche Unterscheidung innerhalb eines „Denkstils“ (vielleicht sogar innerhalb jeden möglichen Denkstils; man kann ja bezüglich der Denkstile die Frage stellen, welche möglich und welche nicht möglich sind). Eine dispositionale Funktion kann ich jeder beliebigen Ursache zuschreiben, einfach indem ich ihre Wirkung zum Zweck erkläre, und das kann ich nach Blieben tun. Die Uhr hat die dispositionale Funktion, Töne zu erzeugen oder als Briefbeschwerer zu dienen. Eine ätiologische Funktion haben dagegen nur ganz bestimmte Dinge/Prozesse; sie liegt dann vor, wenn die Funktion die Entstehung erklärt. Die Funktion der Uhr ist es, die Zeit anzuzeigen, deshalb wurde sie gebaut, diese Funktion erklärt die Entstehung. Ein Sowohl-als-auch gibt es nur in einer Richtung: eine ätiologische Funktion muß immer auch dispositional sein. Eine dispositionale Funktion aber ist entweder zusätzlich eine ätiologische oder nicht.
„Wir könnten deren [der Atome, Moleküle] ‘Verhalten’ dennoch ätiologisch begründen, wenn wir nämlich als Fernziel die Entropie-Erhöhung ansehen.“
Gewiß, oder ein anderes Fernziel, die Geschichte des christlichen Denkens gibt ja einiges her. – Sie haben eben Gott eingeführt, unter einem anderen Namen. Im Ursprung ist das Ziel enthalten. Ob ich nun sage, Gott hat sich dieses Ziel gesetzt oder das Wort Gott weglasse, ändert nichts. Man muß den Unterschied beachten zwischen dem Ende eines Prozesses von der Art eines fallenden Steins (sein „Ziel“ hat er erreicht, wenn er den Boden erreicht hat) und dem Ziel, das in einer „Anlage“ steckt; ein fundametaler Unterschied liegt auf der Hand: wenn der Stein nicht auf den Boden fällt, weil er vielleicht vorher aufgehalten wurde, kann man darauf nicht den Begriff „Fehler“ anwenden, bei einer sich entfaltenden Anlage aber schon, denn Anlage ist ein intentionaler Begriff). – Sie sollten wirklich mal die Kritik der Urteilskraft lesen. Was der Unterschied zwischen der möglichen Beschreibung von allem und jedem unter dem Zweckbegriff einerseits ist und andererseits der Aufgabe, vor die uns die „Naturzwecke“ (Organismen) stellen, kann man dort lernen. Sie müssen dem, was da steht, nicht zustimmen, aber Sie werden merken, daß man so nicht argumentieen kann, wie Sie es tun, sondern vielleicht in Ihrem „Denkstil“ anders. Sie müssen das nicht lesen, können weiter bei Ihrem Glauben an die Kraft der Laien bleiben, aber dann werden Sie an dieser Stelle halt nicht weiterkommen, werden immer wieder Argumente bringen, die Sie selbst als widerlegt erkennen würden, als in Ihrem eigenen „Denkstil“ unhaltbar, wenn Sie nachlesen würden.
„…darum, daß jeder, wenn er sich als Handelnden denkt, sich für mit dem identisch halten muß, der er vor einem Jahr war, auch wenn er empirisch nicht mit dem identisch ist.(Das mag doch für das autopoietische System (also den Menschen selbst) durchaus so gelten (wobei es schon dafür Gegenbeispiele gibt – etwa Riten, die einen Anderen Menschen werden lassen)“.
Sie wehren sich heftig gegen die Einsicht, daß etwas anders als durch beliebig mögliche Definition mit etwas anderem als als identisch zu bezeichnen ist. Jetzt haben Sie einen kleinen Rückzieher gemacht: Für autopoietische Systeme „mag es gelten“, daß sie sich in ihrer Eigenschaft als „Handelnde“ mit sich über die Zeit als identisch sehen müssen; aber dann machen Sie mit dem Verweis auf die Riten wieder einen Rückzieher.
Aber: (1), es gilt nicht für autopoietische Systeme, sondern nur für Handelnde, also Personen. Bezogen auf autopoietische Systeme insgesamt gilt vielleicht, auf Lebewesen überhaupt auf jeden Fall, daß wir ihnen diese Identität nur zuschreiben, während es bezogen auf uns selbst eine völlig sichere Erkenntnis ist (es ist keine Erkenntnis über die Welt!).
Dem werden Sie sicher nicht widersprechen, aber Sie sagen: Das ist nur eine subjektiv gewisse Erkenntnis (sie ist unbedingt wahr als Erkenntnis über sich selbst, aber Sie wissen nicht, ob sie auch für andere gilt), denn in anderen Kulturen geht es anders zu. Aber selbst wenn es wahr wäre, was da über die Riten gesagt wird, d. h. wenn wirklich in den Riten, entsprechend der Schizophrenie, die Person zerstört würde, dann aber eine andere entstünde, wäre das bezogen auf unsere Frage egal.
Ich glaube nicht, daß es wahr ist, daß da wirklich einer zum Wehrwolf (in seiner eigenen Erkenntnis!) wird, auch wenn er es sagt; so wenig wie ich einem Katholiken glaube, daß er wirklich glaubt, daß er da den Leib Christi verzehrt. Nicht daß die lügen, aber sie meinen etwas anderes als hier zur Diskussion steht, auch wenn sie nicht sagen können, was sie da anderes meinen.
Aber wie gesagt, es ist egal. Es reicht, daß unser Wehrwolf, bevor er zu diesem wurde, wußte, daß das, was er als Kind getan hat, von ihm, von eben dem, der er jetzt ist, getan wurde. Und wenn er kein Wehrwolf mehr ist: daß das, was er vor einer Stunde getan hat, als er empirisch ja auch ein anderer Gegenstand war, von ihm als eben demselben getan wurde. Es geht also (bei sich selbst) um die Erkenntnis und (bei Organismen, soweit wir sie als Individuen identifizieren können, das ist nämlich manchmal ein kompliziertes Problem) um die Zuschreibung von etwas bei einem empirischen Ding Unmöglichem: absoluter Identität.
Dann fahren Sie fort: „Aber damit liegt darin kein Argument gegen die Selbstorganisation etwa der Biozönose. Wir müssten doch deren Perspektive annehmen“.
Da gibt es einen fundamentalen Unterschied: Man kann die Perspektive eines Berges oder eines Flusses einnehmen. Zu diesem Zweck „personifiziert“ man sie: „der Berg ruft“, „Vater Rhein“. Wir wissen aber, daß das metaphorische Rede ist, und wenn wir es nicht wissen – in der Vergangenheit hat man es vielleicht ganz wörtlich gemeint, wenn man den Berg einen Handelnden nannte, das kleine Kind beschimpft die Tischkante, an der es sich stößt –, so können wir doch darüber aufgeklärt werden. Bei einem Lebewesen aber müssen wir denken, daß man seine Perspektive einnehmen kann, wir denken es uns notwendig als Subjekt in nuce. (Die einen meinen, daß das objektiv Subjekte in nuce sind, die anderen, wie Kant, daß das eine Zuschreibung, eine regulative Idee, aber eine notwendige ist.) Wenn man das nicht tut (wie z. B. Descartes), merkt doch jeder sofort, daß da etwas falsch ist, daß sich da ein Philosoph verrannt hat; wir können auch darüber aufgeklärt werden.
Aber was soll es heißen, die Perspektive einer Biozönose einzunehmen? Man kann eine Biozönose nach Belieben abgrenzen oder in 2 oder 100 Teile teilen. Wessen Perspektive meine ich, wenn ich sage, ich nehme die der Biozönose ein? Die des beliebig abgegrenzenten Naturstücks? Was soll das für einen Sinn haben, wenn ich auf diesem Naturstück nach Belieben eine unendliche Zahl anderer Perspektiven einnehmen kann und immer sagen kann, das sein die Perspektive der Biozönose? Nun, die Perspektive „der Biozönose“ kann nichts anderes sein als die einer Idee von der Biozönose, die ich mir gemacht habe, und ich hätte mir auch 1000 andere Ideen machen können.
Bei einem Hund aber geht das nicht. Natürlich kenne ich den auch nicht in seiner Wirklichkeit und die reale Perspektive, von der ich sage, sie sei die des Hundes, ist die von meiner Vorstellung dieses Hundes. Aber die kognitive Aufgabe, die sich stellt und die uns durchaus bewußt ist, besteht darin, die wahre Perspektive des Hundes zu finden, und das hat bei der Biozönose keine Entsprechung.
@Ludwig Trepl
„Man muß schon sagen: Kontinuität von was..“
Genau. Man muss das richtige „Was“ nennen. Wenn Sie die Kontinente als Beispiel, der die Unterschiedlichkeit zur besonderen Kontinuität des Lebewesens belegen sollte, wählen, dann begehen Sie den gleichen Fehler, die sie dem Noit Atiga vorwerfen. Es geht um Kategorien. Wenn schon, dann müssten Sie die Erde im Ganzen vergleichen. Oder das Leben im Ganzen.
Ich bin mit Ihnen, wenn Sie einem Wald nicht den gleichen Grad der Ganzheit zuweisen wollen, wie es mit einem Lebewesen der Fall ist. Ich komme später noch dazu. Richtig wäre den Wald bzw. eine Biozönose als ein Organ des Lebens sehen. Dann wäre es in richtige Kategorie. Ebenso der Kontinent.
„D. h. die Frage der Identität von Lebewesen ist überhaupt keine naturwissenschaftliche Frage.”
Das denke ich auch. Hier diskutieren eher wieder mit Noit Atiga. Ich würde vermeiden über die Identität, Individualität und ähnl. sprechen, wenn wir über entwickelnde und sich erhaltende Systeme reden. Da bin ich eher auf naturwissenschaftlichen Pfad. Wenn man ein W-W-Netz von Etwas betrachtet, kann man die Knoten dieses Netzes ausschließen. Sie stellen so etwas wie schwarze Löcher dar. Auf die Betrachtungsebene ist wichtig nur die Information, die in „Kanälen“ des Netzes fliest. Und sieh, was da passiert: es entstehen Stellen, wo die Dichte und Rate der W-Wirkungen steigt, das vorerst isotropisches Netz beginnt sich differenzieren, es entstehen Verdichtungen, die zunehmend von der Umwelt sich abgrenzen u. s. w. Auf dieser Ebene kann man getrost vergessen, dass die Lebewesen Individuen sind.
„Fortpflanzung ist keine essentielle Eigenschaft. Es sind Wesen möglich, die wir Lebewesen nennen müßten, die nicht durch Fortpflanzung, sondern auf andere Art die nötige Erneuerung bewirken; theoretisch kann eine modulare Pflanze ohne sich fortzupfanzen ewig leben.“
Ich habe über essentielle Eigenschaft des Lebens, nicht des Lebewesens in Einzelnem gesprochen. Sicher pflanzt sich eine Arbeitsbiene nicht fort. Die Biene ist zuerst ein integrativer Teil des übergeordneten Ganzen, das als gazheitliche Einheit in dem W-W-Netz des Lebens agiert. Ihre Funktionalität ist zuerst zur Erhaltung und Fortpflanzung der Familie gerichtet.
Es ist ja gerade interessant in Leben, dass alle spätere übergeordnete (in Bezug zu Lebewesen) Einheiten, die in dem Leben sich bilden, müssen zuerst die Fortpflanzung dieser Einheit sichern. In dieser Einheit kann die essentielle Eigenschaft des Einzelgängers-Lebewesens unterdrückt werden und sie für andere Zwecke der Erhaltung des Ganzen spezialisiert kann. Ähnlich ist es mit einer Kolonie der prokaryotischen Einzeller. Die von Ihnen nicht als eine Einheit wahrgenommene Kolonie beginnt bei Nahrungsknappheit sich als Ganze verhalten. Manche Zellen opfern sich, damit der Fortbestand der Kolonie gesichert wäre.
Zugegeben, hier konfrontiere ich mit der moderne Darstellung der Biologie, nach der die Zellen opfern sich um (identisches) genetisches Gut fortpflanzen zu lassen. Es wiederstrebt mir den Zellen eine so weit voraussehende Handlung zugestehen. Ich sehe hier das Muster, das bei organisierten selbsterhaltenden Ganzheiten immer wieder vorkommt. Sie zwingen ihre Untereinheiten sich opfern, damit das Übergeordnete erhalten bleibt. Überlebt mindestens eine Zelle in Form einer Spore, wird sie an einem günstigen Ort erhalten und ebenfalls die Kolonie gründen.
Vielleicht muss man erst definieren, was man unter Ganzheit versteht. Das holistische Verhalten entsteht nicht plötzlich. Es entwickelt sich. Der Schwarm verhält sich als Ganzheit, obwohl jedes Lebewesen offensichtlich außerhalb des Schwarms leben kann. Ähnlich mit der Zellen in der Kolonie, wobei hier die intrinsische Eigenschaften der Zelle (die Teilung) führen zwangsläufig zur Entstehung der Kolonie. Aber auch der Schwarm ist die Folge der intrinsischen Eigenschaften. Das Verhalten zur Bildung und Erhaltung des Schwarms ist in Genen verankert. Wenn in Falle der Einzeller ist dieser Eigenschaft mit dem Geburt des Lebens mitgegeben/erworben wurde, die höheren Lebewesen müssten es erst entwickeln. Diese Entwicklung wiederum fußt auf die essentiellen Eigenschaften: dem Überleben und der Fortpflanzung. Umso mehr das nächte – soziale – Umfeld dem Lebewesen und/oder seiner Fortpflanzung Vorteile bringt, umso mehr wird es in den Genen verankert. Da diese soziale Umwelt ist die nächste Umwelt des Lebewesens, daher ihre selektive/gestaltende Faktor am stärksten wirkt. Mit der Verankerung werden gleichzeitig auch die Grundlagen für die Entstehung der übergeordneten Ganzheit angelegt. Diese Einheit, die nur in Begriff eine Ganzheit zu werden, „arbeitet“ anfangs nur für sein Teil. Irgendwann werden aber Verhältnisse umkippen. Wenn der Wert der übergeordneten Ganzheit fest genug in ihren Teilen verankert ist, kippt das Verhältnis um. Jetzt die übergeordnete Ganzheit „diktiert“ den Teilen woran gehen soll.
Also gibt es zwei unterscheidbaren Stadien der Entwicklung der Ganzheit. Eine geht von den Teilen heraus, andere bedeutet die Führung seitens Ganzen. Hier verlieren die Teile ihre Selbständigkeit, wie in Fall des mehrzelligen Organismus.
„ „Gen-Gedächtnis“ dürfte wohl stimmen. Primär ist aber, daß Lebewesen sterben können müssen, das unterscheidet sie von der nicht-lebenden Natur.”
Erstens um den Tot zu reden, müssen wir klar definieren, was wir unter dem leben verstehen. Schon hier streiten sich die Geister. Also das Problem wird nur verlagert. Zum zweiten, muss man eben nur die richtige Analogie anwenden, die zeigt, was zwischen der Tassen und Giraffen gemeinsames ist, was sie unter einer Kategorie anordnen lässt. Z.B. Tod in Bezug auf das Ende eines Sterns ist keine Metapher. Er aufhört als Stern zu existieren und zwar gesetzmäßig, wie gesetzmäßig ein Tier sterben wird.
Außerdem der Satz „Lebewesen sterben können müssen“ kann nicht stimmen. Der Einzeller ist ein Lebewesen und er stirbt nicht. Das natürliche Sterben kommt mit dem mehrzelligen Lebewesen zur Erscheinung.
„Das folgende stimmt nicht: „So haben die frühen Einzeller die Atmosphäre vergiftet und mussten dann an die sauerstoffreiche Umwelt anpassen.“
Die zu aerober Photosynthese fähigen frühen Einzeller haben die Atmosphäre für andere Einzeller vergiftet, und die sind dann ausgestorben, nicht für sich.“
Wenn Sie die Entwicklung eines Embryos betrachten, gibt es das ähnliche Schema. Unterschied gibt nur eins: die Entwicklung der urtümliche Einzeller-Biozönose hatte alle Freiheit der Entwicklung. Das genetische Gut in einem Embryo lässt die Entwicklung kanalisieren, so dass hier im Unterschied zur globalen Leben nur lineare Evolution möglich ist. Auch hier werden die Zellen sich differenzieren, die spezifische Umwelt bilden, die andere Zelle zum Sterben oder zur Änderung zwingt. Diese Änderung beruht nicht auf einer Mutation, es beruht in der Ausschaltung der vorher gültigen Gensequenzen, durch die der „freien“ Entfaltung der Biozönose “Organismus“ werden lenkende/gestaltende Schränken aufgebaut. Es gibt bei dem „fertigen“ Organismus keine Zelle, die anfangs da war, dennoch hier verteidigen sie die Kontinuität, die dem Leben im Ganzen wollen absprechen, vehement.
Für Sie entscheidendes Kriterium ist, dass beim Embryo das gleiche genetische Gut von Anfang an vorhanden war. Ich sehe es nicht so eng (letzendlich geht es um Kategorien, vergleichen wir die Funktionalität, wie die Gegenstände, die zu Kategorie Möbel zählen, oder vergleichen wir Gegenstände nach ihrer Material, oder Farbe, oder Form, oder sonst irgendwas) . Wenn sie wollen, man könnte die Entwicklung des Lebens als das Sammeln der Erfahrungen, die sich in „genetischen Gedächtnis“ wiederspiegeln, sehen. Das Leben kennt viele „genetische Geschichten“, die müssen nicht kompatibel sein. Dennoch jeder hat eine Berechtigung zur Ihrer Entfaltung.
In der Entwicklung des Embryos findet sich s. z. „negative“ Evolution. Die Ganzheit „der Geschichten“ ist schon von Anfang vorhanden. Noch anschaulicher m. E. wäre die Vorstellung mit den Farben. Alle Farben gemeinsamen ergeben eine weiße Farbe. Es gibt etwas Eintöniges. Unterdrücken wir eine Wellenlänge, erscheint das Rest mit bestimmter Farbe. So haben wir am Ende echt komplexes Gemälde – ein Organismus. Wenn wir diese qualitativen Unterschiede der Evolution und „negativen Evolution“ nehmen, dann können wir eben nur die Unterschiede feststellen. Die Gemeinsamkeiten sind verloren. Wenn wir aber die Expansion, die Wirkung der gleichartigen Umwelt (in Leben – Lebewesen, in komplexen Organismus – die Zellen), die Differenzierung, die Verdichtung und Bildung eigenen Zellgemeinschaften, die mit anderen Zellgemeinschaften als Ganzes interagieren, wenn die Kreisläufe beachten, dann der mehrzellige Organismus kann sehr wohl mit dem Leben in Ganzen verglichen werden.
„Sie mußten sich nicht an die von ihnen selbst vergiftete Atmosphäre anpassen, denn für sie war sie ja gar nicht giftig.“
Wirklich? Nach meiner Kenntnis ist Sauerstoff ein sehr reaktive Stoff, das leicht mit Biomolekülen reagiert. Wenn sie meinen, dass es für Cyanobakterien ungiftig war, mag es zutreffen. Wobei auch hier nur in gewissen Maße, da ein Überschuss an der Nebenprodukten des eigenen Stoffwechsels schwächt jedes Organismus. In Fall der photosynthesierenden Pflanzen haben sie auch „gelernt“ den Sauerstoff zu verbrauchen. Es ist gutes Beispiel, wie man aus einem Übel auch ein Nutzen ziehen kann. Nebenbei wandelt die Spezies um bzw. entsteht ganz Neue und die Evolution des Lebens ist gesichert.
Sie interpretieren die Wandlung des Lebens als gegeben aus den Aktionen der Untereinheiten. Ich kann meine Meinung mit einer logischen Analogie mit der Ganzheit, die auch Sie ohne wenn und aber als Ganzheit anerkennen, vergleichen. Wenn ich das W-W-Netz des Lebewesens aus Perspektive seines Inneren sehen würde, wenn ich gedanklich auf Ebene der Zellen herabsteigen würde, wenn ich nicht nur räumlich, auch zeitlichen Aktionen dieses Netzes anpassen würde, würde ich alles als gegeben sehen. Aus dieser Perspektive gibt es keine Ganzheit. Die Zelle in unserem Organismus erhält kein Befehl aus einer übergeordneten Instanz – dem Ganzen. Sie verhält sich so, weil eine gegebene Wirkung gibt, auf die sie entsprechend (nach ihre erzogene „Programm“ bzw. genetische Spezialisierung in Ganzem) reagiert. Die Funktionalität des Ganzen ist hier gegeben aus den Interaktionen der Teile. Nur aus unserer Perspektive wissen wir z. B. über die Rolle des Gehirns im Ganzen. Vergessen wir nicht, dass diese Erkenntnis ist nicht ganz selbstverständlich. Vor noch nicht zu lange Zeit hatten Menschen gedacht, dass man mit dem Herzen denkt (wie etwa alten Ägypter).
„Was meinen Sie übriges zu der ganz anderen Einteilung des Begriffs der Selbstorganisation, die ich oben im Artikel gemacht habe?“
Sie schreiben: „Der Begriff Selbstorganisation hat also zwei völlig verschiedene Bedeutungen, eine holistische (1) und eine individualistische (2).“ Ohne näher einzugehen auf ihre erwähnten Bedeutungen, sehe ich eine andere, die aus diesem Konzept ausfällt, weil es die Interaktionen Einheit-Umwelt betrifft. Da die Deutsch nicht meine Muttersprache ist, auch mein Verhältnis zu Worten ist etwas anders. In der Evolution des Lebens ist schon recht auffällig, wie es sich selbstgestaltet hat. Man ändert die Umwelt und muss an diese geänderte Umwelt anpassen. Bis jetzt habe ich es in Bezug auf die Lebewesen gesehen. Nur in dieser Diskussion ist mir klar geworden, dass es ist eben die Selbstorganisation in holistischen Sinne. Nur hier der Holismus betrifft das Leben im Ganzen.
@ Irena Pottel
„Ich denke, dass das Wesentliche hier ist eine Kontinuität einer Einheit. Wenn man ein Organismus auf Mikroebene betrachtet, auch er ist nicht das Selber. Auch hier kommen neue Stoffe, die durch Zellsystem verarbeitet werden, was nicht ohne Folgen bleibt. Auch hier die „ethnische“ Zusammensetzung sich ändert, da die Ankömmlinge (die Moleküle: Hormone, Zellbaustoffe etc.) verändern die Zelle, dadurch wird das System Organismus verändert.“
Das ist es nicht. Man muß schon sagen: Kontinuität von was. Irgendeine Kontinuität kann man immer finden, wenn sich etwas verändert. Wenn man die Entwicklung sagen wir mal eines Kontinents über die letzten 500 Millionen Jahre betrachtet, besteht die Kontinuität u.a. darin, daß die Wassermoleküle auf diesem Kontinent immer noch Wassermoleküle sind. Aber das ist für die Frage, ob der heutige Kontinent mit einer damaligen Landmasse von ganz anderen Formen identisch ist, ohne Bedeutung. – Nein, es geht darum, daß das individuelle Lebewesen uns über die Zeit seines Lebens trotz aller Veränderungen, eventuell des völligen Wechsels der Stoffe und außerordentlicher Formveränderungen wie im Falle von Insekten mit Metamorphose, als eben dieses individuelle Lebewesen gilt – so wie Sie selbst als Person (nicht als Körper!) exakt die selbe Person sind, die sie vor einem Jahr waren und die Taten, die Sie vor einem Jahr ausführten, eben Ihre Taten waren und nicht die eines anderen Individuums mit ähnlichem Körper.
D. h. die Frage der Identität von Lebewesen ist überhaupt keine naturwissenschaftliche Frage. Naturwissenschaftlich bleibt nichts, weder ein Organismus noch ein Kristall, auch nur über die kleinste Zeitspanne identisch. Identisch können für die Naturwissenschaften nur abstrakte Gegenstände (z. B. ein Naturgesetz oder ein Dreieck) bleiben, also solche, die es nicht „gibt“, sondern, sozusagen, mittels derer man über das nachdenkt, was es gibt. In gewissem Sinne ist die Identität der Person auch so etwas. (Allerdings muß man sich hüten, darin abstrakte Gegenstände von der Art eines Naturgesetzes oder eines Dreiecks zu sehen, doch das würde hier zu weit führen.)
„Die essentielle Eigenschaft des Lebens ist die Fortpflanzung und das Gen-Gedächtnis.“
Fortpflanzung ist keine essentielle Eigenschaft. Es sind Wesen möglich, die wir Lebewesen nennen müßten, die nicht durch Fortpflanzung, sondern auf andere Art die nötige Erneuerung bewirken; theoretisch kann eine modulare Pflanze ohne sich fortzupfanzen ewig leben. „Gen-Gedächtnis“ dürfte wohl stimmen. Primär ist aber, daß Lebewesen sterben können müssen, das unterscheidet sie von der nicht-lebenden Natur. Und die Erde (die Biosphäre) kann nicht sterben. Erst dann, wenn durch das Sterbenkönnen etwas als Lebewesen bestimmt ist, kann man dann fragen, was denn solche Gegenstände ausmacht, und dann diskutiert man, ob es das wechselseitige Erzeugen von Teilen und Ganzem, das „Gengedächtnis“, der Stoffwechsel, die Selbstorganisation oder was auch immer ist, und man kann dann auch empirisch fragen, was es mit dem Sterben auf sich hat.
„…zum Verständnis der Selbstorganisation“.
Ich kenne Haken nur ganz flüchtig. Aber so, wie Sie das darstellen, leuchtet es mir nicht ein.
„Ein offenes System verändert zwangsläufig seine Umwelt, mit der er konfrontiert und dadurch sich ändern muss.“ Das ist sicher so, und ich habe es auch oben anhand der holistischen Selbstorganisation angedeutet, daß das auch bei Organismen so ist. Aber es ist es für Organismen essentiell, daß sie manche ihrer Eigenschaften bei Umweltänderungen nicht ändern, sondern konstant halten, zu diesem Zweck aber bestimmte andere Änderungen an sich vornehmen müssen. Um die Körpertemperatur trotz Änderung der Temperatur in der Umwelt konstant zu halten, muß ein Warmblütler (genauer: ein thermoregulationsfähiger homoiothermer Organismus) u. a. sein Nahrungsaufnahmeverhalten ändern. Und die Funktion dieses Konstanthaltens liegt darin, die „Selbsterhaltung“ des Organismus zu ermöglichen, d. h., ihn „am Leben“ zu erhalten (was empirisch im allgemeinen Fortpflanzung erfordert, aber, wie gesagt, nicht unbedingt). (Im Einzelnen ist das kompliziert, ich habe in dem oben zitierten Lehrbuch von mir ausführlich darüber geschrieben.)
Aber ein offenes System, das kein Lebewesen ist – z. B. ein offenes System in der unbelebten Natur wie ein Gewässer mit Zu-und Abfluß, eine Biozönose oder „Gaia“ als die größtmögliche Biozönose – verhält sich eben anders, nämlich nurso, wie Sie geschrieben haben: Es verändert seine Umwelt und wird anschließend von der nun veränderten Umwelt verändert. Aber es unternimmt, anders als das Lebewesen, keine „Anstrengungen“, um „trotz“ der Umweltänderungen in bestimmter Hinsicht gleich zu bleiben, und dies, um „am Leben zu bleiben“. – Was meinen Sie übriges zu der ganz anderen Einteilung des Begriffs der Selbstorganisation, die ich oben im Artikel gemacht habe?
Das folgende stimmt nicht: „So haben die frühen Einzeller die Atmosphäre vergiftet und mussten dann an die sauerstoffreiche Umwelt anpassen.“ Die zu aerober Photosynthese fähigen frühen Einzeller haben die Atmosphäre für andere Einzeller vergiftet, und die sind dann ausgestorben, nicht für sich. Sie mußten sich nicht an die von ihnen selbst vergiftete Atmosphäre anpassen, denn für sie war sie ja gar nicht giftig. Im Zuge der weiteren Anreicherung der Atmosphäre mit Sauerstoff mußten sich allerdings auch die aeroben Arten an die neue Sauerstoffkonzentration anpassen, jedoch nicht an deren Giftigkeit.
@Ludwig Trepl
Soeben habe ich Ludwik Fleck studiert – aber ganz Anderes gefunden als Ihre Ansicht. Und zwar so grundlegend anders, dass ich daran zweifle, denselben Fleck gelesen zu haben: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1935 (Suhrkamp 1980). Dass ein gewissen Denken heute falsch sei, das habe ich dort nicht gefunden – obgleich ansatzweise die Vorstellung, dass ein Denken nicht durch neues Denken falsch wird (aber letzteres habe ich ja nie bezweifelt, denn es geht mir um Zusammenschau und Zusammenbau, richtig/falsch gibt es mir also nicht).
Vielmehr habe ich dort gefunden (insbes. 2. Kapitel, S. 31-70), dass Denkstile gewisses Denken (und gewisse Erkenntnis) als falsch ausschließen müssen – weil sie ihre Fragen und Methoden (zu) kategorisch formulieren. Und ich habe dort meine Erklärung wiedergefunden, warum Ungebildete in fast jedem Fach sinnvolles finden können – dies aber (meist) nicht anerkannt werden wird: Weil es nämlich nicht zum aktuellen Denkstil passt, weil es in diesem nicht anschlußfähig ist – und weil diese Entdeckung darum nur dann zur Erkenntnis werden kann, wenn sie einen neuen Denkstil begründet. Was wiederum nur geht, wenn nicht zuviele Prämissen des alten Denkstiles aufgegeben werden – denn dann wird die klassische Wissenschaft irritiert. Allerdings scheint mir Fleck dort etwas zu stark von der Natur westlicher Denkstile beeinflusst zu sein, also vom Denken in Richtig/Falsch (aber mit dieser Kritik mache ich mich natürlich hierzulande selbst weniger anschlussfähig). Und ich habe dort auch gefunden, dass es Apriori nicht gebe.
Aber vielleicht kann ich ja mit dem Denkstil-Argument (was Sie ja anscheinend teilen) so manche meiner Ausführungen verständlicher, sprich anschließbarer begründen.
Es ist bereits ein Denkstil, einen Unterschied zwischen einem Modell und dessem metaphorischen Gebrauch anzunehmen. Denn jedes Modell ist eine Metapher, eine Verbildlichung. Der Körper als Modell ist in anderem Denkstil nur ein Denkfigur für ein Ding. Und seine Aufgliederung in verschiedene Organe ist eine bestimmte Denkfigur für sein Funktionieren.
Ihre Beispiel hinken mir aus dieser Perspektive, denn die Untertasse ist ein Ding wie die Giraffe – und das eine Ding kann natürlich nicht als Beschreibung eines anderen genutzt werden, sondern allenfalls als dessen Metapher – wofür aber gewisse Ähnlichkeit nötig ist. Anders bei Modellen wie dem der Evolution oder des Superorganismus, dort gibt es keinen kategorischen Unterschied, sondern nur mehr oder weniger gewohnte Bilder – aber beides sind nur Bilder.
Das ist wieder nur ein Denkstil – nämlich einer, der meint zwischen dispositionalen und ätiologischen Funktionen strikt trennen zu müssen. Und er entsteht wieder aus einen Entweder-oder-Denken. Im Sowohl-als-auch sind nämlich dispositional und ätiologisch nur zwei Seiten einer (mglw. bisher nur teilweise bekannten) Medaille: Die dispositionale Funktion muss gegeben sein, damit sich eine Beziehung formen kann. Die ätiologische Funktion aber formuliert den Zweck einer (als Auswahl aus vielen möglichen) gewordenen Beziehung aus der Perspektive der Beziehung – sie ist also proximative (nämlich teleologische) Formulierung des eigentlich außerhalb dieser Beziehung liegenden ultimativen ‘Zweckes’, also eines Natur-Gesetzes.
Das möchte ich am Beispiel der Funktionalität räumlicher Nähe illustrieren.
Sie schreiben, dass nicht die Nähe zur Festigkeit führt, sondern bestimmte physikalische Beziehungen. Da bin ich ganz bei Ihnen. Nur ist damit nichts geklärt, denn auch wenn Atome bzw. Moleküle die Disposition zu bestimmten Bindungen mitbringen: Warum entsteht die konkrte physikalische Beziehung und warum bleibt sie bestehen?
Wäre die zu untersuchende Beziehung Teil eines Organismus, dann würden Sie ganz definitionsgemäß unterstellen: fÜr das Leben. Allerdings bringt mir das mehr Fragen als Antworten, denn welches Ziel hat Leben, warum gibt es Leben etc. – Sprich mir begründet diese Aussage nichts, sie führt nur eine Prämisse ein, mit der ich mich im aktuellen Denkstil zufrieden zu geben hätte – das sei nun einmal so. Die ätiologische Funktion wird also im Denkstil als separat eingeführt, weil er die Entstehung des Lebens (und anderer Dinge) nicht dispositional erklären kann (und daher ohne diese Prämisse keine Erkenntnis gewinnen). Und damit scheint natürlich jede Aussage, die dispositionale und ätiologische Funktion verbinden will, in diesem Denkstil sinnlos.
Bei den Molekülen aber brauchen wir diese ätiologische Funktion nicht mehr (deswegen gibt es sie für uns heute nicht mehr – früher war es Gottes Wille). Wir könnten deren ‘Verhalten’ dennoch ätiologisch begründen, wenn wir nämlich als Fernziel die Entropie-Erhöhung ansehen. Und zwar nicht die des konkreten, entstehenden Gebildes – sondern die des Universums. Ätiologische Funktion jeder existierenden Beziehung (und damit jeder Nähe) ist dann die Erhöhung der Entropie des Universums. Und das muss wegen des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik so sein.
Die (Nähe)Beziehung ist nämlich in Ihren Worten Negentropie (Ordnung) – und aufgrund des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik kann solche negative Entropie nur durch Export von Entropie entstehen – die Gesamtentropie eines beliebigen Systems, also auch des Universums muss dabei wenigstens gleich bleiben. Da es aber (fast) bei jeder Energieumwandlung ‘dauerhaft ungerichteten Verlust’ gibt, darum wird die Entropie des Universums durch jede Reaktion erhöht. Und insofern sind dann auch Aggregate oder Steine ätiologisch funktional.
Das meinte ich oben mit meiner Entropie-Hypothese (denn da ich sie hier auf dem Blog zum ersten Mal formuliert habe, würde ich sie noch nicht Theorie nennen). Allerdings brachte sie gerade auch für die Biologie enorm viel – könnte man doch auf den ZWeck und damit die Teleonomie verzichten! Anders gewendet: Konsolidiert sich die Hypothese, dann dürfte eine Welterklärung ohne ätiologische Funktionen möglich werden… Dabei teile ich Ihren Widerwillen für konkrete Fälle sogar, aber die Hypothese bliebe nur ultimative Erklärung – und als solche könnte sie konkrete Formen nicht anders erklären als historisch. Wir brauchten also weiterhin alle Wissenschaft, um dieses historische Gewordensein verstehen zu können. Aber wir hätten ein Bindeglied zwischen Allem, so etwas wie die Definition von Stärke in Darwins Theorie. Und wir könnten gewisse Entwicklungen ob der jeweils aktuellen Situation ausschließen.
Mit dem ersten Teil gehe ich mit, mit dem letzten nicht ganz (möchte mich da aber gern in weitere Literatur vertiefen und mich über Literaturhinweise freuen).
Problematisch ist mir aber auch im ersten Teil, was man wie definiert. Wenn man (wie @Irena Pottel vorstehend) Lebewesen in Abhängigkeit von Fortpflanzung und Gen-Gedächtnis definiert – dann ist die Biosphäre keines, denn das in jedem Teil einheitliche Gen-Gedächtnis fehlt jedenfalls. Nur war das ja nicht Ihr eigentliches Argument – jedenfalls habe ich Sie ursprünglich nicht so verstanden, haben Sie doch hier diese Eigenschaft nur wegen des falschen Gleichgewichtstyps und falscher Selbstorganisation verneint.
Und auch das Argument des Sterbens schien mir bisher nicht das entscheidende – wenn Sie das heranziehen wollen, dann geht das natürlich. Aber dann müssen wir auch noch aufpassen, wie wir sterben definieren – denn der Mensch stirbt auch nicht durch den gleichzeitigen Tod aller seiner Zellen, sondern mit dem Aussterben seiner wichtigsten Zellen…
Das mag doch für das autopoietische System (also den Menschen selbst) durchaus so gelten (wobei es schon dafür Gegenbeispiele gibt – etwa Riten, die einen Anderen Menschen werden lassen). Aber damit liegt darin kein Argument gegen die Selbstorganisation etwa der Biozönose. Wir müssten doch deren Perspektive annehmen – denn wir denken doch dann die Biozönose als Handelnde.
Darum auch habe ich die Identität immer als konstruiert bezeichnet. Und vielleicht haben wir uns da immer missverstanden – aber Ihr Argument war doch, dass die Identität für Lebewesen vorgegeben sei und für Superorganismen konstruiert. Und darin liegt mir eben ein Zirkelschluss, selbst wenn wir für uns selbst Identität zwingend konstruieren müssten. wir erweitern diese Identität doch auf Anderes – und es hängt im zwingenden Bereich dann davon ab, dass diese Dinge entweder nach unseren ‘Wissen’ stofflich identisch sind oder als identisch konstruiert werden. Und wir diese Konstruktion dann eben auf alles als lebend Angesehenes beziehen. Sprich Lebewesen sind sich auch bei Stoff- und Erscheinungsverschiedenheit identisch, weil sie Lebewesen sind. Und Nichtlebewesen sind sich bei Stoff- oder Erscheinungsverschiedenheit nicht identisch, weil sie Nichtlebewesen sind.
Und darum ist mir die Identität, wie zwingend sie auch für Lebewesen sein mag, kein Kriterium zur Unterscheidung von Lebewesen und Nichtlebewesen – es ist eine petitio principii (wie Fleck sagen würde, S. 44).
Auch Sterben beziehen wir ähnlich auf das, was wir bereits als Lebewesen ansehen: Wir werden eben nie sagen, die Hautzelle dieses Menschen ist gestorben, sondern nur, seine Haut ist abgestorben – weil sie sich von dem abgesondert hat, was wir als Lebewesen ansehen. Obwohl ja die Zelle auch nach Ihrer Ansicht ein Lebewesen ist. Und immer wenn man diese alltägliche Sicht hinterfragt, dann läuft man gegen Wände – die auch in der Wissenschaft allenfalls mit der Zeit weichen.
Dieses Belächeln der etablierten philosphischen Wissenschaft bestreite ich ja gar nicht. Nur hat es eben nicht die Ursache, dass die Gedanken eines Laien so wenig neu sind. Sondern die oben schon angeführten Ursachen, insbesondere die, dass seine Formulierung seiner Gedanken von den etablierten Philosphen nur in deren etabliertem Denkstil aufgenommen und nachgedacht werden kann. Und ob dieses persönlichen Denkstiles können sie nur Bekanntes oder Irrsinn wiederfinden! Das Lächeln der Philosphen ist also Konsequenz einer selbsterfüllenden Prophezeiung.
Und beim Auto ist das ebenso – und war es auch in der Geschichte, schließlich wurde Benz zunächst genauso belächelt. Und auch Einstein hat sich erst dann wirklich durchzusetzen vermocht, als er seine Theorie soweit formalisiert hatte, dass sie nachrechenbar wurde. Und diese fehlende Formalisierung ist das große Problem aller Geistes- und Sozialwissenschaften – und darum setzen sich neue Ideen dort auch meist nur dann durch, wenn sie von etablierten Wissenschaftlern vorgebracht werden (denn dort geht man auch bei Unverständlichkeit von jedenfalls potentieller Richtigkeit aus und bemüht sich um Verständnis).
Das scheint nur so, denn ich verwende ein etwas komplexeres Komplexitätsmodell als die klassische Autopoiesistheorie – und das beruht etwa auch auf den Erkenntnissen über die Funktionsweise unseres Gehirns und unserer Technik. Ich stelle zwar auf die Elemente des Systems ab (darum auch meine Einschränkungen oben), aber es ist zu einfach, nur die Zahl ihrer Beziehungen heranzuziehen. Vielmehr muss man auch die Komplexität der Elemente mit einbeziehen (und die hängt wiederum zwingend auch von deren Teilchenanzahl ab).
Um es mathematisch einfach wiederzugeben:
Ein System aus 10 Elementen mit je 2 möglichen Zuständen kann ingesamt 2^10 Zustände, also 1.024 Zustände darstellen.
Ein System aus 6 Elementen mit je 8 möglichen Zuständen kann insgesamt 8^6 Zustände, also 262.144 Zustände darstellen.
Ein System aus 6 Elementen mit je 10 möglichen Zuständen kann insgesamt 10^6 Zustände, also 1.000.000 Zustände darstellen.
Nun werden Organismen selten diese klaren digitalen Zustände verwenden, oft sind es eher Mischformen zwischen digitalen und analogen Zuständen – doch in allen Fällen ist die Zahl der Möglichkeiten des Gesamtsystems auch von der Möglichkeitspalette der Untersysteme abhängig.
Man könnte auf dieser Basis wohl zumindest näherungsweise berechnen wie stark die Komplexität von der Anzahl der Atome abhängt, insbesondere wenn man die verwendeten Atome und deren mögliche Zustände kennt (und inwieweit etwa auf Quantenzustände zurückgegriffen wird). Aber ich weiß nicht, ob das schon gemacht wurde. Es ist auch nicht so spannend, weil man dann immer noch nicht weiß, wie die Teilchen gruppiert sind – was wiederum starke Auswirkungen auf die Komplexität hat. Wobei die größere Zahl durchaus kontraproduktiv sein kann – wenn damit die Kombinationswege zu lang werden. Markus A. Dahlem hatte das nebenan schonmal für unser Gehirn aufgeworfen. Allerdings könnte es mit zunehmendem Abstand sinnvoll sein, nur Zwischenergebnisse zu kommunizieren, also verschiedene Komplexitätszentren zu entwickeln und diese dann über variierbaren Austausch recht intensiv zu verknüpfen – wie bei uns etwa Bauch und Kopf.
Aber das geht doch auch nur durch Denken?! Und damit in den bereits denkbaren Gesetzen, der Logik(en) und der Erfahrungs-Bedingungen. Ist also nicht auch jedes Gesetz des Denkens auch nur Ausdruck eines bestimmten Denkstils?
Damit will ich nicht behaupten, dass diese Reflexion sinnlos wäre – ganz im Gegenteil. Sie kann uns verdeutlichen, was wir (als Individuum) bisher nicht hinterfragen konnten oder durften. Und insofern ist dann auch das vielleicht teils psychologisch vermittelt, wenn etwa der kategorische Imperativ mir immer das rechte Maß war – ich aber vielfach erleben muss, dass ich damit so gehandelt habe, dass die Gefühle Anderer verletzt wurden. Vielleicht muss ich mich dann nach einem anderen Imperativ umsehen, der vielleicht dann auch nur für mich gilt und vielleicht auch da nur zeitweise – bis ich einer neuen Logik begegne oder neuem Denken oder neuem Sollen aus neuem Sein oder neuem Sein aus neuem Sollen oder…
@ Noït Atiga
Modelle: „Soweit es eine gewisse Übereinstimmung gibt (behauptet wird), soweit scheint es mir immer sinnvoll, sowohl die Übereinstimmung als auch das Trennende zu hinterfragen“
Das bringt leider nichts. Eine gewisse Übereinstimmung gibt es zwischen schlechthin allem Empirischen, auch zwischen Giraffen und Untertassen. Dennoch nimmt man nicht Untertassen als Modell für Giraffen. Sie müßten Kriterien nennen, nach denen es sinnvoll ist, etwas als Modell für etwas anderes zu nehmen oder es zu lassen. Und dann ist noch ein Unterschied zwischen der Aussage, etwas sei ein geeignetes Modell für etwas anderes, und der Aussage, das „ist“ etwas, es fällt in die gleiche Klasse oder gehört dem gleichen Typ an wie das andere. Ich kann, wie Menenius Aprippa, den Körper als Modell für den Staat nehmen. Das erklärt mir einiges: Der Senat lenkt, die Bauern arbeiten, die Plebejer tun nichts, sondern verdauen nur. Aber etwas anderes es ist zu behaupten, der Staat von Rom „ist“ ein Körper (also es nicht-metaphorisch zu meinen).
„nur sind eben auch Beziehungen ohne aktiven Austausch funktional“
Stimmt, Austausch und Aktivität sind nicht entscheidend, es kann z. B. auch eine Beziehung des An-einem-Platz-Haltens sein, oder des Eine-Lücke-Lassens. Aber auch das gibt es bei einem bloßen Aggregat definitionsgemäß nicht.
„Und eine solch funktionale Beziehung besteht auch innerhalb eines Steines wie innerhalb der Aggregate“
Da benutzen Sie den Begriff „funktional“ im Sinne von dispositionalen Funktionen, bezogen auf Organismen aber wird er im Sinne von ätiologischen Funktionen benutzt, wenn man das „organische“ an ihnen bezeichnen will. Ohne diesen grundlegenden Unterschied zu beachten braucht man über solche Fragen gar nicht weiter nachzudenken – es wird sowieso falsch.
„Und diese ‘räumliche’ Nähe ist sehr funktional – führt sie doch zur Festigkeit des Steines“
Nicht die Nähe führt zur Festigkeit, sondern bestimmte physikalische Beziehungen, die nur dann stark genug sind, wenn die Entfernung gering ist. Der Glaube an die Wirksamkeit der räumlichen Nähe an sich ist magisch, er steckt hinter der Heilmethode des Handauflegens.
„Und dann kann man gewissermaßen auch die Unterscheidung zwischen Leben und Nichtleben erübrigen – oder die Frage nach einem gewissen Tod auf Alles beziehen.“
Ersteres ist nicht ausgeschlossen. Ich hab ja zustimmend das Zitat von Eisel gebracht, in dem der Tod zwar nicht verschwindet, aber doch zu etwas ganz anderem wird. Man könnte sich z. B. vorstellen, daß infolge des „Verschmelzens“ von Lebewesen und Maschine im Zuge der technischen Entwicklung sich in dieser Hinsicht alles derart ändert, daß die Unterscheidung zwischen Lebendem und Nichtlebendem hinfällig wird, daß ganz andere Unterscheidungen entstehen, die für uns unbegreiflich sind. Dann kann man aber (1) Tod nicht auf alles beziehen, denn Tod gibt es dann nicht mehr, allenfalls etwas entfernt Ähnliches, und (2) gilt mein Ludwik-Fleck-Argument: Dadurch wird das nicht falsch, was wir heute denken, und es wäre heute falsch zu sagen, „Tod“ ließe sich auch auf etwas anwenden, das kein Lebewesen ist.
„Vielleicht machen wir die Zuschreibung notwendigerweise – aber wir MACHEN sie. … dann können wir sie mit gewisser Übung auch für Anderes machen. Sprich: Wofür wir Identität annehmen, das ist variabel, also überall frei definierbar.
Daraus, daß wir sie machen, folgt nicht, daß wir sie „frei“ machen können. Wenn wir sagen, wir machen sie notwendigerweise, dann haben wir damit ja schon ausgeschlossen, daß wir sie auch lassen könnten. Sie sind der Meinung, daß „machen“ ausschließt, etwas machen zu müssen. Das stimmt aber nicht.
„…also ist es reine Frage der Definition, ob und welche Lebewesen, Organismen oder Systeme für uns identisch sind.“
Das stimmt erstens nicht und zweitens ging es mir um etwas anderes. Stimmt nicht: Es ist eine komplizierte Frage, man muß unterscheiden, ob man z. B. über Arten (von Lebewesen) im logischen Sinn (spricht oder über Biospezies oder Gesellschaften von Lebewesen. Jedes mal stellt sich die Frage anders; es ist immer etwas anderes, was man definiert und was sich dann (wenn diese Definition einmal gemacht ist) nicht definiert werden kann, sondern „gefunden“ werden muß. Und bei manchem ist man gar nicht frei, zu definieren. Ich habe dazu viele Seiten vollgeschrieben, wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Quelle nennen.
Aber, wie gesagt, mir ging es um etwas anderes: darum, daß jeder, wenn er sich als Handelnden denkt, sich für mit dem identisch halten muß, der er vor einem Jahr war, auch wenn er empirisch nicht mit dem identisch ist. Das geht Ihnen auch nicht anders, Sie können da nicht durch Definition etwas daran ändern, sonst wären Sie nämlich keine „Person“. – Letztlich geht es darum, daß der Mensch nicht nur, in den Begriffen Kants, den Gesetzen der Natur, sondern auch denen der Freiheit unterliegt, und unsere Frage gehört zu letzterem. – Es ist sinnlos, weiter darüber nachzudenken, ohne die einschlägige Diskussion in der Philosophie zu kennen: Sie antworten immerzu (das Thema hatten wir ja schon häufiger) mit den gleichen Argumenten auf etwas, was ich gar nicht behauptet habe. Damit sind wir beim nächsten Thema:
„Nur gibt es gerade bei der Philosophie keinen einzigen Menschen, der gar keine Ahnung hat“
Stimmt, aber was heißt das? Gar keine Ahnung von Autos habe ich auch nicht, aber sie reicht nicht, auch nur die kleinste Panne zu reparieren. Und es ist etwas anderes, von Philosophie so viel zu verstehen, wie man als Laie halt so verstehen kann, oder so viel zu verstehen, daß man einen Gedanken zuwege bringt, der für die Philosophie neu ist und nicht belächelt wird.
„Es gibt da durchaus Beispiele“ Stimmt, ich hab ja auch eines genannt, Jakob Böhme. Jetzt haben wir schon zwei. Aber auch wenn es zehn oder zwanzig wären, reichte das immer noch nicht, um jemandem den Rat geben zu können, zu philosophieren, ohne Philosophie wirklich zu studieren, und begründet hoffen zu können, zu ihr etwas von allgemeiner Bedeutung beitragen zu können. Er kann für sich, für seine spezielle Lebenslage, etwas von Bedeutung herausbekommen, und das kann ihm auch kein Spitzenphilosoph abnehmen. Aber einen allgemeinen brauchbaren Gedanken herausbekommen zu können, bei dem nicht die Philosophen gelangweilt sagen „hatten wir schon“, diese Hoffnung darf man keinem in den Kopf setzen.
„Wenn aber die Zelle den wirklichen ‘Willen’ des Superorganismus Mehrzeller erschließen will, dann müsste sie ähnlich komplex wie dieser sein – woran es ja mangelt.“
Da gehen Sie von einem metaphysischen Komplexitätsbegriff, den gerade die Autopoiesistheorie vehement zurückweist. Dieser Komplexitätsbegriff geht davon aus, daß es Letzteinheiten gibt, und darum ist ein System mit mehr solchen „Atomen“ (nur potentiell, weil, wie Sie ja auch schreiben, die Zahl der Beziehungen zwischen ihnen relevant ist) komplexer als ein solches mit weniger, ein Elefant komplexer als ein Floh, ein übergeordnetes System immer komplexer als die untergeordneten. Es sei vielmehr so, sagen die Autopoiesistheoretiker: Bei einem beobachterabgegrenzten System bestimmt der Beobachter, bei einem autopoietischen (selbstreferentiellen) das System selbst, was die Teile sind. Bei einem Organismus können z. B. die Organe Teile sein, nicht die Zellen, bei der Zelle aber z. B. die Atome. Dann wäre die Zelle viel komplexer als der mehrzellige Organismus.
„… den Willen des Staates … kein Repräsentant kann diesen je kennen. Allenfalls kann der Repräsentant seinen Willen apodiktisch als den des Systems setzen – oder wir können uns dem Willen durch zahlreiche Beobachtungen annähern.
Das reicht doch. Der Repräsentant kann ihn zu repräsentieren versuchen und soll das auch. Herr Ratzinger kann nicht nur behaupten, Gott auf Erden zu repräsentieren, er könnte das wirklich versuchen. Der König könnte nicht nur behaupten, der Staat bin ich, sondern wirklich versuchen, die Gesamtheit zu repräsentieren, und in gewissem Maße tun solche Leute das ja auch, mehr oder weniger gezwungenermaßen. Und deshalb ist es doch etwas anderes, den Staatsführer zu fragen als den Leiter einer Einkaufsfiliale, wenn es um den „Willen“ des Staates geht. Und „wir können uns dem Willen durch zahlreiche Beobachtungen annähern“. Das sag’ ich ja. Früher nannte man das „Lesen im Buch der Natur“, dadurch meinte man den Willen Gottes erkennen zu können. Daß man das nicht vollständig kann (und unsere denkende Zelle das auch bezüglich des Organismus nie ganz können wird), ist klar, macht aber nichts. Man hat das auch immer gewußt: Vollständig erschließt sich die Weisheit und der Wille Gottes selbst für den scholastischen Universalienrealisten nicht; das zu hoffen, dafür hatte man das Wort “Hybris”.
„… Biozönose … ist zuviel ‘Leben’ im Spiel, dort sind die Verknüpfungen zu zahlreich und zu flexibel. Diese sehe ich darum als lebend an“
Dann verstehen Sie aber unter etwas Lebendem (besser: einem Lebewesen) etwas vollkommen anderes, als sonst darunter verstanden wird, worauf ich wieder nur die Antwort geben kann, daß Sie das zwar machen können, aber dann einen anderen Begriff bräuchten für das, was man sonst Lebewesen nennt. Denn der Unterschied in der Sache verschwindet mit der Umbenennung nicht.
Ich habe oben im Artikel ausführlich darüber geschrieben, daß aus Gründen eines falschen Verständnisses der Relevanz von Fließgleichgewichten und der Bedeutung von Selbstorganisation man den Gaia-Autoren ihre Behauptung, daß die Biosphäre ein Lebewesen sei, nicht abnehmen kann. Aber für die Widerlegung dieser Behauptung wäre das alles gar nicht nötig gewesen. Es reicht, darauf hinzuweisen, daß Lebewesen sterben können müssen, um Lebewesen zu sein, und daß das die Biosphäre nicht kann. Sie könnte z. B. durch einen Asteroideneinschlag ausgelöscht werden, aber gestorben ist sie dann nicht. Gestorben sind vielmehr die einzelnen Lebewesen. Und wenn eine einzige Bakterienart übrigbleibt, ist die Biosphäre (d. h. die größtmögliche Biozönose) auch nicht ausgelöscht, sie ist noch da, wenn auch sehr stark verändert. Auch eine Population kann nicht sterben, das können nur die zu ihr gehörigen Lebewesen; die Population kann nur aussterben. Wenn der letzte Mohikaner stirbt, ist das Volk der Mohikaner nicht gestorben, sondern ausgestorben; gestorben sind alle einzelnen Mohikaner. Die Sprache unterscheidet da sehr fein, und die Unterschiede sind kategorialer Art.
„Unser subjektives Denken kann uns nie wirklich zugänglich sein. Denn soweit ich über das Denken nachdenke wird das Denken zur Erscheinung“.
Stimmt, aber bei der Reflexion, von der ich sprach, denke ich eben nicht über mein Denken als Erscheinung nach – das wäre Psychologie meiner selbst und gehörte in die empirische Wissenschaft; alles, was mir da aufgrund von Erfahrung richtig erscheint, könnte sich durch die nächste Erfahrung als falsch erweisen. Man richtet sich vielmehr auf das im Denken, was durch keine Erfahrung als falsch erwiesen werden kann. Man reflektiert über die Gesetze dieses Denkens, die formalen der Logik, und die transzendentalen, die im Denken anzutreffenden Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung; wir fragen, was wir denken müssen und was wir nicht denken können. Was wir nicht denken können, kann auch keinem Gegenstand prädiziert werden; was wir denken müssen, muß jedem Gegenstand gleich welcher empirischen Beschaffenheit notwendig zukommen. Z. B. fällt ein Urteil, das ihm die Eigenschaft X zuschreibt, immer in eine von drei Klassen: Die Eigenschaft kommt ihm möglich, wirklich oder notwendig zu.
Auf das Subjektive habe ich nur hingewiesen, weil uns ja „das Denken“, „die Vernunft“ als Allgemeines nie anders zugänglich ist als dadurch, daß ich denke und darauf reflektiere. Daß der Satz des Pythagoras oder der Kategorische Imperativ gilt, weiß ich ja nur, weil ich sie aus meinem eigenen Denken kenne und nicht anders kann, als sie für gültig zu halten. Ich kann sie nicht durch Nachmessen oder durch Beobachten des moralischen Verhaltens der Menschen herausfinden oder überprüfen. Und daß das nicht nur bei mir so ist, diese Vermutung zu erhärten habe ich nur die Mittel der Kommunikation.
Sie schreiben: „weniger erkennbar ist uns aber das kollektive Denken.“ Um das geht es nicht, das wäre ein ganz anderes Thema. Sondern es geht um das allgemeine, die „allgemeine Vernunft“; um die Geltungsbedingungen allgemeiner Sätze, z. B. von hypothetischen allgemeinen Naturgesetzen. Da prüft man bekanntlich (a) empirisch und (b) indem man sie auf logische Konsistenz untersucht. Letzteres tut man, indem man die mittels der Kenntnisse der logischen (nicht psychologischen!) Gesetze prüft. Die kennt man normalerweise für die Zwecke der Wissenschaft hinreichend aufgrund der Kenntnis seines eigenen Denkens, indem man sich die Gesetze klar macht, denen man dabei folgt. Man kann das etwas verbessern, indem man die Ergebnisse der Diskussion hinzuzieht, die die Reflektierer auf ihr eigenes Denken seit 2000 Jahren untereinander führen, d. h. indem man ein Logikbuch liest oder eines über Transzendentalphilosophie. Denn ab und zu kommt in dieser Diskussion etwas Neues heraus, über das hinaus, was jeder mehr oder weniger bewußt ohnehin schon weiß. Vor 300 Jahren hat man noch ganz locker jede Menge Sein-Sollens-Schlüsse gemacht. Dann ist einer daraufgekommen, daß das unzulässig ist (daß man also a priori wissen kann, daß der Satz „weil A so ist, soll A so sein“ unzulässig ist – a priori, also unabhängig davon, was A empirisch ist). Und darauf haben alle gefunden, daß sich das in ihrem eigenen Denken sich ganz genauso ergibt wie bei Herrn Hume, sie sind nur bisher nicht draufgekommen. (Einwände der Art, daß ein Schuster aufgrund seines Seins als Schuster Schuhe machen können soll, beziehen sich nicht auf das, worum es in dem Hume’schen Argument geht.)
Zu Ihrer Entropie-Theorie: Zum einen verstehe ich nicht, was Sie meinen. „…Auslesekriterium die (schnellstmögliche) Erhöhung der Entropie des Gesamt-Systems.“ Die Superorganismustheoretiker behaupten doch gerade das Gegenteil: Ökosysteme entwickeln sich zu immer höherer Diversität im Sinne der informationstheoretischen Shannon-Formel, und das ist genau die Formel für die Negentropie, nicht für die Entropie.
Abgesehen davon – und ich hoffe, Sie sind jetzt nicht beleidigt, aber über sowas ärgere ich mich nun mal – kommt mir Ihre Theorie in ihrer Anwendung auf Soziales fast identisch vor mit jeder „energetischen Kulturtheorie“ von Ostwald, über die Max Weber so gespottet hat, siehe oben im Artikel. Man nimmt in denjenigen Wissenschaften, die für die einzelnen Bereiche zuständig sind, für die solche Überflieger-Theorien die Basisformel von Entwicklung gefunden zu haben glauben, weil sie ja ohnehin die Weltformel dafür kennen, solche Theorien nur am Rande zur Kenntnis, sie erklären einfach fast nichts. Fast alles, was man an zeitlichen Veränderungen (worauf u. U. sogar der Begriff Entwicklung paßt) in seinem Gegenstandsbereich kennt, läßt sich anders viel plausibler erklären. Um so gieriger wird dergleichen vom weltanschaungssüchtigen Publikum aufgesaugt. – Man muß gar nicht erst über die Erklärungskraft hinsichtlich der Menschengeschichte reden – „fast alle Entwicklung (aller ‘Fortschritt’) dazu dient, dieses Ziel [das in solchen thermodynamischen Begriffen formulierbare] schneller zu erreichen“ – das sollten sie schnell vergessen, schon für die Biologie bringt dergleichen kaum etwas. In meinem Bereich wollen auch manche die Entwicklung von Lebensgemeinschaften („Sukzessionen“) so erklären, aber es bringt nichts und wird darum von denen, die darüber wirklich forschen, auch kaum beachtet; vielleicht schreibe ich mal einen eigenen Blog-Artikel darüber.
@Ludwig Trepl, Not Atiga
Zuerst vielleicht über Ihre Anmerkung an Not Atiga:
„Das stimmt nicht. Da liegt eben der entscheidende Unterschied, den gilt es zu begreifen, daran hängt alles: Ich kann ohne weiteres sagen: Der Wald ist nicht mehr derselbe, denn er besteht nun aus anderen Arten, oder die Gesellschaft ist nicht mehr dieselbe, sie hat nun eine andere „ethnische“ Zusammensetzung.“
Ich denke, dass das Wesentliche hier ist eine Kontinuität einer Einheit. Wenn man ein Organismus auf Mikroebene betrachtet, auch er ist nicht das Selber. Auch hier kommen neue Stoffe, die durch Zellsystem verarbeitet werden, was nicht ohne Folgen bleibt. Auch hier die „ethnische“ Zusammensetzung sich ändert, da die Ankömmlinge (die Moleküle: Hormone, Zellbaustoffe etc.) verändern die Zelle, dadurch wird das System Organismus verändert.
Das Problem in der Gaia-Hypothese ist, dass sie das System ein Lebewesen nennt. Die essentielle Eigenschaft des Lebens ist die Fortpflanzung und das Gen-Gedächtnis. Schon aufgrund dessen ist es kein lebender Organismus. Sehr wohl aber ein selbstorganisierendes Sytem.
Hier kommen wir zum Verständnis der Selbstorganisation. Ich kenne es aus der Synergetik von Haken. Er betrachtet die Selbstorganisation s. z. aus innere Perspektive. Im Sinne das W-W-Netz der Ganzheit agiert in der Umwelt selbsterhaltend. Sie ändert sich, aber die Kontinuität bleibt.
Es kann auch andere Perspektive angenommen werden und die scheint mir in dem Verständnis der Selbstorganisation bzw. Evolution bedeutender zu sein. Auch hier geht es nicht um ausschließlich lebende Systeme. Ein offenes System verändert zwangsläufig seine Umwelt, mit der er konfrontiert und dadurch sich ändern muss. Also seine Wirkung kommt wie ein Echo zurück. So haben die frühen Einzeller die Atmosphäre vergiftet und müssten dann an die sauerstoffreiche Umwelt anpassen. In dem Sinne ist das Leben insgesamt selbstorganisierend. Aber auch das Universum hat die gleichen Züge. Die ersten massenreichen Sterne sind schnell verbrannt, erleben eine Supernova und bilden dadurch Referenzen für künftige Galaxien. Die Umwelt wird mit eine Variation der Elementen angereicht, die die Entstehung der felsigen Planeten, die komplexe chemische Reaktionen u. w. w. erlauben. Die Menschen verändern ihre kulturelle Umwelt. Die nächte Generation wird von dieser veränderte Umwelt erzogen. Ich finde diesen Selbstorganisationsfaktor sehr wichtig.
In einer Deklarierung der (selektiven) Wirkung der Umwelt auf das Leben geht es unter. Vieles in der Umwelt wird aber s. z. selbstgestaltet und die BEdeutung dieser Selbstgestaltung wächst mit der Zeit.
Für mich die Gaia-Hypothese in dem Sinne wertvoll, da sie – eigentlich ungewollt –macht deutlich wie viel Gemeinsames in der Selbstorganisation des Lebenden und Unbelebten gibt.
@Rüdiger Sünner
„Nun, der erfolgreichste und medienwirksamste Philosoph ist Peter Sloterdijk“.
Der erfolgreichste ist er bestimmt nicht, den nehmen nur wenige Philosophen überhaupt zur Kenntnis, kaum einer setzt sich mit ihm auseinander. Er ist nur einer der medienwirksamsten. Aber vielleicht gilt er gerade deshalb unter Philosophen nicht viel, weil er medienwirksam ist. Allein das kann es allerdings nicht sein. Sehr medienwirksam ist auch Jürgen Habermas, und den kann man wirklich als den „erfolgreichsten“ lebenden deutschen Philosophen bezeichnen. Dessen Schreibstil ist übrigens sehr typisch für die heutige deutsche Philosophie.
„Wenn Naturwissenschaftler sich zu Bild, Kunst, Poesie äußern…“
Ich glaube, Sie meinen es anders als Sie schreiben. Wenn sie sich zu Bild, Kunst, Poesie äußern, dann tun sie das entweder nicht in ihrer Eigenschaft als Naturwissenschaftler oder sie geben Unsinn von sich, weil man mit naturwissenschaftlichen Mitteln eben Bild, Kunst, Poesie nicht begreifen kann. Aber Sie meinen vermutlich: wenn sie sich durch oder mit Hilfe von Bild, Kunst, Poesie äußern. Da haben sie wohl recht: die Naturwissenschaftler betrachten das meist nur als rhetorisches Mittel, als Ornament usw.
Bei Kunst und Poesie wird es schwierig, das ist ja doch eine andere Sphäre als die der Wissenschaft. Aber Bilder (auch sprachliche) sind Modelle. „Gaia“ ist ein Modell, wenn man Gaia sagt, ist damit eine Vielzahl von Begriffen und die Verbindung zwischen ihnen mitgedacht, und es ist impliziert, daß man mit diesen den Gegenstand richtig (was nicht vollständig heißt, das widerspräche dem Begriff des Modells) erfaßt hat. Insofern ist der Gebrauch eines solchen Bildes nicht Schmuck, sondern kann eine ganze Theorie in sich schließen, ohne daß die ausgesprochen wird. Und es kann in diesem Sinn das „Haupterkenntnisgeschäft“ tatsächlich darin liegen, das richtige „Bild“ zu finden.
Metaphern /@Rüdiger Sünner
Begriffe und Metaphern müssen oder sollten treffend sein und das Gemeinte in einer Weise veranschaulichen, dass es nicht zu Missverständnissen und Irrtümern über den wahren Sachverhalt kommt. Dann ist nichts gegen deren Gebrauch zu sagen.
Nehmen wir zum Beispiel Begriffe bzw. Metaphern aus der Biologie wie „Evolution“, „Kampf ums Dasein“, „survival of the fittest“, oder „natürliche Selektion“. Noch heute ist man damit beschäftigt, zu erklären, was mit diesen Begriffen und Metaphern eigentlich gemeint ist. Weil sie eben ein falsches oder schiefes Bild von den Naturvorgängen vermitteln.
@ Balanus
Ich weiß nicht, was von Wright dazu sagt, aber ich meine: Das Bewußtsein, Handelnder zu sein, impliziert zweierlei: (1) wir haben Alternativen, d. h. wir können uns zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden, wir sehen uns nicht einfach als Glied in einem deterministischen Zusammenhang, in dem notwendig das geschieht, was eben geschieht, sondern es liegt an uns, ob etwas geschieht. (2) Diese Bewußtsein impliziert, daß es Handlungsfolgen gibt. Denn andernfalls müßten wir uns zwar als „Entscheidende“ sehen (wir bestimmen unseren Willen, entscheiden, was wir wollen), aber nicht als Handelnde (denn aus unserer Willensbestimmung würde ja nichts folgen).
Im Zusammenhang mit der Kausalität in der Natur kommt es meines Erachtens auf folgendes an: Wir unterstellen in der Natur nicht nur, daß auf X immer oder mit bestimmter Wahrscheinlichkeit Y folgt, bzw. das müßten wir gar nicht unterstellen, das können wir beobachten. Aber dann könnten wir, wie Hume, immer noch sagen: Über eine Verursachung sagt uns das gar nichts, es ist nur eine Gewohnheit, so zu reden, weil wir es halt bisher immer oder meist so gefunden haben. Und rein empiristisch gedacht wird man dabei auch stehenbleiben müssen.
Aber wir denken die Sache doch anders: Auf den fliegenden Stein folgt nicht nur mit großer Regelmäßigkeit der Bruch der Fensterscheibe, sondern der Stein „verursacht“ ihn (mit großer Regelmäßigkeit folgt ja auch, so ein Beispiel aus der einschlägigen Literatur, auf den Hahnenschrei der Sonnenaufgang, aber er verursacht diesen nicht). Dieses „Verursachen“ können wir also nicht beobachten, wir beobachten nur die Regelmäßigkeit. Das Verursachen – so daß wir nicht nur sagen können, Y folgt oder folgte zumindest bisher immer oder meist auf X, sondern es erfolgt, „weil“ X erfolgte oder „wegen“ X, „durch“ X „bewirkt“ – denken wir in die Natur hinein aufgrund jener Erfahrung mit uns selbst als Handlungssubjekt: Da wissen wir, daß wir der „Verursacher“ sind, nicht nur z. B., daß mit großer Regelmäßigkeit dem Ereignis Y unser Wunsch vorausgeht, Y möge sich ereignen, oder die Handlungen, die wir dem Wunsch folgen lassen (von denen denken wir ja auch, daß wir sie durch unseren Willen oder ausgehend von diesem bewirken, verursachen).
Wenn man (wie es für Empiristen nicht anders möglich ist) diese These vom Hineindenken nicht akzeptieren will, dann dürfte wohl nur bleiben: Von Verursachung reden wir dann, wenn wir nicht nur die Regelmäßigkeit der Aufeinanderfolge beobachten, sondern den „Mechanismus“ des Wirkens kennen: Einen Mechanismus des Wirkens des Hahnenschreis auf den Sonnenaufgang kennen wir nicht, den des Steins auf die Fensterscheibe aber schon. Doch damit scheint mir das Problem nicht gelöst. Denn auch den Mechanismus können wir nicht beobachten, er besteht aus einer durch immer weitere Auflösung immer weiter vergrößerbaren Vielzahl von Regelmäßigkeiten des Aufeinanderfolgens, die uns jedes Mal wieder vor dasselbe Problem stellen: Sind sie vom Typ Hahn-Sonne oder vom Typ Stein-Scheibe? Vielleicht hat man in alten Zeiten das Hahn-Sonne-Verhältnis auch als Verursachungsverhältnis gedacht. Da spielt nun die Naturwissenschaft ihre Rolle: Sie deckt plausiblere Mechanismen für den Sonnenaufgang auf, und bei diesen Mechanismen sprechen wir dann, ausgehend vom Wissen über unsere eigene Kausalität im Handeln, von Verursachung, der Hahnenschrei gilt nun nur als korreliert mit dem Sonnenaufgang.
Jedenfalls, wenn Sie fragen: „Woher wissen wir, dass es Kausalzusammenhänge gibt?“ , dann nicht deshalb, weil wir davon ein naturwissenschaftliches, empirisches, aus der Naturbeobachtung gewonnenes Wissen hätten, sondern weil wir uns die Natur von vornherein so, als Kausalzusammenhang, denken (müssen). Daher auch die Sicherheit dieses Wissens: Unser Erfahrungswissen über die Natur ist immer fehlbar und wir wissen nicht mit letzter Sicherheit, ob unsere Überzeugung auch tatsächlich ein Wissen ist oder nicht doch Irrtum (wir haben unser Wissen aus bisherigr Erfahrung, die nächste Erfahrung kann es widerlegen), und das ist uns auch bewußt. Aber daß wir denken, was wir denken, das wissen wir trivialerweise. Denn „ich denke X“ impliziert: „Ich weiß (oder kann zumindest wissen), daß ich denke: ich denke X“. Darum sind wir uns auch so sicher hinsichtlich dessen, was wir in die Natur hineindenken, und können es sein: wir denken manchmal etwas als notwendig, und damit wissen wir, daß es notwendig ist – für unser Denken, damit nicht für das “Ding an sich”, wohl aber für die “Dinge für uns”.
Ich bin mir allerdings nicht besonders sicher, daß ich bei dem Gesagten bleiben werde, wenn ich etwas länger darüber nachdenke.
Schön schreiben
“Deutsche Philosophen schreiben nüchtern, trocken und auf Klarheit angelegt.”
Nun, der erfolgreichste und medienwirksamste Philosoph ist Peter Sloterdijk, der sich gerade nicht einfach einem bestimmten Sprachcodex unterwirft.
“Die meisten Ökologen sind Naturliebhaber, die ihr Steckenpferd zum Beruf gemacht haben.”
Es freut mich zu hören, dass als Basis und Antrieb fürs Rationale nicht immer nur automatisch wieder etwas Rationales angegeben wird.
“Schön schreiben können sie aber trotzdem kaum jemals.” Wenn ich von Metaphern spreche, meine ich nicht unbedingt “schönes Schreiben”. Wenn Naturwissenschaftler sich zu Bild, Kunst, Poesie äussern, klingt es oft so, als seien diese Dinge Ornamente, Schmuck, Beiwerk, hübsche Accessoirs, die manchmal zum Haupterkenntnisgeschäft des Begrifflich-Definitorischen oder Mathematisch-Modellhaften dazutreten können. Bilder sind für mich mehr: Vermittler von Erfahrungen, die der Begriff gerade nicht vermitteln kann. Gemäss Adornos schönem Ausspruch, wonach Kunst Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene komplettiert.
@ Rüdiger Sünner Metaphern
…”context of justification” will ich gar nicht antasten, obschon auch dessen Gesetze Grenzfragen einer nur rationalen Perspektive berühren …“
Das ist aber ein anderes Problem als das eines den Laien weniger abweisenden Sprachstils, eine Stils mit „Gefühl, Pathos, Emphase, Vision und Bild“. Gerade solche Grenzfragen werden üblicherweise in hochartifizieller, dem Laien unzugänglicher Sprache behandelt, und zwar weil sie sich, nicht unerwartet, in normaler Sprache oft nicht darstellen lassen. Und vor allem geht es da streng rational zu, und das muß auch sein, geht es doch darum, rational zu erfassen, was die Grenzen der Rationalität sind. Das klassische Beispiel ist Kant: Der schrieb in einer für Laien zugänglichen Sprache und nach Meinung vieler auch sehr schön, doch als er anfing, über die Grenzen der Vernunft nachzudenken, entwickelte er – mit gutem Grund – den den meisten Menschen schwer verdaulichen Stil, den man heute mit seinem Name verbindet. (Aber auch da kommen noch Sätze vor wie der vom „gestirnten Himmel“.)
„Seltsamerweise tun sich dabei deutsche Wissenschaftler schwerer als Kollegen aus dem anglo-amerikanischen Raum. … weil die “Wissenschaftler” der Nazi-Zeit all dies in ihrer Blut-und-Boden-Metaphysik gründlich missbraucht haben?“
Es ist wohl komplizierter. Ein Teil der Erklärung ist das sicher. Ein anderer ist, daß in den angloamerikanischen Ländern die naturgeschichtliche (im Unterschied zur naturwissenschaftlichen, zu „science“) Tradition sich viel länger gehalten hat als auf dem europäischen Kontinent. Ein weiterer Grund ist, daß die Naturwissenschaften und vor allem das von ihnen, was sich zur populären Darstellung eignet (das ist ja nicht die Chemie, sondern sind vor allem Ökologie und Evolutionsbiologie), seit einigen Jahrzehnten eine angloamerikanische Domäne ist. Es gibt einfach so gut wie keine bekannten deutschen Wissenschaftler auf diesen Gebieten, und entsprechend auch nur wenige, die populär schreiben. – Man kann aber, außerhalb (des Umfelds) der Naturwissenschaften, auch mal Deutschland mit Frankreich vergleichen. In der Philosophie, vor allem der Kultur- und Gesellschaftsphilosophie, sind französische Philosophen meist zugleich Literaten (Paradebeispiel: Sartre), und oft sind ihre Werke gerade deshalb so schwer verständlich. Deutsche Philosophen schreiben nüchtern, trocken und auf Klarheit angelegt. Das hat zum Teil eigene Wurzeln (z. B. die neukantianische Tradition), zum Teil verdankt es sich aber auch dem angloamerikanischen, positivistischen Einfluß, der seit ca. 30 Jahren bei uns übermächtig geworden ist. Weder so wie Adorno noch so wie Heidegger schreibt hier heute mehr einer.
„Warum betreiben Sie Ökologie? Nur zur Dekonstruktion von Begriffen wie “Landschaft” und “Natur”?“
Nein, natürlich nicht, das hat sich erst im Laufe der Zeit entwickelt. Die meisten Ökologen sind Naturliebhaber, die ihr Steckenpferd zum Beruf gemacht haben. Das war bei mir nicht ganz so, aber teilweise schon. Bei vielen bleibt es so: Ihr Interesse ist nicht anderes geworden, als es zu ihrer Jugendzeit war (schön schreiben können sie aber trotzdem kaum jemals). Viele aber interessieren sich nur noch für mathematische Detailfragen ihrer Modelle.
„Und selbst wenn es nur das [jenes Dekonstruieren; mit dem Begriff sehe ich meine Arbeit aber nicht so recht getroffen] wäre, wäre es mehr als das ‚sinnlose Spiel des Rätsellösens ohne Interesse am Gegenstand’, als das Sie Wissenschaft definieren.“
Zweifellos, viel mehr. Was ich mache, ist das, was in der „normal science“ gerade nicht vorkommt. Und es ist auch nicht so, daß ich die Wissenschaft als sinnloses Rätsellösen definiere, sondern Kuhn charakterisiert so – nun, nicht „die“ Wissenschaft, sondern eben die „normal science“. Das ist höchstens 1/3 aller Wissenschaften, allerdings diejenigen, die als der Prototyp gelten. Also von Kuhn ist das, und ich sage, daß er mit seiner Beobachtung wohl recht hat.
„Und im Urlaub …. Warum soll man all das so rigide von seinem Beruf trennen?“
Man muß da unterscheiden zwischen Wissenschaften, deren Gegenstände in der Alltagswelt überhaupt nicht vorkommen und wo es für die Wissenschaft auch nichts bringt, eine Verbindung zur Alltagswelt zu halten, und solchen, deren Hauptgeschäft darin besteht, lebensweltliche Probleme in wissenschaftliche zu transformieren (und damit oft wiederum in die Lebenswelt zu wirken). Das sind vor allem Sozialwissenschaften im weitesten Sinn. Beispielsweise hängt die Qualität einer typischen sozialempirischen Studie (Umfragen …) zu 90 % nicht vom Wissen der Wissenschaftler über statistische Methoden ab, sondern von ihrer Lebensklugheit und Lebenserfahrung. Das fällt jedem sofort auf, der einmal so eine Studie gelesen hat. Wem diese Klugheit und Erfahrung fehlen, der holt aus dem statistischen Material nur Plattheiten heraus und merkt auch nicht, daß fast alles, was er glaubt, mit den ausgefeiltesten modernen Methoden hieb- und stichfest nachgewiesen zu haben, sich auch ganz anders deuten ließe – weil er eben vom Leben nichts versteht. Und er merkt auch nicht, daß er seine Untersuchung von vornherein ganz anders hätte aufbauen müssen, wenn sie etwas bringen soll. Wichtig ist z. B. ein Riecher für soziale Differenzierungen. Der wissenschaftlich versierte Stümper klassifiziert z. B. die von ihm untersuchte Population nach dem Einkommen, da bekommt man exakte Daten. Wer sich im Leben auskennt, weiß aber, daß eine im Schrotthandel verdiente Million sozial bei weitem nicht so viel zählt wie eine im Kunsthandel verdiente. Die Fragen und Aufgaben, die sich hier stellen, sind aber nur zum kleineren Teil solche der sprachlichen Darstellung.
@Ludwig Trepl
Gemeint war ein Mittelding, insofern habe ich den Kontext zu stark mitgedacht. Es ging mir um Modelle, die in einem Bereich Anknüpfungspunkte finden – auch wenn ich durchaus glaube, dass diese den meisten Theorien nur scheinbar fehlen. Kurz: Soweit es eine gewisse Übereinstimmung gibt (behauptet wird), soweit scheint es mir immer sinnvoll, sowohl die Übereinstimmung als auch das Trennende zu hinterfragen, um ein mglw. Übergeordnetes zu finden.
Ich meinte beides, weil es mir zusammenhängt. Evolution in der Chemie hat erst zur Biologie geführt – und die Biolgie gehört zur Evolution der Chemie. Dabei würde ich sogar noch weiter gehen, dass nämlich schon die ‘Evolution’ der Physik für beides die Grundlage ist. Und dann ist aller Auslesekriterium die (schnellstmögliche) Erhöhung der Entropie des Gesamt-Systems. Man muss dabei nicht einmal den Entropie-Begriff erweitern, um zu zeigen, dass fast alle Entwicklung (aller ‘Fortschritt’) dazu dient, dieses Ziel schneller zu erreichen – ohne den Menschen wären die Fossilien immer noch diese und nicht ungerichtete Wärme und ohne die ‘egoistische’ westliche Welt wäre es auch langsamer gegangen etc.
Diese Perspektive ist zunächst ernüchternd – aber nicht unbedingt deprimierend, auch weil sie den (Un)Sinn vielen politisch motivierten Verbesserunghandelns aufzeigt… Und das ist dann auch der unmittelbare Nutzen solcher Verallgemeinerung – wir könnten relativ direkte Schlüsse auch für viele andere Wissenschaften ziehen, etwa auch Soziologie oder Politik (und die sind dann oft näher an der Realität als manch aktuelle Wissenschaft).
Jein – denn man kann es so wie vorgeschrieben für die Evolutionstheorie. Damit bleibe ich bei der Notwendigkeit funktionaler Beziehungen – nur sind eben auch Beziehungen ohne aktiven Austausch funktional (wir wissen das etwa für die Atome oder auch Moleküle). Und eine solch funktionale Beziehung besteht auch innerhalb eines Steines wie innerhalb der Aggregate. Und diese ‘räumliche’ Nähe ist sehr funktional – führt sie doch zur Festigkeit des Steines etwa und wohl auch zu einer gewissen Abschottung der Aggregate.
Und gerade unter der obengenannten Prämisse der Entropie ist das schon sehr viel, was uns diese Theorie dann in allen Fällen bringt. Denn jeder (Super)Organismus entsteht dann nur, wenn bereits seine Entstehung die Gesamtentropie erhöht. Und jeder (Super)Organismus ist dann nur solange funktional, wie er als Gesamtheit mehr für die Entropiererhöhung insgesamt leisten kann als seine Teile es allein im aktuellen Umfeld könnten. Und wie wundersam kann man dann plötzlich auch mit solchen Superorganismen gut leben, die gewisse Ausläufer haben – denn man kann sie an ihre Hauptfunktion für die Gesamtentropie andocken; theoretisch jedenfalls und für gewisse Zeiten, denn das kann sich wandeln und sich ein Teil dann etwa abspalten. Und damit kann man eine ganze Menge sinnvoller Modelle bauen.
Und dann kann man gewissermaßen auch die Unterscheidung zwischen Leben und Nichtleben erübrigen – oder die Frage nach einem gewissen Tod auf Alles beziehen. Lebewesen sind dann nur sehr effiziente Entropie-Erhöher – und sie sind umso lebendiger umso effizienter sie das tun. Und sie sterben, wenn sie ihre Effizienz drastisch verringert (das passt sogar – obgleich fernab aller Ehtik – zu einigen Diskussionen um den Todeszeitpunkt von Menschen). Man müsste da noch einiges definieren und ausdifferenzieren, aber grosso modo klappt das.
Jetzt sind wir wohl hierin einig, auch wenn wir lange Umwege brauchten: Vielleicht machen wir die Zuschreibung notwenigerweise – aber wir MACHEN sie. Um mehr ging es mir nicht, denn dann können wir sie mit gewisser Übung auch für Anderes machen. Sprich: Wofür wir Identität annehmen, das ist variabel, also überall frei definierbar.
Und diese Freiheit muss das Denken dann beachten – also ist es reine Frage der Definition, ob und welche Lebewesen, Organismen oder Systeme für uns identisch sind.
Das sehe ich anders. Wer gar keine Ahnung hat, dürfte kaum etwas beitragen können (obwohl auch Irrsin zu klugen Gedanken anregen kann). Nur gibt es gerade bei der Philosophie keinen einzigen Menschen, der gar keine Ahnung hat. Alle anderen können sich Teile selbst erarbeiten und sie sind dann vielleicht sogar intelligenter als die darin Studierten. Es gibt da durchaus Beispiele: etwa den Mathematiker Sriniwasa Ramanujan, Teile seiner Aufzeichnungen werden erst heute überhaupt verstanden – nach fast 100 Jahren!
Das eigentliche Problem ist dann auch an diesem Beispiel nachvollziehbar – wer nicht klassisch studiert hat, der denkt nicht klassisch, leitet nicht klassisch ab, formuliert nicht klassisch. Und der kann dann den klassisch Denkenden seine Gedanken auch kaum vermitteln, sind sie ihm doch einfach da – während andere sie nachvollziehen müssen. In der Mathematik kann man dieses Da-Sein noch schätzen, es ist ja relativ abstrakt nachprüfbar. Aber Gedanken müssen nachdenkbar formuliert werden – und dazu müssen sie in jene Sprache gebracht werden, die klassisch Studierte gebrauchen. Wem sie nicht nachdenkbar sind – dem sind sie Unsinn, allenfalls nicht ganz gewisser Unsinn (aber das waren auch Mathematiker, die dies nach Ihren Angaben schrieben).
Da muten Sie der Zelle aber Einiges zu, aus meiner Sicht Unmögliches. Denn Komplexität kann ein autopoietisches System nur insofern internalisieren, wie es dazu die Kapazität (= Komplexität) hat. Wenn aber die Zelle den wirklichen ‘Willen’ des Superorganismus Mehrzeller erschließen will, dann müsste sie ähnlich komplex wie dieser sein – woran es ja mangelt. (Darum können wir auch den Willen des Staates nicht bei irgendeinem Vertreter nachfragen – kein Einzelner, auch kein Repräsentant kann diesen je kennen. Allenfalls kann der Repräsentant seinen Willen apodiktisch als den des Systems setzen – oder wir können uns dem Willen durch zahlreiche Beobachtungen annähern.)
Insofern war meine Kritik an Luhmann auch nicht ganz korrekt. Ich bezweifle nicht die Erforderlichkeit einer gewisses Selbstabgrenzung für autopoietische Systeme, sondern die Erkennbarkeit dieser Abgrenzung. Wenn wir diese aber (ob unserer zu geringen internen Komplexität) nicht (immer) erkennen können, dann ist die Existenz einer Abgrenzung auch kein sinnvolles empirisches Kriterium mehr.
Und dann folgt daraus, dass wir jedenfalls bei Zusammenschlüssen vorsichtig sein müssen, die potentiell komplexer sind als wir. Da aber alle Zusammenschlüsse (nach unserer überwiegenden bisherigen Erfahrung) aus Atomen aufgebaut sind – dürfte die Anzahl der Atome ein Hinweis sein. Aber nicht absolut, sondern vielmehr im Hinblick auf die Anzahl der damit möglichen Beziehungen. Beim Bleistift bin ich darum bei Ihnen – bei der Biozönose nicht mehr, dort ist zuviel ‘Leben’ im Spiel, dort sind die Verknüpfungen zu zahlreich und zu flexibel. Diese sehe ich darum als lebend an und kann mir sogar Bewusstsein vorstellen, obwohl es für letzteres auch ein Widerspruchs-Kriterium gibt: Die Beziehungen innerhalb der Biozönose sind weniger intensiv als innerhalb unseres Gehirns – obwohl dort vielleicht die Anzahl der Teile wieder ein andersgerichtetes Kriterum ist?
In der Konsequenz des Vorangesagten werden Sie vielleicht meine Einwände dagegen besser verstehen können. Es sind in der Konsequenz der Systemtheorie zwei, wobei ich immer auch die philosophienahen Gründe mit anführen will.
Unser subjektives Denken kann uns nie wirklich zugänglich sein. Denn soweit ich über das Denken nachdenke wird das Denken zur Erscheinung, die ich empirisch untersuche. Es gibt also auch da den Unterschied zwischen dem Ding an sich und dessen Erscheinung – und Sie schrieben das selbst, als Sie formulierten: Das ist aber erst mal nur die Welt für mich, denn ich erhalte dieses Wissen ja durch Reflexion [=Denken] auf mein subjektives Denken.
Das muss auch systemtheoretisch so sein, denn ein System, das sich selbst ganz reflektiert ist unmöglich. Kein System kann so komplex sein, dass es sich selbst in seiner basalen Komplexität (dem Denken) repräsentiert. Mit jedem Versuch der Reflexion auf das Basale führt es nur eine neue basale Ebene ein, die es ihrerseits reflektieren müsste. (Ich lasse hier bewusst unbeachtet, dass ich davon ausgehe, dass auch bewusstes Denken zu großen Teilen unbewusst sein muss.)
Noch weniger erkennbar ist uns aber das kollektive Denken. Denn auch hier wird das Denken der Anderen dem Untersuchenden zu einem Ding von dem er nur Erscheinungen untersuchen kann. Und diese Erscheinungen sind noch mehr vom Ding an sich entfernt als dieses Ding ja nirgendwo erscheint, sondern nur Abbilder von ihm. Denn Denken kann niemand kommunizieren, sondern nur Gedanken. Und wie der Untersucher daraus eine Denkart konstruiert, das bleibt sein Geheimnis – denn auch er kann nur deren Ergebnisse kommunizieren. Also nur wieder Gedanken formulieren (dort liegt ein weiteres Problem, siehe Sprachwissenschaft) und diese Gedanken dem Anderen zur Prüfung vorlegen. Der Andere kann aber nur prüfen ob er im Denken zu ähnlichem Gedanken kommen würde.
Das muss auch systemtheoretisch so sein. Denn einerseits ist das kollektive Denken nur ein Produkt der verschiedenen individuellen Denkweisen – und das kann dann ganz andere Formen annehmen. Vor allem aber ist es dem individuellen Denken gar nicht direkt zugänglich – und wird ob des Komplexitätsproblems auch nie vollkommen zugänglich sein. Aber schon bei zwei Personen ist die andere immer nur Teil der Umwelt und ist der ersten immer nur die Reaktion der zweiten oder deren Selbstreflexion zugänglich. Und auch die immer nur nach Auswertung in Denkstrukturen der ersten Person.
Darum gibt es kein formuliertes oder formulierbares Aprioi. Und darum auch letztens mein Erfahrungsimperativ – wir können nur unsere Repräsentationen immer weiter ausbauen, um möglichst viele Ergebnisse anderer Repräsentationen immer besser zu verstehen.
@Noït Atiga
„Aber man kann mit dieser ‘Weisheit’ alle Modelle als unvollständig ansehen – und als Teilaspekte einer umfassenderen Theorie.“
Ohne Zweifel. Alles Wissen über die Welt ist fallibel. Aber es ist eine Sache, zu behaupten (hier kann man durchaus sagen: zu wissen), daß alles vermeintliche Wissen möglicherweise falsch ist, alle Modelle notwendig nur(unvollständig (das liegt im Begriff des Modells, das einzige vollständige Modell wäre identisch mit der Wirklichkeit), eine andere Sache, mit diesem Argument alles Wissen für gleich richtig und gleich falsch zu erklären, alle Modelle für gleich unvollständig. Das können Sie in gewisser Weise machen, aber dann ginge es um das „Ding an sich“, von dem definitionsgemäß alles vermeintliche Wissen gleich, sozusagen unendlich weit entfernt ist. Doch darum geht es hier nicht (und der Begriff des Dings an sich paßt ja auch nicht in die empiristische Philosophie), es geht um naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Modelle über die empirische Welt. Und das ist etwas anders. Die Behauptung, der Brocken sei höher als die Zugspitze, ist falsch (wobei selbstredend vorausgesetzt ist, daß alle Beteiligten den gleichen Begriff von Höhe benutzen). Und eine Stecknadel ist kein gutes Modell für die biologische Lebensgemeinschaft eines Sees, eine Menschengesellschaft schon ein besseres. – Wie Sie argumentieren, läuft das darauf hinaus, daß wir einfach nichts wissen und nicht wissen können und alles gleichermaßen möglich ist. So denken Sie aber nicht wirklich. Wir können durchaus Wissen haben über die Welt und dabei wissen, daß das ein Wissen über unsere Welt ist, d. h. nur relativ zu unserem Erkenntnisvermögen Wissen ist.
„…Evolutionstheorie … man kann diese etwa mit gewissen Modifikationen auch auf die Ebene der Chemie hinunterbrechen. Warum sollte das prinzipiell nicht auch für die Superorganisationstheorie auf Steine oder Aggregate gehen?“
Die Evolutionstheorie auf die Ebene der Chemie herunterbrechen heißt entweder, biologische Vorgänge auf die Ebene der Chemie zu reduzieren. Physikalisten meinen, daß das geht, andere meinen, daß das nicht geht. Aber ich glaube, das meinen Sie nicht, sondern, daß es im Bereich der Chemie, nicht nur der Lebewesen, eine mittels der Selektionstheorie erklärbare „Evolution“ gibt. Das geht natürlich prinzipiell, zumindest wenn man die Selektionstheorie so formuliert, daß Organismen darin nicht vorkommen. Manche meinen, daß das möglich ist, andere nicht. Die Superorganismustheorie kann man aber nicht auf Steine herunterbrechen, weil Steine so definiert sind, daß sie keine Organismen sind oder enthalten, also können Systeme aus Steinen auch keine Superorganismen sein. Und Aggregate sind so definiert, daß zwischen den Teilen keine Beziehungen bestehen außer denen der räumlichen Nähe; die Superorganismustheorie erfordert aber funktionale Beziehungen. Es geht also aus begrifflichen Gründen nicht, d. h. man kann es vor aller Empirie ausschließen. (Man kann ja jede Theorie über die Welt sowohl empirisch als auch durch Untersuchung auf logische Konsistenz prüfen; hier geschieht letzteres.)
Damit müssen Sie Ihren Einwand aber noch nicht als widerlegt betrachten. Man kann mindestens zwei Rettungswege versuchen:
(1) Ihre Aussage bezieht sich nicht auf Steine oder Aggregate als Typ/Klasse (da ist, wie gesagt, begrifflich-logisch ausgeschlossen, daß die Superorganismustheorie dafür paßt), sondern bestimmte Steine oder bestimmte Aggregate, d. h. etwas, was wir bisher dafür gehalten haben. Da ist es natürlich prinzipiell möglich, daß sich eines Tages herausstellt, daß wir uns geirrt haben, daß das Aggregat gar keines ist, sondern es doch funktionale Beziehungen gibt, daß der Stein doch kein Stein ist, sondern vielleicht eine Lebensgemeinschaft aus Organismen einer uns bisher unbekannten Art von seltsamer Beschaffenheit. Und es wäre sogar möglich, daß sie einen Superorganismus von der Art bilden, wie es z. B. ein Mehrzeller ist.
(2) Unsere Vorstellungen von Leben und Lebewesen ändern sich vielleicht kulturell bedingt grundlegend. Das ewige (oder, säkularisiert, das möglichst lange und gute) Leben muß ja nicht höchstes Ziel bleiben. Oder, in der Formulierung von Eisel: Die Zeit könnte enden, in der es – wie säkularisiert auch immer – „gilt, in der Nachfolge Christi selbstverantwortlich das Leben zu gestalten, nicht eines glanzvollen Todes zu sterben wie in den archaischen Gesellschaften. Bis der feierliche Tod und das Zusammenleben mit den Geistern der Toten wieder die obersten Maßstäbe eines würdevollen Daseins abgeben werden, oder bis zu einer ganz anderen, dritten Alternative, wird wohl das Leben der Problemhorizont der Biologie und der Organismus der Grundgedanke der Ökologie bleiben.“ Das dürfte ganz auf Ihrer Linie liegen, aber Sie sollten sich nicht zu früh freuen: Durch so eine paradigmatische Wende muß das bisher Geltende nicht falsch werden (siehe Ludwik Fleck). Man sagt ja, die aristotelischen physikalischen Vorstellungen über das Fallen der Steine waren keineswegs falsch, weil im aristotelischen Koordinatensystem Begriffe wie Erde oder unten und oben etwas anderes bedeuten als im modernen, und in seinem ist und bleibt es richtig, was Aristoteles über das Fallen der Steine sagt. Eine Stein wird darum kein Superorganismus werden, wenn unsere Vorstellungen von Leben sich einst so geändert haben werden, daß auch anderes als das, was wir heute Lebewesen nennen, dann eventuelle Lebewesen genannt werden. Für das, was wir mit „Stein“ meinen und was wir mit „Organismus“ meinen, bleibt wahr, daß ein Stein kein Superorganismus sein kann. Und noch was: Auch wenn es kulturell bedingt ist, ob wir den Tod fürchten oder feiern und demzufolge Begriffe wie „funktional für das Lebewesen“ kulturell bedingt sind: Ob das Wissen um den Tod überhaupt auch relativ zu den verschiedenen Kulturen von Menschen ist oder nicht vielmehr konstitutiv dafür ist, daß es überhaupt Kultur und damit kulturrelative Vorstellungen von dem gibt, was „Lebewesen“ im Einzelnen ausmacht, ist eine ganz andere Frage. Mir scheint es eine naheliegende Vermutung, daß der Unterschied lebende/nicht-lebende Natur von allen Wesen gemacht werden muß, die um den Tod wissen, und das sind alle, die „Kultur“ haben.
„Und anders als Sie meinen ist die Identität ein Untersuchungsgegenstand der Psychologie“
Ja natürlich, aber nicht diejenige Identität, von der ich immer rede, die kann in keiner empirischen Wissenschaft Gegenstand sein. Natürlich kann das kleine Kind in dem verkleideten Onkel wirklich den Nikolaus sehen, so wie auch ein Erwachsener in dem Doppelgänger von Herrn Müller für den wirklichen Herrn Müller halten kann. Aber darum geht es nicht im Entferntesten. Sondern darum, daß er dann eben in dem vermeintlichen Herrn Müller eine Person sieht, die als Person absolut identisch ist mit der Person, die eben dieser vermeintliche Herr Müller gestern oder vor einem Jahr war, auch wenn „beide“ empirisch überhaupt nicht mehr identisch sind. Denn was wir die Identität einer Person nennen, hat nichts mit der Frage der empirischen Identität zu tun. Es ist eine Zuschreibung, aber eine, die wir notwendig machen.
„Und diese [ die Gedanken der Identität wohl] sind eben nicht einfach so da, sondern müssen sich in der Kindheit entwickeln.“
Das hat noch nie ein Philosoph bestritten. Natürlich muß man erst Denken lernen, Embryonen können das noch nicht, und körperliche Voraussetzungen dazu müssen sich entwickeln. Und man kann psychologisch-physiologisch untersuchen, wie das zugeht. Aber das ist eine ganz andere Frage als die, die sich bei der Reflexion über das Denken stellt.
„Denn sie [Superorganismustheorie und Gegenposition] sind alle stimmig – aber nur in einer bestimmten philosophischen Sicht.“
Das stimmt in gewisser Weise. Philosophisch kann man in sich stimmige „superorganismische“ Kosmologien aufstellen. Das Paradebeispiel ist die Monadologie von Leibniz (da ist nur die Frage, ob so etwas ohne den Begriff Gott, ohne den ja die heutigen Superorgnismustheoretiker auskommen wollen, noch aufgeht). Aber hier geht es um Naturwissenschaft. Es geht um naturwissenschaftlich entscheidbare Fragen wie die, ob ein bestimmtes Interaktionssystem die von allen Beteiligten geteilte (wenn auch nicht allen immer präsente) Definition von Organismus erfüllt oder nicht.
„’Sie werden garantiert nicht auf Gedanken kommen, die in dieser Kritik nicht bereits gedacht wurden.’ (Vielleicht – aber wenn es so garantiert ausgeschlossen ist, warum denken wir dann überhaupt noch? Warum gibt es dann noch Philosophie und Philosophen???“
Philosophie und Philosophen gibt es noch und zwar sinnvollerweise, weil die Philosophie nie abgeschlossen ist. Ich meinte etwas viel Schlichteres als Sie wohl vermuten: Wir, Sie und ich, sind keine Philosophen. Alle Gedanken, auf die wir kommen, hat schon einer gedacht, eine Ausnahme ist extrem unwahrscheinlich. Wir können so gut wie sicher sein, daß wir nie auf einen neuen Gedanken kommen – außer einen wirren. Nichts von dem, was ich mir selbst ausdenke, wird einem Philosophen mehr als nur ein müdes Lächeln entlocken. Das beste, was mir passieren kann, ist: Ja, das gibt es, das wird von Descartes und von Russel vertreten und man kann, obwohl es umstritten ist, nicht sagen, daß es definitiv Unsinn ist. Um auf einen neuen Gedanken zu kommen, muß man in der Philosophie wie in der Einzelwissenschaft die Sache wirklich studiert haben. Als Laie einen philosophisch akzeptablen neuen Gedanken hervorbringen zu wollen ist nicht weniger aussichtslos als die Hoffnung, als Klempner oder Konditor einen Beitrag zur Atomphysik leisten zu können. Wir müssen bescheiden sein, wir können nur zur Kenntnis nehmen, was die Philosophen gedacht haben, aber da sie streiten, können wir nicht einfach einen Stand des Wissens übernehmen, sondern müssen uns in dem Streit mehr oder weniger verorten. Mehr ist nicht drin. (Es gibt, sagt man, eine berühmte Ausnahme: Jakob Böhme.)
„Da stimme ich mit Luhmann nicht überein.“
Dann lehnen Sie aber die Autopoiesistheorie überhaupt ab, denn da geht es um das Kernstück; und ich dachte, der stimmen Sie zu.
„Und uns als Menschen sind eben nur unsere Perspektiven eingängig.“
Das ist in der Tat ein Ergebnis der Autopoiesistheorie (wie auch der Transzendentalphilosophie). Aber in diese Theorie selbst geht nichts spezifisch Anthropologisches ein (so wenig wie in die Theorie Kants über „Vernunftwesen“), sondern die Autopoiesistheoretiker reden über Systeme im allgemeinen. Das muß man strikt unterscheiden.
„Und auch die Repräsentation des Vielzellers wäre der Zelle nicht zugänglich – sie würde deren Existenz also verneinen.“
Nein, müßte sie nicht. Das ist theorieimmanent gar kein Problem. Die konservative Staats- und Gesellschaftstheorie denkt das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft genauso wie das der Zelle zum mehrzelligen Organismus (gewisse Institutionen sind die Organe; man sagt ja auch „Staatsorgane“). Der Einzelne kann hier aber durchaus wissen, was das Ganze „will“. Es gibt Repräsentanten des Ganzen, z. B. Väter oder Könige, die kann er fragen, und der Einzelne kann durch seine, wie man es da nennt, „vernehmende“ Vernunft in der Gemeinschaft, der er angehört, lesen, was deren Wille ist, indem er die Gemeinschaft in der richtigen, eben „vernehmenden“ (nicht hochmütig konstruierenden und kritischen) Weise betrachtet. Die denkende Zelle könnte durch Betrachtung der Entwicklung um sie herum den „Willen“ des Superorganismus Mehrzeller erschließen.
„Deren [der Biozönose] Bewusstsein ist uns unvorstellbar, denn es überschreitet gewaltig unseren gewöhnlichen Horizont“.
Das ist wieder das Problem von oben: Wir können sicher sein, daß nichts von unserem Wissen über die Welt völlig sicher ist. Aber haben wir auch nur den mindesten Grund dafür, von einem Bewußtsein der Biozönose überzeugt zu sein? Natürlich, ich kann nicht mit letzter Sicherheit wissen, daß der Kugelschreiber in meiner Hand kein Bewußtsein hat; vielleicht ist er in Wirklichkeit ein verzauberter Prinz oder ein getarnter Goldfisch, und von denen wissen wir ja nicht völlig sicher, daß sie kein Bewußtsein haben, wir haben nur nicht den leisesten Hinweis darauf.
Aber, wie gesagt, völlig sicheres Wissen ist das nicht. Es gibt jedoch auch völlig sicheres Wissen: das apriorische. Ich habe Ihnen neulich ein Zitat von Keil gegeben, in dem steht, warum die Empiristen/Naturalisten in ihrer Ablehnung des Transzendentalismus immer falsch verstehen, was mit apriorischem Wissen gemeint ist. Aber das ist offenbar nicht angekommen, und hier liegt wohl der Kern dessen, daß Sie nicht verstehen können, was ich meine (ich kann Sie umgekehrt sehr wohl verstehen, denn ich war mal Naturwissenschaftler und habe in meinen ersten philosophischen Versuchen weitgehend so gedacht wie Sie); bzw. warum die angloamerikanische, in empiristischer Tradition stehende Philosophie die continental philosophy (der Kontinent hat aus ihrer Perspektive ungefähr die Größe und Bedeutung eines amerikanischen Bundesstaates) grundsätzlich falsch versteht: Sie glauben, das apriorische Wissen sei ein (von einem überweltlichen Standpunkt aus gewonnenes) Wissen über die Welt. (Bei Kant gibt es viele Formulierungen, in denen das apriorische Wissen darum gar nicht als Wissen bezeichnet wird, wo er also „Wissen“ für Wissen über die Welt reserviert und das Apriorische nur Bedingung für Wissen ist.)
Aber das apriorische Wissen (ich nenne es jetzt Wissen) bezieht sich nicht auf die Welt; über die wissen wir ohne Erfahrung schlechterdings nichts (damit z. B. auch nichts darüber, wie sich das Denken in der Zeit entwickelt, das betonen Sie ja immer wieder). Sondern es bezieht sich aufs Denken selbst. Ich denke „in Grönland gibt es Königstiger“. Das ist kein sicheres Wissen, der Gedanke könnte falsch sein. Sicher ist aber, daß ich diesen Gedanken denke, wenn ich ihn denke. Und ich kann reflektierend untersuchen, was beim Denken vor sich geht. Dann komme ich z. B. darauf, daß all meine Urteile sich darin unterscheiden lassen, ob sie Faktisches, Mögliches oder Notwendiges behaupten und daß ich mir bei allem in der Welt denken muß, daß es einen Grund hat (und daß die Welt, wie sie für mich ist, nie anders sein, d. h. daß die Welt mir nicht anders „erscheinen“ kann als in eben den Formen, die diese Prinzipien meines Denkens vorgeben). Das ist aber erst mal nur die Welt für mich, denn ich erhalte dieses Wissen ja durch Reflexion auf mein subjektives Denken. Um herauszufinden, ob das auch für unser Denken und damit für die Welt, wie sie für uns ist, gilt, teile ich diese Ergebnisse meiner Reflexion auf mein Denken (die absolut sicheres Wissen liefern kann, denn mich kann zwar Dummheit oder Konzentrationsmangel, nicht aber ein systematisches Hindernis wie beim Denken über die Welt, hindern, auf das Richtige zu kommen: es ist hier keine Unterscheidung zwischen Ding an sich und Erscheinung möglich) anderen mit. Die können dann sagen, ob das bei ihnen auch so ist oder nicht, das ist das einzig mögliche Verallgemeinerungsverfahren. Auf diese Weise kommt man dann dahin, daß es bezüglich jener Modalkategorien bei niemandem anders ist, daß aber doch manche meinen (ist jetzt frei fantasiert), der Satz vom Grund sei bei ihnen nicht als notwendig reflexiv erkennbar. So kommt es, daß man über Kategorientafeln überwiegend einig ist, an manchen Punkten aber doch streitet. – Wir kommen so zu einem sicheren Wissen (das nichts, aber auch gar nichts mit Psychologie zu tun hat) über unsere Denk-Voraussetzungen unseres Wissens über die Welt und eben dadurch auch zu einem sicheren Wissen darüber, daß und warum unser Wissen über die Welt nicht sicher sein kann. Aber es sind unsere Denkvoraussetzungen, ob sie auch für einen anderen möglichen Verstand gelten, wissen wir nicht.
@Ludwig Trepl, 20.02.2013, 18:02
Woher wissen wir, dass es Kausalzusammenhänge gibt? Sie schreiben, Georg Henrik von Wright aus der Erinnerung dem Sinne nach zitierend:
»Wir entscheiden uns, X zu tun und nicht Y, und dann tun wir X. Wir wissen dann, daß wir das getan haben, und daß damit daß wir die Ursache von X sind.«
Das klingt etwas merkwürdig in meinen Ohren. Demnach hätte die Erkenntnis: „Ich bin die Ursache meiner Handlungen“, zu der Erkenntnis geführt, dass es in der Natur Kausalzusammenhänge gibt.
Verhält es sich nicht vielmehr so: Wenn wir uns entscheiden, X zu tun, dann folgt Y, und nicht Z. Wir wissen dann, dass auf X in der Regel Y folgt und dass unser Handeln X die Ursache von Y ist.
Also nicht, dass wir wissen, dass wir Handelnde sind, ist das Entscheidende, sondern dass unsere Handlungen (in der Natur) Folgen haben.
(Oder impliziert, Handelnder zu sein, bereits, dass es Handlungsfolgen gibt?)
Begeisterung
Den geheiligten “context of justification” will ich gar nicht antasten, obschon auch dessen Gesetze Grenzfragen einer nur rationalen Perspektive berühren, etwa, warum die in unserem Hirn entstandene logische Symbolsprache in der Lage ist, rationale Gesetzmässigkeiten draussen im Kosmos abzubilden (oder zu spiegeln??)
Mir geht es um mehr Begeisterung in der Vermittlung von Wissenschaft, auch sprachlich, wozu Metaphern und literarischer Stil beitragen können. Seltsamerweise tun sich dabei deutsche Wissenschaftler schwerer als Kollegen aus dem anglo-amerikanischen Raum. Herrscht hier immer noch Angst vor Gefühl, Pathos, Emphase, Vision und Bild, weil die “Wissenschaftler” der Nazi-Zeit all dies in ihrer Blut-und-Boden-Metaphysik gründlich missbraucht haben? Haben wir deshalb in Deutschland mehr Dekonstrukteure als Visionäre in der Wissenschaft?
Richard Dawkins will die viele “obskure Magie” aus Esoterik, Religion und Aberglauben vertreiben, um an deren Stelle die “aufgeklärte Magie” der Wissenschaft zu setzen. Ihm geht es nicht um kommerziellen Nutzen wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern um ihre Fähigkeit, uns in Bewunderung und Staunen zu versetzen. Darum geht es auch Leuten wie Jane Goodall, Rupert Sheldrake, Simon Conway Morris, Sean Carroll, Bruce Lipton, Stephan Harding, Stuart Kauffman, Brian Goodwin, Arthur Zajonc, Steven Weinberg, Brian Swimme, Lawrence Krauss, Lynn Margulis, Carl Sagan etc. Von deren Sprache lasse ich mich gerne begeistern und zweifle nicht an der Verletzung der Gesetze des “context of justification”.
Warum betreiben Sie Ökologie? Nur zur Dekonstruktion von Begriffen wie “Landschaft” und “Natur”? Und selbst wenn es nur das wäre, wäre es mehr als das “sinnlose Spiel des Rätsellösens ohne Interesse am Gegenstand”, als das Sie Wissenschaft definieren. Und im Urlaub werden Sie auch nicht ihr Landschaftserleben dauernd dekonstruieren, sondern angerührt, begeistert, verzaubert von bestimmte Regionen dieser Erde sein. Warum soll man all das so rigide von seinem Beruf trennen?
Ich denke, das viele Wissenschaften schon auch Begeisterung für ihren Gegenstand vermitteln wollen, etwa Archäologie (Stonehenge, Göbekli Tepe, die Himmelsscheibe von Nebra), Ethnologie, Kunstwissenschaften, Germanistik, Musikologie, aber vor allem auch Neurologie, Evolutionstheorie und moderne Kosmologie und Astrophysik. Steven Weinberg spricht von der “Schönheit physikalischer Formeln” als Garant ihrer Wahrheit, Lawrence Krauss bekommt leuchtende Augen bei der Metapher, wir seien “aus Sternenstaub gemacht” und Richard Massey nennt die Spannung zwischen der Schwerkraftwirkung “dunkler Materie” und der Ausdehnungskraft “dunkler Energie”
eine seit Urzeiten tobende “Schlacht zweier kosmischer Giganten”. Warum auch nicht? Da geht es um etwas, was auch den Nicht-Wissenschaftler entflammen kann – und man merkt, warum die Forscher selbst begeistert von ihrer Arbeit sind. Wissenschaft verliert dann ihr Elitäres, Abstraktes, Blutleeres und wird wieder zu dem, was sie einst in ihrer Geburtsstunde einmal war: die staunende Erkenntnis, dass die Natur uns auch denkerische Mittel zur Verfügung gestellt hat,
ins Geheimnis ihres Wirkens einzudringen und bewusst am Wunder eines emergierenden Universums teilzuhaben.
@Ludwig Trepl
Nein, das nicht, soweit es um heutige Erklärung geht. Aber man kann mit dieser ‘Weisheit’ alle Modelle als unvollständig ansehen – und als Teilaspekte einer umfassenderen Theorie.
Wir hatten das schon einmal für die Evolutionstheorie diskutiert – man kann diese etwa mit gewissen Modifikationen auch auf die Ebene der Chemie hinunterbrechen. Warum sollte das prinzipiell nicht auch für die Superorganisationstheorie auf Steine oder Aggregate gehen? Und warum sollte die Superorganisationstheorie nicht der Makro-Aspekt einer allgemeinen Evolutionstheorie sein können?
Und deswegen schreibe ich so vehement gegen kategorische Ausschlüsse, weil sie die Erkenntnis behindern. Sie stellen Denkblockaden auf, wo es viel sinnvoller wäre nur festzuhalten, dass wir heute mit der einen Theorie hier besser vorankommen mit der anderen dort. Dass Begriffe nur recht beliebige Definitionen sind. Die Übergänge sind doch teils schon heute fließend – warum sollten sie es nicht überall sein? In der Physik haben wir doch auch immer mehr scheinbar kategorial verschiedene Erscheinungen und Theorien in größere Theorien einbinden können – ohne Erklärungsverlust, denn die alten Theorien bleiben ja als Spezialfälle ableitbar. Und warum sollte das in allen Wissenschaften neben der Physik ausgeschlossen sein? Warum sollte es für Verknüpfungen zwischen ihnen ausgeschlossen sein?
Dem zweiten Teil stimme ich zu – nur widerspricht er mir dem ersten. Wenn nämlich die Erkenntnisse der Psychologie wenigsten starke Anhaltspunkte dafür liefern, dass jede Identität auch gelernt werden muss – dann muss das die Philosophie zur Kenntnis nehmen und dann kann sie nicht von irgendeiner apriorischen Identität ausgehen.
Und ich sehe bei diesen Aspekt auch nicht nur die Psychologie, sondern nehme diese lediglich zur Kenntnis. Wie auch die Erkenntnisse etwa der Anthropologie und der Linguistik, auf die ich mich in diesem Zusammenhang schon mehrfach bezogen habe wie teils auf Soziologie oder Theologie. Und ich bin überzeugt, dass wir in fast allen mit dem Menschen beschäftigten Wissenschaften ähnliche Anhaltspunkte für die Konstruktion (oder Dekonstruktion, also Relativierung) jeder Identität finden könnten. Dass ich die Psychologie so betonte, das liegt wie ausgeführt an meiner Überzeugung, dass gelernte Denkperspektiven nur durch andere Erfahrung überwunden werden können – und die kann man nunmal bei den Kindern einfacher machen als in den anderen genannten Bereichen.
Und anders als Sie meinen ist die Identität ein Untersuchungsgegenstand der Psychologie – wenn auch eher als Permanenz oder Konsistenz: Und diese sind eben nicht einfach so da, sondern müssen sich in der Kindheit entwickeln. Wenn sich etwa eine Person vor den Augen des kleinen Kindes als Nikolaus verkleidet, kurz rausgeht und als Nikolaus anklopft – dann sieht dieses kleine Kind darin wirklich den Nikolaus. Und erzählt dieser vormals nur verkleideten Person später genau davon als ob sie abwesend gewesen wäre. Das Kind kann die Identität nicht konstruieren, es macht sie nur von der Wahrnehmung abhängig. Und selbst die eigene Identität ist zunächst so labil – Bischof-Köhler zitiert ein Beispiel, wo sich ein (ich meine 4-jähriges) Kind als Tiger zu Karneval verkleidet hatte – und dann an der Tür als Tiger begrüßt wurde, worauf es wütend die Verkleidung von sich riss. Denn es hat sich ob der Ansprache als Tiger gesehen – was es nicht wollte, sondern seine alte ‘Identität’. An all diesen Fällen wird deutlich, dass die Identität eine Konstruktion ist – deren Faktoren von der Umwelt gesteuert werden.
Wer das lieber nur mit Begriffen tun will, kann in der Sprachwissenschaft nachlesen – oder auch bei Wittgenstein. Und wenn wir noch zu anderen Problemen der Identität kommen wollen, dann schauen wir doch bei den Hirnforschern nach – auch dort finden sich zahlreiche Hinweise darauf, dass wir unsere Identität aus der Wahrnehmung konstruieren (etwa die Rubber-Hand-Illusion oder auch die Personen mit defektem Hippocampus, die sich selbst im Spiegel nicht wiedererkennen).
Was konkret die Ökologie angeht, so habe ich auch im Rahmen der Diskussionen hier Verschiedenes gelesen, gerade auch zur Gaia-Hypothese – nur sind mir dort die Argumente nur scheinbar widerlegt, wie auch viele Ihrer Widerlegungen für mich keine sind. Denn sie sind alle stimmig – aber nur in einer bestimmten philosophischen Sicht. Wollte ich nun diese Argumente im Rahmen klassischer Publikation widerlegen – dann würde ich in der Tat einen Großteil der Literatur noch heranziehen. Allerdings müsste daraus dann wohl ein Buch werden…
Vielleicht – aber wenn es so garantiert ausgeschlossen ist, warum denken wir dann überhaupt noch? Warum gibt es dann noch Philosophie und Philosophen???
Und ganz unabhängig von der Einordnung meiner Ausführungen – selbst einige der von mir in Ihrem Blog geäußerten Ansichten bezeichen Sie ja als steile These, diese Gedanken scheinen also nicht nur mir noch nicht anderswo begegnet zu sein. Vielleicht sind sie ja dann doch noch nicht gedacht worden? Gerade weil es mir ja nicht um Verwerfung geht, nicht um Abschluss mit irgendeinem bisherigen Denken der Menscheit, sondern um Zusammenschau und Zusammenbau?
Da stimme ich mit Luhmann nicht überein. Das Problem ist doch die Perspektive aus der etwas abgegrenzt werden soll. Und uns als Menschen sind eben nur unsere Perspektiven eingängig.
Folgendes Gedankenbeispiel: Könnte etwa eine Zelle denken (ein selbstreferentielles System ist sie ja), dann wäre für sie der Vielzeller auch nur zusammengesetzt – wäre nur eine Zusammensetzung, dessen Selbstabgrenzung der Zelle per Definition nicht zugänglich ist. Der sich aus ihrer Perspektive also nicht selbst abgrenzt. Und auch die Repräsentation des Vielzellers wäre der Zelle nicht zugänglich – sie würde deren Existenz also verneinen. Und sie würde die Selbstreferenz dann ebenfalls verneinen.
Genau das tun aber auch wir als Teil einer Biozönose. Deren Repräsentation ist uns nicht zugänglich. Deren Abgrenzung ist aus unserer Perspektive konstruiert. Deren Bewusstsein ist uns unvorstellbar, denn es überschreitet gewaltig unseren gewöhnlichen Horizont. Wir können es nur – aber fernab aller Vorstellbarkeit – so konstruieren wie gewisse physikalische Theorien.
Warum wird das dort akzeptiert – kommt aber in der Philosophie nicht an? Warum behauptet die Philosophie immer eine Kugel könne nicht sein – weil wir ihr im Flatland nicht begegnet sind, weil es für uns als räumliche Zweidimensionaler dort nur Kreise gibt? Warum also leben wir trotz aller Erkenntnis immer noch in einem dem Abbottschen Flatland vergleichbaren Gefängnis?
@ Rüdiger Sünner Metaphern
„Die Frage ist, ob es möglich und wünschenswert ist, dies [die aus persönlichem Erleben oder unserem Denken über uns selbst und die Gesellschaft etc. stammenden Metaphern] ganz aus der Wissenschaft herauszunehmen, sie restlos in eine nicht-intentionale Sprache zu verwandeln?“
Ich glaube auch, daß das nicht möglich ist. Zwar ist es richtig, daß jeder Naturwissenschaft notwendig die Tendenz innewohnt, immer dann, wenn es gelingt, einen intentionalen Begriff durch einen nicht-intentionalen zu ersetzen, dies als ein Erfolg anzusehen (z. B.: „die Vögel fliegen nach Afrika, um dem Winter zu entgehen“ wird ersetzt durch „eine Hormonausschüttung bewirkt, daß die Vögel unruhig werden, wegfliegen, das Magnetfeld der Erde bewirkt, daß sie nach Süden fliegen usw.“).
Die beiden wichtigsten Gründe dafür, daß es letztlich noch nicht möglich ist, scheinen mir diese zu sein:
(1) Es gibt in der Wissenschaft nicht nur den „context of justification“, wo es streng logisch-methodisch zugehen muß („schön“ oder „aufregend“ gilt da nicht als Beweis), sondern notwendig auch den „context of discovery“. In den Naturwissenschaften ist das der Bereich der hypothesenbildenden Phantasie. Da ist schlechterdings alles erlaubt (später, im „context of justification“, wird ja dann die Spreu vom Weizen geschieden). Und das Wichtigste, was da geschieht, ist, daß wir mit Gedankenbruchstücken und Bildern, die wir aus persönlichem Erleben im Verein mit kulturell Eingeschliffenem haben, den Gegenstandsbereich absuchen und uns Ideen kommen lassen. Darwin erlebte die Gesellschaft seiner Zeit als Gesellschaft miteinander konkurrierender Einzelner und sah die „Gesellschaften“ der Tiere – wohl ganz selbstverständlich, ohne zu denken – ebenso; ein Angehöriger eines gemeinsam wirtschaftenden Stammes hätte seine Gesellschaft so nicht erleben können und ihm wäre nie der Gedanke gekommen, daß es in der Natur so zugehen könnte. Das ist aber nur ein extremes und eingängiges Beispiel; es ist, meine ich, bis ins Kleinste überall so.
(2) Etwas viel tieferliegendes: Die grundlegendsten Begriffe der Naturwissenschaft überhaupt stammen nicht aus der „wertfreien“ Naturbeobachtung, sondern sind sozusagen Projektionen von unserem Erleben mit uns selbst oder unserem Wissen von uns selbst aus – sprachwissenschaftlich: Metaphern.
(a) Beispiel: Daß wir überhaupt lebende Wesen von unbelebten Dingen unterscheiden, hat mit unserer Erfahrung des Todes zu tun (das ist eine Erfahrung, die man als vernunftloses Wesen nicht haben kann). Entsprechend dieser basalen Erfahrung teilen wir die Natur ein in das, was sterben kann, und das, was nicht sterben kann; hier habe ich das näher ausgeführt.
(b) Beispiel: Als völlig von intentionalen Begriffen freie Sprache gilt die einer idealen Physik: Die Natur wird als Kausalzusammenhang beschrieben, es gibt kein Handeln aus Absichten mehr, kein Tier flieht, weil es „Angst“ hat usw. Aber Kausalursachen kann man nicht beobachten, wir beobachten nur, daß a auf b folgt, nicht, daß a von b hervorgebracht wird. Woher sind wir aber so sicher, daß das so ist? Georg Henrik von Wright (ein finnischer Philosoph, Amtsnachfolger von Wittgenstein in Cambridge) hat das etwa so erklärt (ich zitiere aus der Erinnerung, da kann einiges falsch sein): Das sicherste Wissen, daß wir überhaupt haben – viel sicherer als jedes naturwissenschaftliche –, ist, daß wir Handelnde sind. Wir entscheiden uns, X zu tun und nicht Y, und dann tun wir X. Wir wissen dann, daß wir das getan haben, und daß damit daß wir die Ursache von X sind. Nur deshalb wissen wir überhaupt von Kausalität, und nach diesem Muster bauen wir die ganze Physik auf: aus einem nicht-naturwissenschaftlichem Wissen über unser „Inneres“ heraus.
Demgegenüber erscheint mir folgendes nicht so wichtig:
„Immerhin ist Wissenschaft ein Prozess, der oft genug mit Intentionen, Antrieben, Wünschen, Emotionen, z.B. Liebe zu einer Tier- oder Pflanzenart beginnt“.
Das hat für solche der alten „Naturgeschichte“ nahe Gebiete wie Ameisen- und Graugansforschung sicher seine Berechtigung. Aber:
(a) Ich habe mal etwas von einem Erziehungswissenschaftler gelesen, da stand, daß die erste Chemiestunde schön und aufregend ist, da kracht es und stinkt und zischt. Spätestens nach der dritten Stunde ist es damit vorbei. Das entspricht meiner Erfahrung. Wenn die lebensweltlichen Begriffe in die abstrakten der Chemie umgewandelt sind, interessiert, wenn überhaupt, nur noch etwas ganz anderes als der sinnliche Gegenstand: etwas Theoretisches.
(b) Wenn Thomas Kuhn recht hat – und so skeptisch ich gegen ihn in manchem bin, das scheint mir eine gute Beobachtung –, dann interessiert der Gegenstand in einer „normal science“ überhaupt nicht mehr, weder in seinen sinnlichen Eigenschaften noch in seinem Nutzen für die Menschen. Es geht ausschließlich darum, Rätsel zu lösen, sich darin als Meister zu erweisen: ein völlig sinnloses Spiel, das aber äußerst erfolgreich ist. So wie bei Barbara McClintock geht es da selten zu. Wenn auch nicht nie: ich habe einmal einen Physiologen getroffen, der schwärmte vom Inneren eines Rinderpansens – damit beschäftigte er sich sein Leben lang – wie andere von der Landschaft der Toskana.
@ Noït Atiga
„Ich verteidige erstere [die Superorganismus-Theorien] nur, weil Sie sie komplett ausgeschlossen haben“.
Ich habe sie nicht komplett ausgeschlossen, ich sage nur, bezogen auf die Biosphäre (und Biozönosen) sind sie falsch. Sie sind auch bezogen auf Steine oder auf – das werden Sie mir sicher zugestehen – solche biologischen Gesellschaften, die bloße Aggregate sind, ohne Interaktionen zwischen den einzelnen Organismen (und so etwas gibt es), falsch. Für andere Gegenstände, z. B. Mehrzeller oder Insektenstaaten, eignet sich die Superorganismus-Vorstellung sehr gut. Sie schreiben „Sie haben auch alle Recht – und alle Unrecht“. „Nur bezweifle ich, dass eine Perspektive richtiger oder vollständiger ist als die andere. Beide haben für jedes Untersuchungsobjekt ihre Vorteile und ihre Nachteile.“ Aber mit dieser allgemeinen Weisheit kann man nicht das spezielle Problem erschlagen, daß manche Modelle für manche Gegenstände gut eignen und für andere gar nichts bringen.
„…die existierende Fachwissenschaft (teils) erstmal nicht kenne(n will). Denn würde ich sie vor eigenen Überlegungen ausführlich zur Kenntnis nehmen, wäre das Überlegungspotential stark beschränkt.“
Sie gehen ja ständig von einer Fachwissenschaft aus, der Psychologie. Und eben deshalb ist Ihr „Überlegungspotential stark beschränkt“: Sie behandeln immerzu Fragen, die nicht im Entferntesten psychologische sind, als psychologische, d. h. empirische, z. B. die obige Bären-Frage: Sie sehen an dieser Frage nur die Aspekte, die der Psychologie daran zugänglich sind. Sie schreiben: „Ihr [der Psychologie] zufolge denkt das Kind nicht irgendeine Identität in den Bären oder den Menschen hinein“. Natürlich nicht ihr zufolge, denn von dieser Identität kann die Psychologie als eine empirische Wissenschaft ja gar keinen Begriff haben (was so wenig gegen die Psychologie spricht wie die Tatsache gegen die Physik spricht, daß sie keinen Begriff von Menschenwürde oder Jugendkriminalität hat). Genausogut könnten Sie sagen: Ihr, der Chemie, zufolge hat das Gemälde keinen künstlerischen Wert. Wenn man einen Chemiker ein Gemälde untersuchen läßt, dann kann der nie darauf kommen, daß das Gemälde von künstlerischem Wert ist, denn so einen Begriff kann die Chemie (der Chemiker als Chemiker) konstitutiv nicht haben; er kann forschen bis ans Ende aller Tage: Es sind halt Farben auf einer Fläche, die er als seinen Gegenstand vor sich hat, nicht ein Kunstwerk. – Fachwissenschaften, insbesondere naturwissenschaftlichen, kann man von der Philosophie, also vom apriorischen Denken aus nicht hineinreden (was nicht heißt, daß ein Philosoph einem Naturwissenschaftler nicht z. B. zeigen könnte, daß er einen logischen Fehler gemacht hat). Sondern die Philosophie muß zur Kenntnis nehmen, was die Fachwissenschaften herausgefunden haben. Wenn man das nicht zur Kenntnis nehmen will, dann muß man sich strikt von allen empirischen Fragen fernhalten, also z. B. höllisch aufpassen, daß man Mathematik, Logik oder Transzendentalphilosophie betreibt und an keiner Stelle in etwas abrutscht, was empirische Kenntnisse verlangt.
Und was jetzt speziell die Ökologie angeht: Von der Physik und der Chemie hat auch ein Laie von der Schule her zwar nur sehr beschränkte, aber doch im wesentlichen richtige Vorstellungen. Was er sich aber von der Ökologie denkt, sind überwiegend Ideologeme, die wissenschaftlich einfach unhaltbar sind. Nein, Sie müßten doch, wenn Sie sich schon dazu äußern wollen, die Fachwissenschaft zur Kenntnis nehmen, sonst bringen Sie immerzu Argumente, die schon längst widerlegt sind und die auch Sie selbst mit Sicherheit für widerlegt halten würden, wenn ihnen die einschlägige Diskussion bekannt wäre.
„(Westliche) Biologie und Philosophie scheinen mir dort noch zu stark im (westlichen) Alltag verhaftet.“
Da bekommen Sie ein Problem: „Westliche“ Philosophie ist ja gerade das, was Sie vertreten. All Ihre wesentlichen Überzeugungen findet man in der angloamerikanischen empiristischen Tradition, da kommen sie her, und im Alltag dieser im engeren Sinne westlichen Länder sind sie verhaftet. Den Rest der Philosophie (also die ganze Fülle dessen, an das wir hier immer denken, wenn wir “Philosophie” hören): Rationalismus, Transzendentalphilosophie, Deutscher Idealismus, Lebensphilosophie, Phänomenologie, Existenzalismus …) packen die dort als „continental“ in einen Topf. In diesen Philosophien hat man wiederholt versucht, das, was Sie an der „klassischen“ Philosophie kritisieren, radikal zu verwerfen, auch unter Anknüpfung an asiatisches von vor-klassisch-griechisches Denken (Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger …). Sie werden garantiert nicht auf Gedanken kommen, die in dieser Kritik nicht bereits gedacht wurden. Aber der „westlichen“ Philosophie, der Sie sich verschrieben haben, ist das alles weitgehend unbekannt. Sie hat in einem Maße mit dem bisherigen Denken der Menschheit Schluß gemacht, daß ihr außer dem naturwissenschaftlichen Denken nichts mehr als gültiges Denken gilt.
„Die Biologie etwa, wenn sie ihren Untersuchungsgegenstand aus der Alltagsauffassung übernimmt – und damit von dieser abweichende ‘Lebewesen’ nicht systematisch untersuchen kann.“
Sie meinen so etwas wie Biozönosen? Doch, die werden systematisch untersucht, und zwar mit gewaltigem Aufwand. Nur sind sie halt keine „Lebewesen“, sondern bestehen aus solchen, und die Auffassung, daß sie Lebewesen seien, vertritt kaum mehr einer, weil die Argumente der Gegenposition einfach immer gewichtiger wurden. Auch anderes, was von dieser Alltagsauffassung von Lebewesen radikal abweicht, z. B. die Eukaryontenzelle, wird mit großem Aufwand und „systematisch“ untersucht. Aber Sie können nicht einfach Begriffen einen ganz anderen Sinn geben, bzw. wenn Sie das wollen, müssen Sie entsprechend einen ganzen Rattenschwanz an anderen Begriffen auch umdefinieren. Wenn Sie die Biozönose ein Lebewesen nennen wollen – verbieten kann man es Ihnen nicht – dann brauchen Sie neue Begriffe für das, was man bisher Biozönose und was man bisher Lebewesen genannt hat, denn der sachliche Unterschied verschwindet ja nicht durch die Umbenennung.
„Alles außerhalb des Organs ist für das Organ Umwelt.“
Ein Organ hat keine Umwelt, bzw. wenn man das, mit dem das Organ in einer kausalen Beziehung steht, seine Umwelt nennen will (kann man ja machen), dann ist das ein anderer Umweltbegriff als im Falle eines Lebewesens (oder einer Zelle). Denn das Organ ist (zumindest meist) kein autopoietisches System.
Zur Autopoiesistheorie. Etwas schwierig, ich hab nur eine dunkle Erinnerung und will jetzt nicht eigens nachlesen. Aber wenn mich nicht alles trügt, dann ist bei Maturana dargestellt, daß ein autotoietisches System über die Art der Interaktion (er hat da einen speziellen Begriff dafür) andere solche Systeme notwendig von dem unterscheidet, was nicht autopoietisches System ist. Es ist eigentlich auch nicht anders vorstellbar. Man kann, wenn man so ein Subjektivitäts-Programm verfolgt, schwerlich derartige 2000jährige Hauptprobleme einfach übersehen.
„Alles außerhalb der Biozönose ist für die Biozönose Umwelt.(Jedes dieser Systeme kann nur an die eigenen Repräsentationen anschließen.“
Die Biozönose ist aber kein selbstreferentielles System und hat darum auch keine eigenen Repräsentationen. Eben darum wollte Luhmann den Begriff Ökosystem (die Einheit von Biozönose und Biotop) abschaffen. Man müsse zwischen Systemen, die sich selbst abgrenzen, und Systemen, die ein Beobachter abgrenzt, unterscheiden, und letztere mochte Luhmann gar nicht System nennen, weil das ein überholter Systembegriff sei: „Nicht jeder Zusammenhang ist jedoch ein System. Von System sollte man nur sprechen, wenn ein Zusammenhang sich selbst gegen eine Umwelt abgrenzt.“ (Luhmann, in „Ökologische Kommunikation“). Biozönosen grenzen sich nicht selbst ab, selbst auf Inseln gehen die Beziehungsnetze über die Wasser-Landgrenze hinweg weiter, und man muß sie willkürlich abschneiden, um von dem, was auf dem Land ist, als einer anderen Biozönose (oder Ökosystem) zu sprechen als von dem, was im Wasser ist. Das selbstreferentielle System konstituiert sich aber dadurch, daß es selbst eine Grenze zur Umwelt zieht. Das tun, den Autopoiesistheoretikern zufolge, eben autopoietische Systeme. Solche Systeme sind nicht nur Organismen, sondern diesen Theorien zufolge z. B. auch neuronale Systeme in Organismen oder soziale Systeme (vor allem letzteres ist aber hoch umstritten).
„Auch entstehen aus keiner der Theorien Vorgaben für eine ideale Gesellschaft, in beiden Fällen geht es nur um immer wieder neue Aushandlung eines dynamischen Gleichgewichtes.“
Was Sie mit dem zweiten Teil des Satzes sagen wollen, verstehe ich nicht. Was den ersten Teil angeht , so scheinen Sie falsch verstanden zu haben, was ich meinte: Nicht – oder nur sehr vermittelt – entstehen aus den naturwissenschaftlichen Theorien solche Vorgaben für die Gesellschaft, obwohl das auch stimmt, in der Politik ja genau so gehandhabt wird: Die Natur ist der darwinistischen Theorie zufolge ein Kampfgeschehen, und der Kampf ist der Motor der Höherentwicklung, also muß die ideale Gesellschaft vom Geist des Sozialdarwinismus geprägt sein.
Aber ich meinte es umgekehrt: Vorstellungen von der Gesellschaft (immer irgendwelchen Ideologien zuzuordnen und entsprechend verschieden), der realen oder einer idealen Gesellschaft, werden zu Modellen, nach denen man die Natur sieht. Für Darwin(s Zeitgenossen in England) war die Gesellschaft ein Gewusel voneinander unabhängiger und einander bekämpfender Einzelner, und nach diesem Muster dachte man eben die auch die Natur. (In einer nicht-konkurrenzkapitalistischen Gesellschaft, z. B. der mittelalterlichen, wäre kaum einer auf so eine Idee gekommen, sie hätte nicht zu seinen alltäglichen Erfahrungen gepaßt). Die konservative, dem politischen und industriellem Fortschritt feindliche Opposition setzte dem das Idealbild der organischen Gemeinschaft entgegen, die es früher angeblich gegeben hat und wieder geben soll. Und nach diesem Muster konnte man auch die Gesellschaften der Tiere und Pflanzen denken. Daher seit über 100 Jahren der Dauerstreit der beiden Grund-Naturbilder (später entstanden weitere, wie „Natur als Maschine“).
(
Metaphern in der Wissenschaft
Danke für die klare und differenzierte Stellungnahme. Erfreut nehme ich schonmal zur Kenntnis, dass die Frage nach Metaphern in der Wissenschaft auch in dieser kontrovers diskutiert wird. Das zeigt eine pluralistischere Landschaft, als vielleicht manche sehr strenge Positionen vermuten lassen – und ist in seiner Offenheit dann auch echte Wissenschaft.
Ich stimme zu, dass gerade die Metaphern immer auch unseren persönlichen, geistig-seelischen Bezug zur Natur spiegeln, bei Dawkins so und bei Margulis eben so. Die Frage ist, ob es möglich und wünschenswert ist, dies ganz aus der Wissenschaft herauszunehmen, sie restlos in eine nicht-intentionale Sprache zu verwandeln? Immerhin ist Wissenschaft ein Prozess, der oft genug mit Intentionen, Antrieben, Wünschen, Emotionen, z.B. Liebe zu einer Tier- oder Pflanzenart beginnt: Warum “verfiel” E.O. Wilson den Ameisen, Konrad Lorenz den Graugänsen, Jane Goodall den Schimpansen, andere Forscher bestimmten Gesteinsarten oder den Sternen und wurden Experten in diesem Gebiet? Und am Ende ihrer Forschung soll doch auch wieder etwas “Intentionales” stehen: Begeisterung, die Freude des Verstehens, der Schutz von bedrohten Arten und Landschaften etc. Zudem ist auch noch unklar, inwieweit die kreative Seite eines Wissenschaftlers (Inspirationen, Ideen zu Theorien) in Räume hineinragt, die nicht restlos rational zu erfassen sind. Vereinfacht gesagt ist also das “Rationale” im Wissenschaftsprozess immer auch vielfältig mit dem “Nicht-Rationalen” verbunden. Vielleicht daher das gelegentliche Nebeneinander von Begriffs- und Metaphernsprache. Wie streng sollte man hier sein? Auch angesichts der Tatsache, dass 99,9% aller Menschen Naturerfahrungen nie über Begriffe wie
“Biozönose”, “Organelle” oder “Aminosäure” haben, sondern ästhetisch, emotional, ja auch animistisch auf Tiere, Pflanzen, Landschaften reagieren.
Vielleicht kommt es – wie in der Kunst – eher auf die Präzision der Metapher an, auf den Kontext, in dem sie steht. Der klärt, ob sie esoterische Schwärmerei oder eben einen Mehrwert über eine eher puristische wiss. Erkenntnismethodik ausdrückt, ob sie Natur noch in einer zusätzlichen Dimension “aufschliessen” kann. Ich würde nie verlangen, dass in jeder wiss. Facharbeit auch solche sprachliche Dimensionen vorkommen müssen, aber im weiteren Feld wiss. Arbeit und Vermittlung hat eine poetisch-bildhafte Sprache (wenn sie gut ist!) bei mir immer auch mein Interesse gesteigert, dann auch mal einen nüchterneren Fachtext durchzuarbeiten.
Zum Schluss ein schönes Beispiel für sprachliche Freiheiten der Genetikerin und Nobelpreisträgerin Barbara McClintock in der Beschreibung der vielschichtigen Dimensionen ihrer Arbeit mit Maispflanzen: “Plötzlich stand ich nicht mehr ausserhalb, sondern befand mich mitten in diesem System; ich war Teil der Zelle geworden. Ich konnte sogar die inneren Strukturen der Chromosomen erkennen – ich konnte jedes Detail erkennen. Das alles überraschte mich, weil ich wirklich das Gefühl hatte, ich wäre mitten unter ihnen und sie wären meine Freunde.” Als die Forscherin von der Verleihung des Nobelpreises erfuhr, empfand sie dies als grosse Ehre, aber sie fügte hinzu: “Es mag nichtsdestotrotz unfair erscheinen, jemanden zu belohnen, der über die Jahre hinweg soviel Freude daran gehabt hat, die Maispflanze zu bitten, spezielle Probleme zu lösen, und dann ihre Antworten zu beobachten.”
@Rüdiger Sünner
Ich dachte erst, auf Ihren Kommentar kann ich leicht antworten, aber nun merke ich, daß das eine ziemlich harte Nuß ist. Ich versuche einmal ein paar Gedankengänge, ohne zu wissen, ob sie sich am Ende zu einem verbinden lassen.
„Und ich denke, das ist in Ordnung so – und man wird so etwas auch in vielen anderen wiss. Texten finden.“
Man findet es, wie ich schon geschrieben habe, in der „Naturgeschichte“ (und in anderen „folk sciences“, wie man unter Wissenschaftstheoretikern Fächer von der Art der Geographie oder der Geschichte genannt hat, die keine „esoterische“ Fachsprache entwickelt haben). Da ist sozusagen das Wahre, Schöne und Gute noch nicht völlig auseinandergetreten. In einem im modernen Sinne naturwissenschaftlichen Text kann aber so etwas wie „Ehrfurchterregendes“ nicht vorkommen (und kommt auch nicht vor). Denn dann würde man über einen anderen Gegenstand reden als über einen naturwissenschaftlichen. Für das Alltagsdenken ist ein Berg ein Berg, dieser eine Gegenstand besteht aus Granit und er wirkt majestätisch. Für die Wissenschaften aber zerfällt der Alltagssprachen-Berg in kategorial verschiedene Gegenstände. Der Geologen-Berg kann nicht majestätisch sein.
Ein Naturwissenschaftler kann sich natürlich außerhalb seines Berufs als Poet betätigen, und man kann auch wissenschaftliche Texte schreiben, in denen das Gute und das Schöne und das Ehrfurchterregende vorkommt, aber dann redet man über etwas ganz anderes als über den Gegenstand der Naturwissenschaften, auch wenn dafür der gleiche Name verwendet werden sollte (z. B. „Berg“). Ein Ökologe, also ein Biologe kann über Wiesen und Wälder als Biozönosen reden, aber nicht als Landschaft und Wildnis, das sind Gegenstände ganz anderer kategorialer Zugehörigkeit und man betreibt Kultur- oder Geisteswissenschaft, wenn man sich wissenschaftlich damit befaßt. (Ich tue das auch, und dann ist meine Sprache auch ganz anders, siehe z. B. hier: Was sind wilde Tiere?)
Das Bedenkliche an den popularisierenden Schriften von Naturwissenschaftlern, in denen z. B. über Ehrfurchterregendes geredet wird, ist, daß die Leute das für Naturwissenschaft nehmen und deren Autorität glauben – und glauben, sie hätte auch Autorität in solchen Fragen. Und Margulis war zudem ja wirklich eine bedeutende Wissenschaftlerin; daß sie keinen Nobelpreis bekommen hat, liegt allein daran, daß es für ihr Fach (wie für die meisten Fächer) keinen gibt. Aber sie gehört im Hinblick auf die Frage des Ehrfurchterregenden in der Natur zu den Laien, kein bißchen weniger als ein Bäcker oder ein Automechaniker.
Eine der Folgen solcher Texte – und der Unzahl von Naturfilmen, die täglich im Fernsehen laufen und alle von der Art sind, wie wir sie hier diskutieren – ist, daß die Öffentlichkeit eine bestimmte Vorstellung von den Ergebnissen der Ökologie, also eines Teils der Biologie, hat, die überhaupt nicht dem entspricht, was man in der Ökologie selber für vertretbar hält. Wohl keine andere Naturwissenschaft hat so damit zu kämpfen, daß in der Öffentlichkeit geradezu für die Quintessenz dessen hält, was die Ökologie herausgefunden hat, was aber in der Ökologie selbst fast einmütig als falsch gilt.
Von dem bisher diskutierten Problem – das zwei Aspekte hat: was wissenschaftliche Gegenstände sind und was die Verantwortung von Wissenschaftlern ist – muß man das Metaphernproblem teilweise trennen. Es gibt eine endlose Diskussion über die Verwendung von „anthropomorphen“, „soziomorphen“, „technomorphen“ usw. Metaphern in der Naturwissenschaft, und eine Einigung ist nicht in Sicht. Eine Auffassung ist, daß man die naturwissenschaftliche Sprache von allen intentionalen Begriffen reinigen müßte, sie allenfalls da, wo es offensichtlich ist, daß die Rede nicht wörtlich gemeint ist, z. B. als Abkürzung verwenden dürfe. Andere halten diese Metaphern wegen ihrer heuristischen Funktion oder auch gegenstandskonstitutiven für unverzichtbar, wieder andere meinen, es sind gar keine Metaphern (z. B. der Computer rechnet wirklich, nicht etwa ein Mensch unter Benutzung eines Computers). Es gibt noch mehr Möglichkeiten.
Bei Texten wie denen von Margulis scheint es mir nun so zuzugehen: Wissenschaftler haben (wie alle Menschen) ein bestimmtes „Weltbild“, darin steckt im allgemeinen auch ein „Naturbild“ (der unhinterfragte „metaphysische Kern“ des Paradigmas im Sinne von Kuhn). Wenn das nun mal, wie es bei Margulis der Fall ist, das typische „organische“ der konservativen Weltanschauung ist, dann sieht man überall aus Organismen bestehende Organismen (Superorganismen). Als Naturwissenschaftler aber bekommt man da Probleme, denn man weiß meist, daß sich das nicht ernsthaft behaupten läßt (außer in speziellen Fällen, zu denen aber die Biosphäre definitiv nicht gehört, auch die einzelnen Biozönosen nicht). Darum sagt man, soweit man als Naturwissenschaftler argumentiert: „Gaia“ ist kein Organismus, läßt aber in seinen nicht-naturwissenschaftlichen Metaphern ständig durchblicken, daß sie doch einer sein sollte.
Und dann spielt noch eine Rolle, daß unter den Biologen eine große Unklarheit darüber herrscht, was denn eigentlich den zentralen, konstitutiven Gegenstand ihrer Wissenschaft, den Organismus, ausmache. Sie können im allgemeinen nicht so richtig zwischen einem Organismus und einem System mit Fließgleichgewichten, zudem hochgradig vernetzt und mit vielen kooperativen Interaktionen, unterscheiden; letzteres ist aber nur notwendige, keine hinreichende Bedingung dafür, von einem Organismus zu sprechen. – So etwas liegt ja auch weit weg von den Fragen, mit denen sie sich als Empiriker täglich beschäftigen, und so ist es nicht verwunderlich, daß kaum ein Biologe sich hier auskennt.
„… verfällt dann doch wieder in Metaphern und Personifizierungen. Das geschieht auch bei anderen Wissenschaftlern wie Richard Dawkins (“egoistisches Gen”).“
Das bringt uns zu einem anderen Thema, nämlich daß die Naturbilder immer mit politischen Ideologien verbunden sind. Dawkins’ Naturbild ist paradimatisch konträr zu dem von Margulis und Lovelock und all den Superorganismus-Theoretikern in der Ökologie. Es gehört dem individualistisch-darwinistischen Paradigma an, und das ist verbunden mit dem Liberalismus. (Solche Dinge sind gut untersucht, und man muß vorsichtig sein, wenn man dazu eine Meinung haben will, ohne die einschlägige Diskussion zu kennen.) – Ich will daran auf folgendes hinweisen: Nicht nur die Metaphern, sondern auch die Theorien selbst sind politisch nicht neutral. Die Theorien Darwins und die der „individualistischen“ Ökologen sind mit dem Liberalismus verbunden, so wie die „holistischen“, „organizistischen“ Superorganismus-Theorien mit dem Konservativismus verbunden sind. Das darf man allerdings nicht zu platt verstehen, etwa in dem Sinn: Dawkins und die „individualistischen“ Ökologen sind gut, weil liberal, und gegen die konservativen Vorstellungen von der Gesellschaft als organischer Gemeinschaft habe ich etwas, da ist der Mensch nicht frei (oder umgekehrt).
Sondern man sollte z. B. folgendes bedenken: Die „individualistischen“ Ökologen modellieren sich zwar die Natur so, wie der typische Liberale die Gesellschaft, zumindest die ideale, denkt. Aber wie man vom „individualistischen“ Naturbild des Darwinismus weiß, ist das nicht nur inspiriert von der liberalen Deutung der englischen konkurrenzkapitalistischen Gesellschaft, sondern es führt von da aus auch ein Weg zum Sozialdarwinismus, der in der konservativen Vorstellung der organischen Gemeinschaft gar nicht zu denken ist. – Also: diese Beziehungen zu politischen Ideologien sind kompliziert, aber man muß wissen, daß es sie gibt, wenn man verstehen will, wieso die Biologen ihre Gegenstände so denken wie sie sie denken und wenn man eventuell herausfinden will, welche Folgen die Dominanz bestimmter Naturbilder (in Wissenschaft und Gesellschaft) für die Gesellschaft haben könnte.
Trepl zu Gärtner; Monotheismus
Ich möchte mich aus dem Blog verabschieden, denn mein Weg ist ein anderer, wie die Sprache, die ich spreche. Ich danke für Ihre Geduld meinen Gedanken gegenüber.
mfG
@Ludwig Trepl
Ich verteidige erstere nur, weil Sie sie komplett ausgeschlossen haben. Würden Sie letztere ausschließen, dann würde ich letztere verteidigen. Denn mir sind beide gleichermaßen richtig und falsch. Es gilt mir sowohl als auch (und noch mehr). Auch entstehen aus keiner der Theorien Vorgaben für eine ideale Gesellschaft, in beiden Fällen geht es nur um immer wieder neue Aushandlung eines dynamischen Gleichgewichtes.
Auch Sie schreiben ja dann von Perspektiven, die nicht falsch sein müssen. Und dem schließe ich mich an. Nur bezweifle ich, dass eine Perspektive richtiger oder vollständiger ist als die andere. Beide haben für jedes Untersuchungsobjekt ihre Vorteile und ihre Nachteile. Dass wir heute in manchen Fällen mit der einen, in manchen Fällen mit der anderen ‘mehr’ sehen – das liegt mir nur in einer Verzerrung bzw. Beschränkung unserer Brille begründet, um in Ihrem Bild zu bleiben.
Und diese Brille muss verzerrt und beschränkt sein (wie schon beim Haus), denn wir sind zu sehr an unsere alltägliche Erfahrungs-Perspektive gewöhnt, sie ist zu tief in unserer intuitiven Anschauung verankert – und teils wohl auch genetisch mitbedingt. Wissenschaft war und ist es aber Anliegen, diese Alltagserfahrungen zu erweitern, ihre Verzerrungen theoretisch und praktisch zu transzendieren. Am besten scheint mir das bisher der Physik zu gelingen, was aber insofern nicht verwunderlich ist als sich diese unter den (empirischen) Wissenschaften am weitesten vom Alltag entfernt hat.
(Westliche) Biologie und Philosophie scheinen mir dort noch zu stark im (westlichen) Alltag verhaftet. Die Biologie etwa, wenn sie ihren Untersuchungsgegenstand aus der Alltagsauffassung übernimmt – und damit von dieser abweichende ‘Lebewesen’ nicht systematisch untersuchen kann. Die Philosophie etwa, wenn sie von der Existenz kategorialer Unterschiede ausgeht – und damit sprachliche oder wahrnehmliche Vorformungen nicht konsequent genug hinterfragen kann. Das ist, wie Sie oben schrieben eine steile These und der Begründungsaufwand entsprechend groß, aber als Arbeitshypothese hat sie sich bisher für mich bewährt. Und zwar deswegen, weil sie die Verknüpfung der verschiedensten Wissen- oder Erfahrungsgebiete erlaubt.
Sie führt aber auch dazu, dass ich mir die meisten Fachwissenschaften nicht mehr nach dem klassischen Kanon erarbeite – dass ich also wie Sie schrieben die existierende Fachwissenschaft (teils) erstmal nicht kenne(n will). Denn würde ich sie vor eigenen Überlegungen ausführlich zur Kenntnis nehmen, wäre das Überlegungspotential stark beschränkt. Würden doch unweigerlich die meisten Prämissen der etablierten Fachwelt zur intuitiven Gewissheit – und damit auch deren Entweder-oder. (Darum auch entstehen im Westen die meisten Neuerungen im Jugendalter, also vor zu tiefem Eintauchen in das Fachwissen.) Trotzdem geht es nicht um ‘öffentliche Märchen’, sondern das permanente Mitdenken alternativer Erklärungen und die Einbindung möglichst vieler Theorien – denn mich hat alle bisherige Erfahrung in verschiedenen Kulturen und Disziplinen zur inneren Überzeugung eines meist horizonterweiternden Sowohl-als-auch geführt.
Weil jede Diskussion mit in Entweder-oder-Denkenden aber zunächst zwingend zur Polarisierung führt, darum werden meine Ausführungen auch überall (erstmal) der anderen Seite zugeordnet. Denn jede Darstellung des jeweils Ausgeschlossenen als ebenso möglich wird sogleich als Opposition auffasst, und muss (bei Entweder-oder-Denken) so aufgefasst werden, da Richtig und Falsch nicht gleichzeitig sein können. (und darum kommen uns auch viele Ausführungen asiatischer Philosophie so spanisch vor oder die Ambiguität des alten Islams.)
Nein, das ist nicht mein Problem. Denn ich glaube sehr wohl zu verstehen, was Sie meinen und was die (mir bekannten) Philosophen meinten. Sie haben auch alle Recht – und alle Unrecht. Anders ausgedrückt: Sie dachten und schrieben in/über Teile/Perspektiven und jeder hat nur Teile erfahren und gedacht – und jeder kann nur Teile erfahren und denken. Mein Ziel ist daher auch nicht die Widerlegung irgendwelcher Theorien, sondern die Integration der von mir erfahrenen und gedachten Teile in eine verbindende Theorie.
Nur kann (selbst damit) Niemand einem Anderen über das reine Denken jene Teile vermitteln, die nicht zuvor von diesem erfahren und gedacht wurden. (Zumindest soweit der noch im Entweder-oder denkt.) Will man also andere Teile vermitteln, dann muss man versuchen, die bestehende Erfahrung zu relativieren. Aber wie soll man sprachlich relativieren, was als im Begriff enthalten gelebt und gedacht wird? Oder im Menschen vorexistent? Das geht doch nur, wenn man nachlebbar zeigt, dass dafür auch andere Begriffs- und Denkwelten vorstellbar sind. Nur wie soll das anders gehen als empirisch? Denn man muss an Gemeinsames anknüpfen – und mangels insofern gemeinsamer Sprache und gemeinsamen Denkens bleibt nur gemeinsames Erleben, oder?
Wir haben nun beide die Kinder erlebt, die obige Frage stellen.
Sie deuten diese in den Kategorien der westlichen Philosophie. Und Sie müssen das so tun, denn anders ist es aus gewisser Erfahrungs-Perspektive derzeit nicht denkbar.
Da ich auch solche Erfahrungen gemacht habe, kann ich es wie Sie deuten – und dann Ihr System darauf aufbauen. Darum meine ich Sie zu verstehen.
Da ich aber auch andere Erfahrungen gemacht habe, kann ich es auch anders deuten – und dann ein anderes System darauf aufbauen. Nur kann ich Ihnen diese Erfahrungen nicht mitteilen, ich könnte sie Ihnen allenfalls in gewissen Situationen erfahrbar machen (darum auch Verweise auf Filme, darum auch die Diskussionen über Sprach-Kultur).
Nun scheint es mir noch einen komplizierteren, aber doch ansatzweise möglichen Weg zu geben – über andere Wissenschaften, die experiementell die Entstehung gewisser Perspektiven nachzuzeichnen und zu relativieren versuchen. Die Psychologie der Kindheit ist mir dabei die eingängigste – weil wir ebendiese Entwicklung durchlaufen haben und sie auch immer wieder bei Kindern beobachten können. Wir haben also die Chance, gewisse neue Perspektiven auch für uns nachlebbar werden zu lassen ohne in eine andere Kultur eintauchen zu müssen. Darum berufe ich mich auf diese Wissenschaft – zumal ich glaube, dass Sie als Natur-Wissenschaftler dieser Empirie zugänglich sind und mglw. dann die philosophischen Kategorie(n) zumindest hypothetisch zu hinterfragen bereit.
Die Psychologie aber deutet die Aussage des Kindes anders. Ihr zufolge denkt das Kind nicht irgendeine Identität in den Bären oder den Menschen hinein. Vielmehr lebt es zunächst nur im Hier und Jetzt, es ‘denkt’ ohne Zeit. Für das kleine Kind ist nur heute. Unsere Permanenz in der Zeit muss es erst langsam zu konstruieren lernen – was es angesichts der obigen Aussage wohl noch nicht kann (oder besser nur unvollkommen – das entwickelt sich heute etwa zwischen 4-6 Jahren). Das beschriebene Kind hat nun wohl schon gelernt, dass für uns irgendwie der Bär und die Dinosaurier mal waren. Es begreift das aber noch nicht (ganz), es hat diese Aussagen eher verbal übernommen und kann nicht nachfühlen, dass auch der Begleiter für uns mal nicht war (oder nicht mehr sein wird).
Wie und wofür diese zeitüberdauernde Identität aber konstruiert wird, das scheint mir (auch) von der Umgebung des Kindes abzuhängen. Um das zu illustrieren ist es vielleicht einfacher dort anzuknüpfen, wo gewisse Kulturen Identitäten unhinterfragt zuschreiben (oder unterstellen), die wir nicht mehr (wissenschaftlich) teilen. Ich will nur an die sehr vielfältigen Vorstellungen über eine dauerhaft identische Existenz einer Seele oder Nicht-Seele bzw. von Reinkarnationsvorstellungen erinnern. Dort wurde ausgehend vom Subjekt eine weit über das unmittelbar Erfahrbare hinausreichende Identität gelebt und quasi als Ursprung bzw. Verlängerung des aktuellen Erlebens vorausgesetzt. Und worauf diese Subjekteigenschaft dann übertragen wird oder wieweit beschränkt, auch das scheint mir wieder von der jeweiligen Kultur abzuhängen. Schon im Westen wurde diese nicht immer Tieren bzw. Pflanzen zugesprochen – (im Osten) aber teils auch Flüssen, Wäldern etc.
Wir bezeichnen das heute als (Aber)Glauben und sehen es darum als überholt an. Nur beruht diese Sicht auf unserer Kultur, also unserem Glauben – an eine (gewisse) Allmacht des rationalen Denkens.
Das habe ich nicht so verstanden (aber da gibt es wohl verschiedene Richtungen) – denn das autopoietische System kreiert sich seine Modelle der Umwelt autonom, nur im Anschluss an seine bisherigen Unterscheidungen. Und dann gibt es keinen anderen zwingenden Unterschied als den zwischen dem System und seiner Umwelt. Jedes ‘System’ in der Umwelt ist genauso Umwelt des konstruierenden Systems wie alles andere.
Alles außerhalb der Zelle ist für die Zelle Umwelt. Alles außerhalb des Organs ist für das Organ Umwelt. Alles außerhalb des Lebewesens ist für das Lebewesen Umwelt. Alles außerhalb der Biozönose ist für die Biozönose Umwelt.
Jedes dieser Systeme kann nur an die eigenen Repräsentationen anschließen. Es weiß nichts über oder von der Umwelt, was nicht in seinen Repräsentationen enthalten ist und es kann nur in Abhängigkeit der eigenen Repräsentationen auf die eigene Aktualität reagieren und damit seine zukünftigen Repräsentationen schaffen. Und jedes dieser Systeme abstrahiert von seiner Materialität, existiert trotz allen Materieaustausches – solange eine gewisse selbstreproduzierende Struktur bestehen bleibt (worin auch immer die besteht).
Und natürlich wird der Begriff der Anlage dann einerseits weniger aussagekräftig als wenn man ihn nur auf eine bestimmte DNS bezieht. Aber er wird andererseits aussagekräftiger – denn für konkrete Lebewesen ist diese Anlage dann weit umfangreicher bestimmt als durch den alleinigen Bezug auf die DNS. (Und er wird potentiell offen für Leben ohne DNS.)
@ Hermann Gärtner
Ich kann nicht so recht den Zusammenhang Ihrer Ausführungen mit der Gaia-Frage erkennen, auch nicht, ob und in welcher Hinsicht Sie mir widersprechen. Dem meisten kann ich zustimmen, ohne daß ich sagen könnte, daß darum das, was ich geschrieben habe, falsch sein müßte.
Nur ein paar Kleinigkeiten:
„….ursprüngliche Form von Religion. …. Sie hat mit Viehhaltung, und Agrarproduktion nichts zu tun.“
Gewiß, denn sie ist ja die Religion der Jäger- und Sammlergesellschaften. Aber mit Viehhaltung, und Agrarproduktion begann sich etwas zu verändern – wenn es stimmt, daß der Monotheismus in viehzüchtenden Nomadenvölkern bzw. in diesen Völkern, nachdem sie sich zur herrschenden Klasse unterworfener Bauerngesellschaften gewandelt hatten, die an den Kultstätten, den Städten, residierten. Mit den Hochkulturen um diese Kultstätten/Städte herum dürfte dann aber eine neue Stufe erreicht gewesen sein.
„Der Monotheismus ist dann aber nicht die Ausdrucksform des Patriarchalen, sondern der immer scheiternde Versuch, die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen wieder herzustellen.“
Ich habe nicht verstanden, wieso es da um die Wiederherstellung von Gleichheit ging. Und wenn: Muß deshalb die Deutung, daß der Monotheismus „Ausdrucksform des Patriarchalen“ ist, falsch sein? immerhin verschwanden dann ja die Muttergottheiten, und Gott ist Vater, es wird nur noch gezeugt (und konstruiert), das Gebären kommt nicht mehr so recht vor.
„Die Stadt ist keine Verlängerung des Dorfes, sondern geht aus den Kultstätten der Wildbeuter-Clans hervor …“
Nach dem Wenigen, was ich weiß, war das wohl so.
„Die ‚Bewacher’ und Logistiker der Kultstätten entfalteten nach und nach herrschaftliche Macht, was nur allzu menschlich ist.“
Kann man da wirklich von „nach und nach“ sprechen? Meist war es doch so, daß irgendwelche „Barbaren“ – Wildbeutervölker wohl kaum, sondern Vieh-Nomaden oder kriegerische Bauernvölker wie später die Germanen und ganz spät die Wikinger – sich alle paar Jahrzehnte oder Jahrhunderte der Kultstädten/Städte bemächtigten und dabei die umliegenden bäuerlichen Kulturen unterwarfen, und zwar schlagartig. Und mit „allzu menschlich“ scheint man mir das nicht erklären zu können. Die einen waren eben kriegerische Völker, die anderen zumindest nach der ersten Unterwerfung nicht mehr, sie waren so friedlich und hilflos wie die Indios in den Anden, nachdem ihre dünne Herrscherschicht, sicher ursprünglich ein Kriegervolk, vernichtet war. Also: nicht menschlich, sondern Resultat einer spezifischen Art von Kultur.
„’Stadt’ lässt sich nicht von einem biologischen Organismus herleiten, sie hat andere konstituierende Bedingungen. Wenn aber ‚Stadt’ wie andere auf institutionelle Tatsachen beruhende Seinsformen Erscheinungsformen dieses Planeten sind, dann lässt sich dieser ebenso wenig als bloß biologischer Organismus betrachten.“
Das ist sicher richtig. Die konservativen Ideologien versuchen diese Betrachtung allerdings immer wieder (siehe die Verherrlichung der mittelalterlichen Stadt als „organisch“ in diesen Ideologien schon im 19. Jahrhundert und die Deutung der modernen, industriellen Stadt als „entarteter“ Organismus, als Krebsgeschwür oder „Asphaltdschungel“, oder als etwas Totes, als „Betonwüste“).
Die derzeitige Diskussion um „Gaia“ ist aber eine naturwissenschaftliche, genauer ökologische. Sie berücksichtigt nicht die Frage, ob die Erde mitsamt der „Noosphäre“, also auch den Städten ein Organismus ist und wenn nicht, dann doch werden sollte. Sondern sie fragt danach, wie die Tatsache, daß die Erde als Naturding, lange vor der Entstehung von Menschen, ein – nach Auffassung der Gaia-Protagonisten hochgradig vernetztes – Ökosystem ist, es erlaubt oder erzwingt, daß sie als ein einziges Lebewesen gesehen werden muß.
Wo fängt eine Metapher an?
Nach nochmaliger Lektüre des Gaia-Kapitels in Margulis’ “Die andere Evolution” fiel mir auf: Sie vermeidet einerseits ausdrücklich jede Personifizierung und Mythologisierung des Gaia-Systems, aber verfällt dann doch wieder in Metaphern und Personifizierungen. Das geschieht auch bei anderen Wissenschaftlern wie Richard Dawkins (“egoistisches Gen”). Margulis betont oft genug, dass Gaia keine nur gute Mutter ist, kein einzelner Organismus, kein “Zentrum”, “Kopf”, “Teleologie” oder “Bewusstsein” kennt, sondern eine “Summe interagierender Öko-Systeme, mehr nicht.” Ganz so esoterisch ist sie also nicht.
Aber sie scheint – zumal in dieser eher populärwissenschaftlichen Veröffentlichung – dann doch nicht ganz auf personifizierende Metaphern verzichten zu können bzw. es stellt sich die Frage, wann beginnt eigentlich eine Metapher in wiss. Rede? In verschiedenen Zusammenhängen schluckt, reagiert, weiss, recycelt Gaia dann doch, in ihr “kommunizieren” kleinere Organismen, “warnen sich”, “teilen sich etwas mit”, weshalb sie dann vom “Nervensystem” spricht. Aber weiss angesichts ihrer anderen, nüchterneren Statements nicht jeder, dass das nun wirklich nur eine Metapher ist? Die Erde soll ein dem Menschen vergleichbares Nervensystem haben? Wer glaubt das denn wirklich?
Ich denke, dass jeder weiss, dass hier Metaphern am Werk sind, aber sie führen dazu, dass wir mitleben, teilnehmen, uns einfühlen, uns auch seelisch verbinden mit dem Ehrfurchterregenden dieses komplexen Riesensystems.
Und ich denke, das ist in Ordnung so – und man wird so etwas auch in vielen anderen wiss. Texten finden.
@ Rüdiger Sünner @ Balanus @ Hilsebein
Nebenbei: Zwischen @ Rüdiger Sünner, @ Balanus und @ Dietmar Hilsebein gibt es gerade in einem anderen Blog hier auf Chronologs eine ausführliche Diskussion über Lynn Margulis. Ich zitiere:
„Weibliche Wissenschaftler wie Lynn Margulis, Barbara Clintock und Evelyn Fox Keller erlauben sich manchmal eine Sprache, die nicht so entkörpert, entemotionalisiert und “objektiv” ist wie viele Männer …“
„Margulis nennt die Erde ‚einen Körper, der durch komplizierte physiologische Zusammenhänge am Leben erhalten wird’, spricht sogar vom ‚Nervensystem des Globus” und vom “Recycling Genie Gaia.’ Dann sogar: ‚Gaia, das verwobene Geflecht alles Lebendigen, ist in allen ihren Zellen, Körpern und Gesellschaften in unterschiedlichem Masse wahrnehmungsfähig und bewusst’, es besitze sogar eine ‚globale Empfindungsfähigkeit.’ Metaphern, animistisch angehauchte Bilder, Mythologeme, sogar poetische Analogien zur Musik, die sie aber einbettet in strenge naturwissenschaftliche Analyse …“
Ich möchte dazu anmerken:
(1) Diese Sprache ist in den Teilen der Biologie (und der Physischen Geographie), die noch enge Verbindung zur „Naturgeschichte“ haben, seit eh und je üblich, und es sind fast immer Männer gewesen, die so geredet haben. Es ist sehr kühn (bzw. einem seit einigen Jahrzehnten grassierenden, dem konservativen Flügel des Feminismus zugehörigen Ideologem geschuldet), daraus eine weibliche Eigenheit machen zu wollen.
(2) Man kann davon ausgehen, daß das nicht einfach Metaphern sind, die mit der biologischen Theorie der Autorin nichts zu tun haben. Wenn man eine halbwegs haltbare naturwissenschaftliche Theorie der Biosphäre hat, dann kann man solche Metaphern nicht verwenden, man muß und wird merken, daß sie grob irreführend sind. Margulis hat zwar eine haltbare naturwissenschaftliche Theorie der Eukaryontenzelle, aber eine unhaltbare des globalen Ökosystems.
(3) Es geht nicht darum, ob man in der und um die Wissenschaft herum sich einer nicht-wissenschaftlichen Sprache bedient; das kann man selbstverständlich tun, wenn man sich klar darüber ist, an welchen Stellen sie eingesetzt werden kann (nicht im “context of justification”). Sondern es geht darum, daß die Art der verwendeten Bilder eine bestimmte Ideologie transportiert. Man kann bekanntlich auch die Natur statt als Ganzheit, in dem alles allem dient, als Kampf aller gegen alle beschreiben und das sehr poetisch tun. Dann transportiert man halt eine andere Ideologie.
@ Noït Atiga Teil 2
„Nur sind diese Bedingungen aus meiner Sicht (zumindest teils) eine kulturelle Konstruktion und insofern prinzipiell ebenso beliebig wie die Bezeichnung als derselbe Wald oder dieselbe Gesellschaft.“
Mit „diese Bedingungen“ ist gemeint: „Die Bedingungen, unter denen wir von Identität sprechen, sind [bei Organismen] kategorial verschieden von denen im Falle des Waldes.“ (Zitat von mir)(
Sie sollten sich klar machen, daß das eine überaus steile These ist und Sie eine gewaltige Begründungsarbeit leisten müßten.
„Kulturelle Konstruktionen“ kann man mit Fug und Recht die naturwissenschaftlichen Theorien nennen (bzw. die metaphysischen Kerne der Paradigmen, denen sie zugehören), und zwar alle, ob in der Physik oder in der Biologie (bezogen auf die Physik hat man das, auch im Geiste Sohn-Rethels, den Sie ja mögen, oft beschrieben). Die ökologischen Superorganismus-Theorien, die Sie so vehement verteidigen, sind in die Natur hineingesehene konservative Weltanschauung, Ideen vom richtigen Zusammenleben der Menschen (und der Menschen mit der Natur), denn die ideale Gesellschaft ist in dieser Ideologie ein sich entwickelnder Organismus. Die konträren Theorien, die auf dem darwinistisch-individualistischen Naturbild beruhen, sind ebenfalls in die Natur hineingesehene Weltanschauung, nämlich der des Liberalismus mit seiner Vorstellung von der Gesellschaft als aus unabhängigen, konkurrierenden Einzelnen bestehend. Ich glaube nicht, daß das heute ernsthaft irgendwo bestritten wird.
Daß es „kulturelle Konstruktionen“ sind, muß aber nicht heißen, daß sie falsch sind. Man kann sie eher mit verschiedenen Perspektiven auf ein Haus vergleichen: Wenn man nicht eine verzerrende Brille aufhat, liefert jede Perspektive (jedes weltanschauliche „Suchinstrument“) ein richtiges Bild. Allerdings sieht man aus manchen Perspektiven viel, aus anderen wird einem das Wesentliche verdeckt und man zieht falsche Schlüsse auf das, was man nicht sieht.
Beispiel: die konservative Superorganismus-Brille eignet sich sehr gut, um Ameisenstaaten, Mehrzeller oder Eukaryontenzellen (die Superorganismen aus mehreren Zellen sind, siehe Lynn Margulis – da hat sie recht) zu erklären. Sie ist aber völlig ungeeignet, um das zu erklären, was man normalerweise sich unter Biozönosen vorstellt (Wälder, Steppen, Seen, die Biosphäre). Die konträre, liberale Theorie hat sich als überaus erklärungskräftig erwiesen, was die Evolution angeht, sie eignet sich ebenfalls gut zur Erklärung der Vorgänge in Biozönosen. Doch kann man mit ihr auch versuchen, die Vorgänge im Inneren eines sich entwickelnden Organismus zu beschreiben; das hat man versucht, und Sie führen das ja auch an („Und möglicherweise ist es innerhalb der Lebewesen ebenso – die am besten angepassten Zellen vermehren sich am meisten“.) Aber die Erklärungskraft ist hier sehr begrenzt: Die aufeinander wirkenden, nicht nur kooperierenden, sondern auch konkurrierenden Zellen/Teile haben ihre Eigenschaften eben nicht unabhängig voneinander erhalten wie die einzelnen Lebewesen-Arten einer Biozönose, sondern verdanken sie einer gemeinsamen „Anlage“, in der auch die internen Umwelten, die konkret über die Entwicklung der einzelnen Zellen (weitgehend) bestimmen, “vorgesehen“ sind und erzeugt werden.
(Eine persönliche Bemerkung: Sie diskutieren hier über eine Sache, zu der es eine Fachwissenschaft gibt, die Sie aber fast nicht kennen. Ich rate Ihnen, sich wenigstens etwas damit zu befassen. Was Sie hier z. B. über Biozönosen schreiben, geht naturwissenschaftlich einfach nicht. Es gibt vielleicht auf keinem naturwissenschaftlichen Gebiet in der Öffentlichkeit so viele Märchen wie auf dem der Ökologie.)
Die naturwissenschaftlichen Paradigmenkerne sind also kulturelle Konstruktionen (das kann man ja auch von Kuhn lernen). Aber daß die Annahme der absoluten Identität des lebenden Individuums über seine Lebenszeit ebenfalls eine kulturelle Konstruktion ist, glaube ich nicht. Denn es ist gar keine metaphysische, aber das Gebiet der Naturwissenschaften betreffende Behauptung (nämlich die Theorieentwicklung mehr oder weniger unbewußt lenkende, s. Kuhn). Es wird keineswegs behauptet, wie Sie immer meinen, daß das Individuum als ein empirischer Gegenstand sich gleich bleibt, was aber natürlich nicht stimmt und sich nur der Gewohnheit oder die Erfahrung, daß bestimmte Eigenschaften von Personen dauerhaft sind, verdankt. Das ist eine Ebene, mit der die Frage der absoluten Identität gar nichts zu tun hat. Es gehört einfach nicht zum Thema, daß man sich bezüglich der Identität eines Menschen – ist es er oder sein Zwilling? – irren kann; man mag ihn fälschlich für den Zwilling halten, aber dann denkt man trotzdem den Gemeinten als mit sich absolut über die Zeit identisches Individuum.
Wenn schon Erfahrung, dann mit sich selbst: Sie selbst wissen (und zwar nicht auf naturwissenschaftliche Weise), daß es eben Sie waren, ganz genau Sie, der vor 3 Jahren gelogen hat, und nicht ein anderer Mensch mit mehr oder weniger ähnlichen Eigenschaften. Nach diesem Muster denken wir nicht nur uns, sondern auch andere Menschen und auch die Tiere. Wenn Sie von „kultureller Konstruktion“ reden wollen, müßten Sie zeigen, daß es irgendwo eine Kultur gibt, in der anders ist, in der man z. B. nicht den alten Hund für eben das Individuum hält, das einst ein junger Hund war, – als individuelles Lebewesen absolut identisch. Glauben Sie allen Ernstes, daß es das gibt?
Ich vermute (wirklich begründen kann ich es nicht), daß es sich nicht um eine kulturelle Konstruktion handelt, sondern um eine Implikation von Subjektivität überhaupt, also von etwas, was wir allen Menschen unterstellen (unterstellen!, es ist kein naturwissenschaftliches Wissen oder Glauben! Aber mit Grund unterstellen). Ja, wir unterstellen es nicht nur Menschen, sondern in nuce allen Lebewesen. Auch in dem Versuch, das Subjektivitätsthema zu naturalisieren, d. h. in der Autopoiesistheorie, unterscheiden nach meiner Erinnerung (es ist Jahrzehnte her) autopoietische Systeme (also “Subjekte”) logisch notwendig zwischen autopoietischen Systemen (also anderen “Subjekten”) in ihrer Umwelt und Gegenständen, die sie selbst durch Zusammenfassung von autopoietischen Systemen bilden. Das ist nichts als ein Versuch, den alten Unterschied zwischen Wesen und Dingen oder substanziellem und akzidentellem Sein (etwa in der Monadologie von Leibniz) neu zu formulieren. Das ist einfach für alle selbstreferentiellen Systeme ein unhintergehbarer Unterschied.
Weil Sie immer mit der Kleinkindentwicklung kommen und versuchen, sie empiristisch zu begreifen: Kinder im Alter von 4 oder 5 Jahren fragen gern: Hast du schon gelebt, als es Dinosaurier gab? Und wenn man verneint, fragen sie: Und wo warst du dann? Einer meiner Enkel fragte einmal beim Anblick eines Höhlenbären-Skeletts: Denkt der Bär noch an seine Mama? Und als ich sagte: Das sind doch nur Knochen, die können nicht denken, fing er an, heftig mit mir zu streiten: Das weiß ich selbst, aber der Bär! Was heißt das? Kinder, sobald „die Vernunft erwacht“ ist, d. h. hier: sobald sie sich als Subjekt denken, wissen um die absolute Identität ihrer selbst über die Zeit hin; sie waren früher genau der, der sie jetzt sind. Und sie denken jedem, der „so ist wie sie“, sei es ein erwachsener Gesprächspartner, sei es ein Bär, eben diese Identität zu. Solche Wesen können einfach nicht nicht sein und sie sind immer eben diese Individuen, die sie jetzt sind.
Das hat mit Empirie nicht das Geringste zu tun. Man erfährt das nicht durch wiederholte Beobachtung, sondern denkt es in die Objekte (bzw. anderen Subjekte) hinein, und zwar notwendig. – Das ist Ihr Problem: daß Sie ausschließlich empirisch denken und darum einfach nicht verstehen können, was ich meine oder was der größte Teil der philosophischen Tradition gemeint hat.
„…und diese Anlage (oder diese Einheit) gibt es auch in der Natur.(Ein Wald etwa hat (als Einheit) die Anlage, gewissen Organismen günstige Lebensbedingungen zu bieten und dann von ihnen zu profitieren.“
Das ist keine Anlage, eine Anlage ist etwas vollkommen anderes. Nicht nur der Wald, auch eine völlig von Leben freie Wüste bietet manchen Lebewesen, die dort hinkommen, günstige Bedingungen. Das ist aber nicht im Entferntesten dem ähnlich, was man eine Anlage nennt. Wenn Sie das so nennen wollten, dann müßten Sie beachten, daß der Anlage-Begriff vollkommen leer wird, zu keiner Unterscheidung mehr taugt. Die Sonne hat dann die „Anlage“, Planeten um sich kreisen zu lassen, ein bestimmter Asteroid hat die „Anlage“, auf die Erde zu fallen.
„Wenn wir als Lebewesen alles das bezeichnen wollen, an dessen Verwirklichung oder Regulierung ein ‘genetisches Programm’ beteiligt ist – dann sind auch wieder alle Ganzheiten in denen Lebewesen vorkommen ‘Lebewesen’, denn ohne die ‘genetischen Programme’ der darin vorkommenden Lebewesen existierte diese Gesamtheit so nicht“
Nein, damit verwischen Sie alle fundamentalen Unterschiede. Die ‘genetischen Programme’ der darin vorkommenden Lebewesen sind die „Programme“ eben dieser Lebewesen, nicht der „Ganzheiten“ (hier ein ganz unpassender Begriff), in denen Lebewesen jetzt vorkommen. Ein Lebewesen kann fast immer in vielen sehr verschiedenen Biozönosen leben, und es hat seine genetischen Programme und seine erblichen Eigenschaften in aller Regel in anderen Biozönosen entwickelt als in denen sie jetzt lebt, es hat sie nicht entwickelt, um bestimmte Funktionen in seiner jetzigen Biozönose auszuüben. Sein genetisches Programm programmiert in keiner Weise das, was in der Biozönose geschieht, nur, was die jeweilige Art selbst tut. Die Biozönose ergibt sich im wesentlichen aus dem Gegeneinander von Lebewesen mit ganz verschiedenen Programmen.
„… können doch Klimatologen heute nicht erklären, warum gewisse Temperaturen nicht über- bzw. unterschritten wurden bzw. werden. Dort scheinen also Selbstregulations-Mechanismen der Gesamtheit am Werk zu sein.“
Ich weiß nicht, ob die Klimatologen das erklären können, ich bin keiner. Aber Sie können sicher sein, daß es sich um auch nichts anderes handelt als etwa bei der Biomasse eines Waldes oder seinem Mikroklima oder bestimmten in ihrer Dichte einigermaßen gleichbleibenden Populationen: Es handelt sich um äußere Gleichgewichte, und wenn man es „Selbstregulation“ nennen möchte, so handelt es sich nicht um organische (holistische) Selbstregulation, wo „Selbst“ bedeutet: „die „ganze Einheit ist das Selbst“, sondern um eine Regulation, in der die einzelnen Teile – wenn es Organismen sind – “individualistisch” jeder für sich selbst „agieren“ und sich dann eben äußere Gleichgewichte einstellen.
„Wer seine Beute ausrottet, der stirbt dann ebenfalls. Und wessen Räuber stirbt, der vernichtet sich dann spätestens durch Untergang seiner eigenen Beute.“
Normalerweise ist das nicht so. Wer seine Beute ausrottet (was selten vorkommt, denn er stellt meist rechtzeitig sein Suchbild um), der weicht auf andere Beute aus oder verläßt den Ort. Bei Parasiten gibt es allerdings viele hochgradige Spezialisierungen, so daß eine Ausrottung des „Wirts“ in der Tat zum Ende der Parasitenpopulation führen würde. Das ergibt aber in der Regel oszillierende Populationsdichten, keine Ausrottung. Das hat aber nichts mit der Regulation bestimmter Werte in Organismen zu tun. Es sind einfache äußere Gleichgewichte. Wenn ein Pflanzenbestand das Bodenwasser aufbraucht, kümmert er, sein Wasserverbrauch nimmt ab und der Bodenwasservorrat füllt sich wieder. Das hat keinerlei Ähnlichkeit mit den Prozessen, die bei einem Organismus dazu führen, daß beispielsweise ein bestimmter innerer Wasserzustand aufrechterhalten wird.
zu Ludwig Trepl @ Gärtner: Vater …
Vielen Dank für Ihrer umfangreiche und kritische Stellungnahme zu meinem Kommentar.
Zur Ihrer ersten Antwort: „Die Frage wohl schon, aber die Antwort muss, ….. Logik des Opfers, nicht des Tauschs.“
Ich lese den „Schöpfungsmythos“ des Alten Testaments als Mythos und nicht als Offenbarung wie die meisten Theologen (es vielleicht müssen). Ich bin kein Kreationist, sondern lehne den Kreationismus genauso ab, wie die Position der Atheisten, die den Mythos als „Unsinn“ abstempeln. Literatur, die sich 2500 Jahre hält und über die ganze Welt verbreitet ist, fordert zuerst meine vollste Hochachtung und hat es verdient genauer befragt zu werden.
Der „Im Anfang“ Mythos, in Anlehnung an die Übersetzung von Buber und Rosenzweig gemeint, gleicht m.E. eher einer Ouvertüre einer Oper, die zwar schon wesentliche Elemente des Ganzen enthält, doch nicht den eigentlichen Kern. Für mich liegt der Kern des „Im Anfang“ – Mythos in der Turmbau zu Babel Erzählung. Zieht man die Interpretationslinien nach vorne, so zeigt sich der Mythos in einem ganz anderen Licht, als seine gängigen Deutungen.
Der Mythos verfährt streng in der Logik des Ockhamschen Razors, so dass nichts Überflüssiges in ihm zu finden ist. „Sie sprachen ein Mann zum Genossen: Heran! backen wir Backsteine und brennen wir sie zu Brande! So war ihnen der Backstein statt Baustein und das Roherdpech war ihnen statt Roterdmörtels. Heran! bauen wir uns eine Stadt und einen Turm, sein Haupt bis an den Himmel, und machen wir uns einen Namen!“ (Buber/Rosenzeig Band I, S 33)
Es markiert hier der Mythos, was archäologisch den Unterschied zwischen Göbekli Tepe und Catal Hüyük ausmacht. In Göbekli Tepe wurden Steine aufgestellt, wie in Stonehenge oder anderen neolithischen Steinkreisen. Sieht man diese als Versammlungsorte und Kultstätten der Wildbeuter Gesellschaften, die nur temporär genutzt wurden, an, so haben wir vor uns zugleich die ursprüngliche Form von Religion. [Ich sehe den Begriff „Religion“ ausschließlich im Sinne Max Webers als kollektive Erscheinung. Eine private Religion gibt es ebenso wenig wie eine Privatsprache]. Sie hat mit Viehhaltung, und Agrarproduktion nichts zu tun. Die astronomische Präzision von Stonehenge setzt astronomische Kenntnisse auf allerhöchstem Niveau schon voraus. Warum also einen solchen Aufwand betreiben, um das zu erreichen, was man längst besitzt? Sieht man allerdings Stonehenge rein ästhetisch, das entfaltet die Anlage jene Wirkung der Empfindung von Erhabenheit, was sie heute noch ausstrahlt, als eine Kathedrale der Steinzeit. Angenommen unsere werten Vorfahren hätten Stonehenge oder Göbekli Tepe nur errichtet, um in gemeinsamer Arbeit, anschließendem gemeinsamen ekstatischen Feiern, in bacchantischen Orgien, jene kollektiven Empfindungen zu erzeugen, die heute noch die Massen faszinieren, dann hätten wir es mit einem reinen ästhetischen Moment zu tun. (Vergl. Dazu Max Weber zum Begriff der Ekstase in der Religion)
Stonehenge und Göbekli Tepe wären dann als reine autonome Kunst, die in kollektiver Arbeit alle (kollektiven) menschlichen Fähigkeiten in sich vereint, anzusehen und hätten damit gleich den Gebilden der Natur ein Für-Sich-Sein. Es ist eine gigantische Arbeitsleistung die Bausteine von ihrem Ursprungsort an ihren Bestimmungsort zu bringen, sie präzise auszurichten und aufzustellen. Wenn die Clans der Wildbeuter sich nur temporär zu bestimmten Zeiten an diesen bestimmten Orten vereinigten um diese kollektiven Leistungen zu vollbringen, dann zog sich die Arbeit, wie später auch in den Kathedralen der Gotik über Generationen hin. Das schuf ein Band der Kollektivität und Tradition in deren Zentrum nicht zweckrationale Arbeit auf höchstem künstlerischen Niveau stand.
Ich glaube, dass hierin die kollektive eiszeitliche Jagd, die zu bestimmten Zeiten an geeigneten Orten an der Wanderwegen des Großwildes stattfand, nach dem Schmelzen des Eises substituiert werden sollte. Das Schmelzen des Eises muss die eiszeitlichen Kulturen in eine große Krise gestürzt haben, wie alle dramatischen Veränderungen. Alle Gewohnheiten mussten umgestellt werden.
Der Mythos setzt genau hier in diesem Bruch mit der Tradition an und lehnt sich dagegen auf. Das Brennen der Backsteine, zweckrational fortschrittlich erscheinend, ist für die Gleichheit des Kollektivs in sich ein Bruch. Bekannt ist, dass das Brennen der Backsteine im Nahen Osten seinerzeit Umweltschäden anrichtete, die sich noch heute auswirken. Wie weit die Produktion von Backsteinen und deren Verarbeitung zu einer Zitadelle Arbeitsteilung in Richtung Herrschaft und Knechtschaft erforderlich macht, braucht nicht näher dargelegt zu werden.
Der Bau der Zitadelle zu Babel diente nicht mehr dazu, Kollektivität zwischen verschiedenen Wildbeuter Clans herzustellen, sondern einem bestimmten Kollektiv sich über die anderen einen Namen zu machen. Anders ausgedrückt: Sie sprachen nicht mehr die Sprache der anderen.
Während die Riesensteine nur gemeinschaftlich in größter Anstrengung geborgen und transportiert werden konnten, war das für den Bau der Zitadelle mittels gebrannten Backsteinen nicht mehr notwendig. Gebrannte Ziegel unterscheiden sich von ungebrannten Ziegeln durch ihre Haltbarkeit. Sie haben Ewigkeitscharakter wie die Felssteine.
In Catal Hüyük sitzt die altsteinzeitliche Venusfigurine, die als Figürchen über Jahrtausende über ganz Europa verbreitet war, auf dem Thron. Sie ist sesshaft geworden, besitzt, wie die sesshaften Bewohner der Häuser um den Tempel herum. Sieht man die temporären Vereinigungen der wildbeuterischen Clans als matriarchale Form der Religion und die Venus Figurinen als deren Symbol, dann geht in Catal Hüyük die matriarchale Gesellschaftsform in die patriarchale über und wird im Ziegelbrennen zu Babel endgültig.
Der Monotheismus ist dann aber nicht die Ausdrucksform des Patriarchalen, sondern der immer scheiternde Versuch, die ursprüngliche Gleichheit aller Menschen wieder herzustellen. Der Gott des Mythos ist nichts anderes als die Projektion eine gegen die Macht der Stadt gerichteten transzendentalen Macht.
Selbstverständlich sucht die herrschaftliche Macht des städtischen Kollektivs den Mythos zu bekämpfen oder diesen in sich zu integrieren, wenn ersteres nicht gelingt, wie weiland Rom das Christentum inkorporierte. Im Papsttum überlebte das Cäsarentum, das römische Recht im Kirchenrecht.
Die Stadt ist keine Verlängerung des Dorfes, sondern geht aus den Kultstätten der Wildbeuter Clans hervor, die aus zweckrationalen, logistischen, Gründen einst besiedelt werden mussten. Die „Bewacher“ und Logistiker der Kultstätten entfalteten nach und nach herrschaftliche Macht, was nur allzu menschlich ist.
Die Stadt ist die heute die überragende Existenzform auf dieser Erde. Gegen sie geht gar nichts mehr. Umso wichtiger ist es, den Begriff „Stadt“ als für-sich-seiende Existenzform zu begreifen. „Stadt“ lässt sich nicht von einem biologischen Organismus herleiten, sie hat andere konstituierende Bedingungen. Wenn aber „Stadt“ wie andere auf institutionelle Tatsachen beruhende Seinsformen Erscheinungsformen dieses Planeten sind, dann lässt sich dieser ebenso wenig als bloß biologischer Organismus betrachten.
„Die Umwege über die Ästhetik“, die zu einer Versöhnung führen könnten, sind im Grunde keine Umwege, sie sind die verschütteten Wege (Sinn) ursprünglichen menschlichen kollektiven Handelns. Wie ein Chor, wo nur sehr wenige Solostimmen haben, der in kollektiver Arbeit seine Darbietungen sich abringt, dann doch ästhetisch Großes hervorzubringen vermag, so bietet die kollektive Arbeit an der Kunst ungeahnte Möglichkeiten, dann wenn wir von partikularen Interessen und reinem zweckrationalen Handeln abrücken. Die Möglichkeiten sind ungezählt, sie liegen auf der Straße, und das ist wörtlich zu nehmen.
@Ludwig Trepl
Ich verstehe und begreife, dass wir (unsere westlichen Gesellschaften) das heute (oft) so sehen. Nur sind diese Bedingungen aus meiner Sicht (zumindest teils) eine kulturelle Konstruktion und insofern prinzipiell ebenso beliebig wie die Bezeichnung als derselbe Wald oder dieselbe Gesellschaft. Und an diesem unterschiedlichen Glauben hängt (da bin ich ganz bei Ihnen) die gesamte Diskussion. Allerdings sehe ich keine Möglichkeit zum Beweis der einen oder anderen Sicht. Alles, was mir möglich scheint, ist eine Plausibilisierung aufgrund verschiedener empirischer Beobachtungen.
Dazu gehört, dass wir jede Identität immer erst konstruieren müssen, denn wir können sie nicht unmittelbar erfahren. Ich kann nicht erfahren, ob die Person mir gegenüber dieselbe ist wie diejenige, mit der ich gestern sprach – oder nicht doch deren Zwilling. Wenn wir nun nicht irgendwie erfahren haben, dass dieses Gegenüber einen Zwilling hat, dann werden wir auch bei verschiedenem Verhalten ob des gleichen Aussehens noch an Identität glauben und dem Gegenüber nur launisches Verhalten, Vergesslichkeit oder Ansätze von Schizophrenie etc. zuschreiben – bzw. an unserer Wahrnehmung zweifeln wenn uns etwa kleine optische Unterschiede auffallen sollten. Das wird von Zauberkünstlern gern genutzt und im Film Prestige – Die Meister der Magie erfahrbar dargestellt.
Kindern fehlt diese Fähigkeit zur Konstruktion der Identität voerst: Sie müssen etwa erst lernen, dass Personen weiter existieren, wenn sie nicht mehr zu sehen sind. Oder dass gewisse Eigenschaften der Person dauerhaft sind (etwa das Geschlecht). Oder dass sich gewisse Dinge ändern können (was wohl nicht alle Kulturen lernen). Oder dass nicht die Form die Identität begründet, sondern die Matiere. Klassisch insofern das Wasser-Experiment dasselbe Wasser in einem anderen Gefäß ist Kleinkindern zunächst nicht dasselbe. Und auch wir Erwachsenen werden es nur dann als dasselbe ansehen, wenn wir irgendwie erfahren haben, dass die Materie identisch ist.
Immer definiert unsere Gesellschaft, was identisch ist – und was nicht. Der ‘kategoriale’ Unterschied entsteht nur durch die permanente und unbewusste Zuschreibung von Identität. Er entsteht, weil wir gewisse Prämissen ob ihrer unwidersprochenen wiederholten Erfahrung nicht mehr hinterfragen. Und das tun wir eigentlich auch nicht mehr für ‘den’ Wald um die Ecke oder an unserem Ferienort – denn den sehen wir oft genung, um die Identität trotz aller Veränderungen unhinterfragt zu konstruieren.
Dass wir wissenschaftlich die eine Identität nachvollziehen und die andere hinterfragen, das liegt aus meiner Perspektive an der Ansicht – die verschiedenen Elemente des Waldes begegnen uns als separate Forschungs- und Anschauungsobjekte, während uns die Zellen eines Mehrzellers nicht anschaulich begegnen können.
Das stimmt aber nur wieder als basale Anlage – und diese Anlage (oder diese Einheit) gibt es auch in der Natur.
Ein Wald etwa hat (als Einheit) die Anlage, gewissen Organismen günstige Lebensbedingungen zu bieten und dann von ihnen zu profitieren. Aber diese Organismen müssen sich auch dort ansiedeln, damit diese Anlage entwicklet wird. Und diese Organismen können ihrerseits ihre Anlagen nur in jeweils günstigen Bedingung entwickeln.
Und bei der Ausgangszelle ist es nicht anders, sie kann sich in gewisse Richtungen entwickeln, wenn ihre Umwelt das gestattet. Meist tut sie das recht unproblematisch, aber nur weil sie eben (wie die Käfer etc.) in die günstige Umwelt hinein kommt. Ändert sich diese Umwelt, dann entwickelt sich die Zelle nicht – ihre Anlagen verkümmern. Wir haben da in Deutschland ein trauriges Beispiel mit der Contergan-Affäre.
Kurz: Das Ganze bedingt immer die Entwicklung des Individuellen und das Individuelle die des Ganzen. Ändert sich eines, entwickelt sich das andere. Und zumindest wenn daran Lebewesen beteiligt sind, ist das Ganze auch ein ‘Lebewesen’, denn die Verknüpfungen sind (wie auch @Balanus schrieb) immer auch so qualitativ wie innerhalb der Lebewesen.
Wenn wir als Lebewesen alles das bezeichnen wollen, an dessen verwirklichung oder Regulierung ein ‘genetisches Programm’ beteiligt ist – dann sind auch wieder alle Ganzheiten in denen Lebewesen vorkommen ‘Lebewesen’, denn ohne die ‘genetischen Programme’ der darin vorkommenden Lebewesen existierte diese Gesamtheit so nicht und würde sich nicht so organisieren.
Nun könnte man natürlich versuchen, auf die Unmittelbarkeit des genetischen Programms abzustellen. Nur funktioniert das lediglich bei Einzellern – dort wirkt das Programm ebenso unmittelbar wie die Umwelt. Schon bei Mehrzellern aber wirkt das Programm nur indirekt, wirkt also selbst nur über eine Umwelt – aus unserer Perspektive eine dem Lebewesen interne, aber eigentlich ist sie den lebenden Zellen rein extern. Der Austausch funktioniert wie bei Einzellern nur über die Zellmembran. In beiden Fällen beruhen die Wechselwirkungen auf physikalischen und chemischen Gesetzen.
Aber das gilt auch für die Wechselwirkungen zwischen den Lebewesen einer Biozönose. Auch die kommunizieren ausschließlich nach physikalischen und chemischen Gesetzen – auch wenn wir dazu durchaus Beschreibungen auf höherer Ebene gefunden haben, die es uns ersparen all die einzelnen Reaktionen zu benennen und zu verstehen. Aber weil dem so ist – wieso sollten sie dann keine ‘Lebewesen’ sein?
Was ist dann aber der Unterschied zwischen dem Mikroklima der Ameisen und dem Thermostat der Menschen? Sind nicht beide Ausdruck eines genetischen Programms, sprich Verwirklichung einer biologischen Anlage? Denn es geht doch immer um Erreichen des genetisch vorgegebenen Zieles – die erforderliche Körpertemperatur zu erhalten. Was wir Menschen aufwendig durch viel Nahrung tun können – oder durch Nutzung einer Heizung/Klimanlage mit Thermostat, die dann weniger Muskelkraft und damit Nahrungsaufnahmer erfordert.
Aber ist denn dort wirklich ein bestimmter Wert vorgesehen oder festgelegt? Ist es nicht vielmehr (zumindest auch) eine Frage der Anpassung? Menschen aus dem Süden müssen bei gleicher Außentemperatur viel mehr heizen als solche aus dem Norden – weil ihre innere Klimaanlage anders eingestellt ist. Die genetische Anlage ist wohl überwiegend (bis auf Hautfarbe und Haare etwa) gleich, aber sie haben sich in Abhängigkeit von der Umgebung entwickelt. Wechselt nun die Umgebung, dann ist/scheint es dem Menschen heute oft leichter diese Umgebung anzupassen als sich selbst (obwohl auch letzters funktioniert, nicht umsonst gibt es entsprechende Trainingslager für Leistungssportler).
Wenn wir aber dieser Prämisse folgen, dann gibt es kein internes Programm für einen festgelegten Wert, sondern nur eine der Struktur angemessene Spanne von Arbeits-Umgebung. Wobei sich die Struktur dann diese Arbeitsumgebung auf verschiedene Wege schaffen kann (z.B. Essen oder Heizung). Und solche Arbeits-Umgebungs-Spannen gibt es auch für Biozönosen, ja sogar für die ganze Erde – können doch Klimatologen heute nicht erklären, warum gewisse Temperaturen nicht über- bzw. unterschritten wurden bzw. werden. Dort scheinen also Selbstregulations-Mechanismen der Gesamtheit am Werk zu sein. Nur hat diese Gesamtheit eben schon einige Metarmorphosen durchgemacht.
Aber dann gibt es womöglich auf basaler Ebene nur ein ‘physikalisches Programm’, das wie schon in der Organismen-Diskussion angesprochen lediglich auf Erhöhung der Entropie aus ist – rein physikalisch oder später eben auch chemisch oder biologisch oder menschlich. Und damit bin ich bei dem, was ich oben unverständlich angedeutet hatte:
Evolutionäre Erklärung heißt ja, dass sich die jeweils am besten an die aktuelle Umwelt angepassten Organismen am meisten vermehren und damit bevorzugt werden und überdauern. In ‘Lebewesen’ wie der Biozönose wirkt damit die Evolution immer beschränkend sowohl auf Räuber als auch auf Beute: Wer seine Beute ausrottet, der stirbt dann ebenfalls. Und wessen Räuber stirbt, der vernichtet sich dann spätestens durch Untergang seiner eigenen Beute. Und wenn sie den Ort wechseln, dann werden auch die Anpassungkarten neu gemischt.
Und möglicherweise ist es innerhalb der Lebewesen ebenso – die am besten angepassten Zellen vermehren sich am meisten (solange sie Baumaterial = Beute haben), nur sind sie das immer dann nicht mehr, wenn sie aus ihrer angedachten Umgebung herauswuchern. Dann müssen sie sich also ‘evolutionär’ den daran angepassten Zellen anpassen – und absterben. Es sei denn, sie haben diese Anpassung selbst verloren, sind also Krebszellen, und wuchern dann ohne jede Beschränkung weiter. Bis sie ihre Beschränkung darin finden, dass ihnen das Baumateriel nicht mehr zur Verfügung gestellt wird, weil der Organismus als ganzer nicht mehr lebensfähig ist.
So ist das natürlich viel zu grob – aber für das menschliche Gehirn (oder auch Muskeln) scheint die evolutionäre Erklärung auch auf das Individuum zuzutreffen.
@ Noït Atiga Teil 2
Mit vielem von dem, was Sie hier schreiben, bin ich einverstanden (auch wenn Sie glauben, mit damit zu widersprechen). Manches verstehe ich nicht, z. B. dies: „Sie schrieben oben, dass auf ‘Lebewesen’ nur die evolutionäre Erklärung passt. Wenn wir nun die prinzipielle Verschiedenheit zu Lebewesen aufgeben, könnte es dann nicht sein, dass die evolutionäre Erklärung auch für die Lebewesen selbst, also in ihrem Körper die zutreffende ist?“ Manches halte ich für falsch:
„Etwa scheint mir die von Lebewesen gebaute Höhle für den Vergleich untauglich, denn diesen externen Effekt können wir bei ‘Lebewesen’ gar nicht so unmittelbar beobachten oder definieren.“
Doch, das machen wir in der Ökologie doch dauernd. Wir beobachten, daß von Lebewesen eine Wirkung ausgeht, z. B. werfen Pflanzen Schatten oder Spechte erzeugen in ihrer Höhle, Ameisen in ihrem Bau ein bestimmtes Mikroklima, und wir können sehr genau wissen, welche Wirkung das auf die jeweiligen Lebewesen oder auf ihre Nachkommen hat.
„…”aktive Regulation” fordern. Denn auch die Regulation in Lebewesen erfolgt meist nicht aktiv im Sinne von irgendwie bewusst ein Ziel anstrebend, sondern sie ist automatische Folge der Umweltveränderungen – nur dass sich eben nicht ein einzelner Wert anpasst, sondern eine ganze Kette von Werten wie Dominosteine umfällt. Es gibt also keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der Funktionsweise eines Thermostaten am Heizkörper und der Regulation der Körpertemperatur.“
„Aktiv“ bedeutet in der Biologie nie, daß der ein Bewußtsein am Werk ist. Wo wir das berücksichtigen, betreiben wir nicht mehr Biologie. „Aktiv“ ist – dieses Thema hatten wir in den letzten Wochen hier schon öfter – eine regulative Annahme, die aber notwendig ist, weil wir ohne sie Lebewesen gar nicht von Nicht-Lebewesen unterscheiden können. Biologisch betrachtet ist hier ein „genetisches Programm“ am Werk (auch so eine metaphorische Formulierung wie „aktiv“, denn wörtlich genommen kann es in der Natur kein Programm geben).
Und da liegt eben der prinzipielle Unterschied zwischen der Funktionsweise eines Thermostaten am Heizkörper und der Regulation der Körpertemperatur, aber auch die Analogie: Den Thermostaten hat jemand eingerichtet, die Regulation der Körpertemperatur nicht. Aber sie ist doch „eingerichtet“: durch das genetische Programm, da ist sie „vorgesehen“, als „Anlage“ vorhanden. Und eben da liegt auch der Unterschied zwischen Thermostat und organismischer Temperaturregelung auf der einen Seite und „Regelungen“ von irgendwelchen Gleichgewichten in der unbelebten Natur und in den synökologischen Einheiten (Biozönosen) auf der andere Seite: Bei letzterem gibt es in keinerlei Sinn einen vorher „festgelegten“ Wert:
Der Boden des Fließgewässers bleibt in gleicher Höhe (durch Gleichgewicht von Ablagerung und Abtrag), solange sich nichts ändert; ändert sich irgend etwas (Wassermenge, Geschiebefracht …), ändert sich auch der Gleichgewichtswert. Für die Gleichgewichtswerte der Populationsgrößen etwa in Räuber-Beute-Beziehungen oder der Biomassewerte von Beständen gilt Entsprechendes. Die Regelung durch den Thermostaten oder die entsprechende Regelung bei einem „Warmblütler“ aber setzt ein, weil sich etwas ändert. – Wenn man mal den Aspekt der Bewußtheit am Akt der Konstruktion beiseite läßt, dann ist die durch Thermostaten gleichgehaltene Temperatur nichts anderes als ein nach außen verlagertes organisches Gleichgewicht – wie bei einem Thermometerhuhn; das hat den Temperaturfühler in seinem Schnabel und den Sollwert in seinen Genen.
„Mir scheint auch das Abstellen auf die Existenz einer Zentrale nicht zwingend zu sein.“ Ja, das habe ich ja auch geschrieben. Aber es gibt doch die Einheit, der man die zukünftige Entwicklung zuschreiben muß (auch wenn die nicht weiter zentralisiert sein muß): Es ist die sich dann teilende Ausgangszelle. Ihr als Ganzes muß man das zuschreiben, was aus ihr wird. „…
eigentlich nur Anlagen“. Genau, sag ich doch. Und dieser Begriff der Anlage hat kein Äquivalent in der nicht-lebenden Natur und auch nicht in Biozönosen.
„Der Wald ist nicht mehr derselbe, wenn eine andere Tierspezies hinzukommt – aber er entwickelt sich nun selbst mit ihr weiter. Eine Gesellschaft ist nicht mehr dieselbe, wenn sie Ausländer als Gastarbeiter ins Land holt – aber sie entwickelt sich …. Und auch Individuuen sind nicht mehr dieselben, wenn andere Zellen hinzukommen.“
Das stimmt nicht. Da liegt eben der entscheidende Unterschied, den gilt es zu begreifen, daran hängt alles: Ich kann ohne weiteres sagen: Der Wald ist nicht mehr derselbe, denn er besteht nun aus anderen Arten, oder die Gesellschaft ist nicht mehr dieselbe, sie hat nun eine andere „ethnische“ Zusammensetzung. Ich kann sogar nach Belieben sagen: Wenn auch nur eine einzige Spezies („Gastarbeiter“) hinzukommt, haben wir nun eine andere (Pflanzen-)Gesellschaft vor uns. Ich kann aber ebenfalls nach Belieben sagen: es ist noch eben diese diese (Pflanzen-)Gesellschaft, sie hat nur andere Eigenschaften als vorher. Ich kann auch z. B. bei einem Buchenwald sagen: wenn von den 40 Pflanzenarten 30 ausgetauscht wurden, ist es immer noch dieser Buchenwald, denn die definierten (und ihn definierenden) Charakterarten sind noch da (genau das macht man in der pflanzensoziologischen Praxis).
Bei Organismen aber haben wir diese Freiheit nicht: Wenn im Laufe der Entwicklung (ob normal oder krankhaft) eines Hundes noch so viele andere Zellen hinzukommen – es ist immer noch genau dieser Hund, dieses Individuum. Aber seine Eigenschaften haben sich geändert. Die Bedingungen, unter denen wir von Identität sprechen, sind kategorial verschieden von denen im Falle des Waldes.
@ Gärtner Noosphäre – Du-Perspektive
„Die Noosphäre gehört dieser Welt genauso an, wie der das Magnetfeld generierende Eisenkern im Zentrum des Planeten.“
Einerseits scheint diese Rede von den Sphären (oder Reichen oder Welten) unproblematisch, andererseits erscheint sie mir das aber nicht.
Unproblematisch: Dieser unserer Welt gehören zweifellos Bürgermeister, Geld und die Oscarverleihung genauso an wie jener Eisenkern, und an Wenigem sieht man die Idiotie des Zeitgeists so deutlich wie dem naturalistischen Glaubensbekenntnis, daß es nur das wirklich in der Welt gebe, was den Naturwissenschaften zugänglich ist.
Problematisch: Mir scheint in dieser Rede von den Sphären oder Reichen oder Welten bereits die Verdinglichung zu stecken, gegen die Sie sich ja wenden. Der vom subjektiven Geist, dem Geist in den einzelnen Köpfen, ablösbare Gedanke – der Gedanke in dem Sinn, daß sich fragen läßt, ob er wahr oder gültig ist – beispielsweise „existiert“ nicht im gleichen Sinn wie man von dem Körper denkt, daß er exisiert. Es ist nicht falsch zu sagen, daß der Gedanke „wirklich“ nur als subjektiver, in einem bestimmten Hirn, existiert. Aber er hat eine Dimension, nämlich die des Geltens, die sich auf der Ebene, auf der die subjektiven Gedanken existieren, der Ebene von raumzeitlichen Ereignissen, nie und nimmer finden läßt, ohne die sich aber überhaupt nicht begreifen läßt, was ein Gedanke ist (weshalb die „Philosophie des Geistes“ ja auch nicht begreift, was das für ein Gegenstand ist, nach dem sie sich benennt).
Sie fordern einen
„Perspektivenwechsel von der in der Wissenschaft und Philosophie des Geistes, besonders in den „Neuro-XYZ-logien“ präferierten „Ersten-“ und „Dritten-Person-Perspektiven“ als die alleinigen hin zur „Zweiten-Person-Perspektive“ als der zentralen.“
Erstens: Kann man wirklich sagen, daß der im Zeitgeist vorherrschenden naturalistischen Denkweise die Erste-Person-Perspektive bekannt ist? Sicher, man praktiziert sie, schon deswegen, weil man als Wissenschaftler dauernd am Denken ist. Aber zugleich ist dieser Denkweise nichts fremder als der Mensch als Subjekt. Am deutlichsten zeigt sich das gerade da, wo man meint, in Absetzung von der „klassischen“ Wissenschaft der Problem der Subjektivität endlich zu thematisieren, etwa in der Autopiesis-Theorie: Man macht daraus eine naturwissenschaftliche Frage, eine in der Dritten-Person-Perspektive zu behandelnde.
Zweitens: Ich meine, als naturpolitische Strategie (oder wie man das nennen soll) funktioniert das mit der Du-Perspektive heute nicht mehr (so ganz). Sie schreiben:
Die „Explikation des Begriffs ‚Gaja’ [kann] in der heutigen Zeit nur in der ‚Zweiten-Person-Perspektive’ geschehen. Nur dann, wenn wir allen Lebewesen in Achtung und Ehrfurcht in der Logik des ‚Als-Ob-Person’ gegenübertreten …“, und dann wollen Sie die „Versöhnung zwischen Hyle- und Biosphäre“.
Letzteres geht heute definitiv nicht mehr. Die Welt der Körper läßt sich weder mehr als etwas denken noch empfinden, zu dem man Du sagen kann, d. h. als etwas, das die Anwendungsbedingungen des Begriffs „Versöhnung“ erfüllt. Das haben schon die Romantiker versucht, aber das ging bei ihnen nur unter der Bedingung, daß der Künstler den Dingen seinen Geist einhaucht und sie so „belebt“. Und wenn z. B. heute ein Bergsteiger einen Berg als würdigen Kampfgegner bezeichnet, so ist das Metaphorische mit Händen zu greifen, niemand meint das wörtlich.
Darum können sich auch Hyle- und Biosphäre nicht versöhnen. Anders ist es im Verhältnis von Noo- und Biosphäre. Man kann in der Kritik der Urteilskraft nachlesen, daß und in welchem Sinne an einem Geschehen, auf das Begriffe wie „gut für“ anwendbar sind, etwas beteiligt sein muß, das wir als „Naturzweck“ denken müssen, also Lebewesen. Dahinter können wir nicht zurück. Es ist um 1800 ein tiefer Bruch zwischen dem Reich des Lebendigen und dem des Nicht-Lebendigen entstanden, den es vorher nicht gab, und seitdem ist es uns nicht mehr möglich, etwas Nicht-Lebendes so zu denken, daß man, in welch indirekter Weise auch immer, die Du-Perspektive zu ihm einnehmen kann. Wenn man dennoch versuchen will zu begründen, daß man mit ihm nicht nach Belieben verfahren soll, dann muß man Umwege gehen. Ich vermute, die können nur über die Ästhetik führen.
Anders mit Lebewesen: Jeder weiß, daß man ihnen gegenüber die Du-Perspektive einnehmen kann, und auch immer einnimmt, wenn einen z. B. Mitleid mit ihnen ergreift, oder wen man trauert. Die Trauer um ein gestorbenes Haustier hat einen vollkommenanderen Charakter als die „Trauer“ um einen verlorengegangenen „geliebten“ Gegenstand. (Wenn man das einmal begriffen hat, was nur möglich ist dadurch, daß man in sich hineinfühlt und -denkt, hat man das Wichtigste aller „Naturethik“ verstanden, meine ich.)
Dennoch wäre ich mit dem Begriff der „Als-Ob-Person“ vorsichtig. Gewiß, nach einer Analogie mit uns selbst begreifen wir Lebewesen, anders könnten wir sie gar nicht von unbelebten Dingen unterscheiden. Aber „Person“ impliziert doch zu viel: Zurechenbarkeit, Verantwortlichkeit. Das aber ist notwendig, damit wir von „Achtung und Ehrfurcht“ sprechen können (was Achtung bedeutet, kann man bei Kant nachlesen, und Ehrfurcht hatte man zu Recht nie vor Tieren und Pflanzen, sondern vor ihrem Schöpfer). Aber für das Einnehmen der Du-Perspektive ist das ja auch gar nicht nötig: Zu einem kleinen Kind kann ich Du sagen, aber Achtung empfinde ich vor ihm nicht – wenn etwas dergleichen aufkommt, dann im Hinblick darauf, daß es in sich das Potential und die Bestimmung hat, ein verantwortlicher Mensch zu werden. Das verleiht schon dem Kind seine Würde, es hat sie nicht nicht im Hinblick darauf, was es aktuell ist. Aber verantwortlich ist man doch schon dem Kind gegenüber, und zwar nicht, weil es die Anlage zu einer Person im vollen Wortsinn hat, weil es die Bestimmung in sich trägt, einst jemand zu werden, vor dem man Achtung haben muß, sondern weil es im Moment so ist wie es ist: Es kann leiden, es kann sich freuen. Und das gilt nicht-menschlichen Lebewesen gegenüber genauso. Allerdings abgestuft. Auf Bakterien und Pflanzen muß man nicht im selben Maße Rücksicht nehmen wie auf Vögel und Hunde.
Mutter Erde /@Ludwig Trepl
»In der ursprünglichen Ganzheit, der totipotenten Zelle, die der Organismus einst war, existierte ja das Gehirn schon als „Anlange“. Es ist durch holistische Selbstorganisation des Organismus im oben beschriebenen Sinn entstanden.«
Darum setze ich die (ontogenetische) Entwicklung des Organismus bzw. eines Gehirns ja auch nicht mit der (phylogenetischen) Entwicklung einer Biospezies oder gar der gesamten Biosphäre gleich.
Der Punkt, auf den es mir ankam und der die Assoziation zum Gehirn weckte, war, dass jede Körperzelle einfach nur ihr internes Programm abarbeitet (unter Einfluss extrazellulärer Faktoren), sie „weiß“ nichts von einem übergeordneten Ganzen, zu dessen Funktion und Erhalt sie beiträgt. Es gibt auch keine übergeordnete Steuerungszentrale, nur eben die verbindende genetische Information und eine Vielzahl von zusammenwirkenden, zellulären Einheiten (die alle den gleichen Ursprung haben).
Dies scheint mir ein grundlegendes Prinzip zu sein, wenn es um die Entstehung von sich selbst stabilisierenden biotischen Systemen geht. Dass der Mechanismus der Selbstorganisation bei Organismen ein völlig anderer ist als etwa bei der Biosphäre, steht außer Frage.
Gemeinsam ist aber beiden, und das scheint mir fast noch wichtiger zu sein als der jeweilige Mechanismus, dass diese Selbstorganisation jeweils von „unten“ her erfolgt, aus relativ einfach strukturierten Anfängen heraus.
Sie bestreiten meine Behauptung, dass alle Organismen zusammen ein funktionales Ganzes (die Biozönose/-sphäre) bilden. Weil, so verstehe ich Sie, das so gebildete System von anderer Natur ist als das organismische System, welches allein mit Recht ein „funktionales Ganzes“ genannt werden kann:
»Man kann den Unterschied schön daran sehen, was geschieht, wenn man der Biozönose etwas wegnimmt, z. B. dem Wald eine Baumart oder alle Tiere oder alle Reduzenten usw.: die Biozönose ändert sich oder es entsteht eine neue Biozönose, das kann man nach Belieben so oder so sagen.«
Ja, das zeigt, dass die Biozönose ein den Organismen übergeordnetes und auch anders organisiertes System ist. Eben ein System bestehend aus Organismen.
Aber, und das ist mein Punkt, diese Organismen existieren nicht beziehungslos nebeneinander her, sondern da gibt es vielfältige wechselseitige Abhängigkeiten, auf allen Ebenen. So sind tierliche Organismen zum Beispiel angewiesen auf pflanzliche Produzenten.
Eine gewisse Ähnlichkeit mit einem echten Organismus, was die Abhängigkeit des Gesamtsystems von seinen Teilen angeht, kommt wohl erst dann ins Spiel, wenn die Biozönose die gesamte Biosphäre ist und die „Teile“ entsprechend groß und umfassend sind (wie bei den Organismen: nicht der Untergang einzelner Zellen ist kritisch, sondern der Verlust eines gesamten Organs). Was würde passieren, wenn wir aus der Biosphäre beispielsweise die Bakterien und/oder die Pilze rausnähmen? Sind diese Mikroorganismen für die Biosphäre nicht so etwas wie ein „lebenswichtiges Organ“? Oder nehmen wir die Weltmeere. Was geschähe mit der verbleibenden Biosphäre, wenn diese plötzlich verschwänden?
Wohlgemerkt, ich argumentiere hier nicht für Lovelocks Sicht, weder die Erde noch die Biosphäre ist das, was wir unter einem Organismus verstehen.
»Es (das irdische Gesamtsystem) stabilisiert nicht sich, sondern da wird etwas stabil, weil aufeinandertreffende „Kräfte“ sich ausgleichen.«
Ja, für das angesprochene irdische Gesamtsystem kann man das sicher so sagen. Aber wenn wir den biotischen des Systems betrachten, die Biosphäre, dann müssen wir doch feststellen, dass hier auch ganz andere „Kräfte“ am Werk sind, nämlich die Kräfte des Prinzips „Leben“.
»Man findet auch bei Lovelock solche sich halb distanzierenden Ausführungen. Sie sind auch recht typisch für die Vertreter der Superorganismus-Theorien in der Ökologie. Wenn es ernst wird, könne sie die Behauptung vom Ökosystem als Lebewesen doch nicht durchhalten, […]«
Ohne genauere Kenntnis dieser Szene: Vielleicht hat es ja damit zu tun, dass tatsächlich immer nur gewisse Ähnlichkeiten in bestimmten Bereichen gemeint waren oder sind. Die von Ihnen beschriebenen Unterschiede zwischen der Funktionsweise von Organismen und Organismengemeinschaften dürften ja, im Großen und Ganzen, allseits bekannt sein.
@ Gärtner: Vater im Himmel ohne Mutter
Lieber Herr Gärtner,
vielen Dank für den Kommentar, er bringt ganz neue Aspekte in unsere Diskussion. Ich sehe mich mangels Kompetenz nicht zu einem Gesamturteil in der Lage, will nur einige Punkte ansprechen, ohne auf deren Zusammenhang zu achten.
„Denn rein logisch macht der Begriff ‚Vater unser im Himmel’, die Frage nach der ‚Unserer Mutter’ unabdingbar.“
Die Frage wohl schon, aber die Antwort muß, glaube ich, für die Zeit nach dem Ende der „mythologischen“ Kultur, d. h. seit es die monotheistischen Hochkulturen gibt, anders ausfallen als für die Zeit vorher. Gaia wurde überflüssig, aber nicht ganz. Überflüssig, weil nun Gott allein der Schöpfer ist, er erschafft aus dem Nichts, es braucht keine Mütter und auch keine Erdmutter mehr. Es gibt keine Triade mehr. Den Vater nennt man den „Erzeuger“ des Kindes.
Produktion ist etwas, was nun dem Mann und nur ihm zukommt. Bauern und Arbeiter, also Männer, produzieren. Fronherren und später Kapitalisten beuten sie aus. Das Ausbeuter-Produzenten-Verhältnis besteht allein zwischen diesen und den Bauern/Arbeitern, also Männern. Nur sie sind Subjekte. Nur zwischen ihnen gibt es darum ein Rechtsverhältnis hinsichtlich des Produzierten: Es gehört dem Produzenten, und er bekommt etwas für seine Arbeit, worauf er einen Anspruch hat. Wenn dieser Austausch ungleich ist, ist das Ausbeutung.
Frauen werden nicht ausgebeutet – wie auch, sie produzieren ja nicht. Sie sind Natur, und was die Natur erzeugt, kann man nehmen, um damit zu produzieren. Das Verhältnis der Gesellschaft zu den Frauen ist wie das der früheren Nomadenkulturen zu ihrem Vieh, das der Bauernkulturen zu ihrem Boden. Vieh und Boden müssen nicht entlohnt werden. Aus der Sicht der Frauen aber unterliegt das ganze Verhältnis der Logik des Opfers, nicht des Tauschs.
Nun taucht aber Gaia wieder auf, zumindest in der christlichen Variante des Monotheismus. Wie das gegangen sein könnte, was es mit dem Aufkommen der Idee des freien, selbstverantwortlichen (nämlich selbst für seine Erlösung verantwortlichen) Individuums zu tun hat, ist eine komplizierte, mir nicht ganz durchschaubare Geschichte; das beste, was ich dazu gelesen habe, steht bei Eisel (http://www.ueisel.de/, da findet man eine Menge Literatur). Jedenfalls war es so, daß in der Neuzeit vor allem im Rahmen christlicher Kosmologien und Theodizeen der Begriff des Organismus aufkam (auch wenn der natürlich ältere, antike Wurzeln hat) und im christlichen Humanismus (in Deutschland vor allem bei Herder) auf die Erde und auf Teile der Erde als, wie es später, in der konservativen Kulturkritik) dann genannt wurde, „Einheiten von Land und Leuten“ übertragen wurde.
Diese Einheiten wurden als Organismen gedacht. Ein Organismus besteht immer aus etwas Körperlichem und etwas Seelisch-Geistigem. Der Boden ist der Körper, die darauf wachsenden Pflanzengesellschaften das Seelisch-Geistige, so dachte man in der frühen Ökologie das, was später „Ökosysteme“, Einheiten aus „Biotop und Biozönose“, genannt wurde, jedenfalls meist; beides zusammen ist ein Organismus höherer Ordnung. Eine Stufe höher: Der Körper ist die Natur, d. h. die Einheit aus „Biotop und Biozönose“, und das Seelisch-Geistige ist die mit diesem Körper unauflöslich verbundene Menschengemeinschaft; alles zusammen ist ein Organismus: die Kulturlandschaft; so dachte man in der Geographie 150 Jahre lang den primären Gegenstand dieser Wissenschaft. Und auch die ganze Erde wird nach eben diesem Schema gedacht. Das Menschengeschlecht ist der Seelisch-Geistige Teil dieses Über-Organismus.
Gaia ist also wieder da. Aber was ist anders als früher? Da können Sie vielleicht weiterhelfen. Mir, als Ökologietheoretiker, fällt nur ein: Diejenigen, die vor 30 Jahren den Begriff öffentlichkeitswirksam in die Diskussion gebracht haben, waren Naturwissenschaftler, sie wußten von der ganzen Ideengeschichte und der Fachgeschichte der Geographie nichts. Sie dachten die Erde als „Ökosystem“; dieser Begriff war inzwischen entstanden und hatte in Biologie und Öffentlichkeit außerordentliche Bedeutung erlangt. Natur als Ökosystem ist aber nicht als Organismus, sondern als Maschine gedachte Natur: Unter einem bestimmten Nutzungsinteresse wird ein bestimmter Bereich der Natur abgegrenzt und als diesem Interesse dienendes, Nützliches („ecosystem services“) produzierendes System modelliert. Die ältere Vorstellung vom Ökosystem als Überorganismus ist aber immer noch präsent und mischt sich mit der Maschinenvorstellung auf schwer durchschaubare Weise. So kommt auch die – naturwissenschaftlich unhaltbare – Vorstellung von der Erde als Lebewesen zustande, obwohl man eigentlich nur gezeigt hat, daß die Biosphäre ein Ökosystem von mehr oder weniger eng interagierenden Teilen ist.
Das, scheint mir, paßt gut zu dem, was Sie schreiben:
„’Das Gott’ gleicht bloß die längst total vollzogene Verdinglichung und Versachlichung der ‚Mutter Erde’ nur aus. Sie zählt nur noch als Wirtschaftsfaktor. ‚Das Erde’ ist längst schon Realität in unserem Bewußtsein.“
Man sagt „Gaia“, und darin drückt sich eine in unserer Kultur unausrottbare Sehnsucht aus, kann aber nicht mehr anders, als „in Wirklichkeit“ diesen nährenden und bergenden Über-Organismus als Maschine in unseren Diensten zu denken. (Auf einer anderen Ebene könnte man vielleicht auch sagen: So adaptiert das progressive, im wesentlichen liberale Bewußtsein das, was als Wahrheit am fortschrittskritischen Konservativismus nicht zu beseitigen ist.)
Ein anderes Thema:
Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe, aber mir scheint es problematisch, die „triadische“ Sphärenlehre Vernatzkijs so ohne weiteres mit anderen Drei-Reiche-Lehren zu verknüpfen. Wenn man wie Popper, Frege und viele andere eine erste Welt (die physische), eine zweite (die der wirklichen, empirischen Gedanken in dem Köpfen) und eine dritte, die der von dem wirklich Gedachten ablösbaren Gedanken, d. h. der im Hinblick auf ihre Geltung betrachteten Gedanken, unterscheidet, so deckt sich das nicht mit der Unterscheidung in eine Welt des Nicht-Lebenden, des Lebenden und des objektiven Geistes (wohl eher im Sinne von Dilthey als von Hegel gedacht).
Was die Naturalismuskritik angeht, so dürften wir uns einig sein. Ich habe in einigen anderen Blog-Artikeln der letzten Wochen (und vor allem in den Kommentaren dazu) immer wieder sehr ähnlich argumentiert, gegen die vielen Naturalisten, die „scilogs“ lesen.
Zu anderen Punkten Ihres Kommentars antworte ich später.
@ Balanus
„… man fühlt sich fast an das Gehirn erinnert: Nicht das Organ „tut“ etwas, um sich zu organisieren, zu erhalten und zu funktionieren, sondern es ist schlicht ein Effekt, der sich aus dem aktiven Zusammenspiel seiner Teile ergibt“
Den Vergleich finde ich irreführend: Die Teile sind ja durch die „Tätigkeit“ des Organismus als eines Ganzen überhaupt erst entstanden. In der ursprünglichen Ganzheit, der totipotenten Zelle, die der Organismus einst war, existierte ja das Gehirn schon als „Anlange“. Es ist durch holistische Selbstorganisation des Organismus im oben beschriebenen Sinn entstanden. Und alles im Organismus – jede Organtätigkeit, alle „biologischen“ Vorgänge im Organ – ergeben sich zwar aus dem Zusammenspiel seiner Teile (hier von „aktiv“ zu sprechen halte ich für eine hochproblematische Metapher), aber immer auch aus der Aktivität des ganzen Organismus, etwa über die Koordination von Nachbarschaftsbeziehungen, das Aussenden von Botenstoffen von irgendwo her usw. – Jedenfalls finde ich da bei der Biospezies nichts Entsprechendes.
„Kann man denn die Biosphäre nicht ebenfalls als eine übergeordnete biologische Einheit betrachten? Ein logisches Individuum, das sich aus der Gesamtheit und dem Zusammenspiel der Biospezies ergibt?“
Ja, durchaus. Diese Einheit hat auch einen Namen: Biozönose, die größtmögliche Biozönose auf Erden ist de Biosphäre. Das ist eine den Einzelorganismen bzw. ihren Arten (bei sexuellen: Biospezies) übergeordnete Einheit, und sie ist auch ein logisches Individuum. Aber: Ein Organismus ist eben nicht nur ein logisches Individuum (das ist ein Berg oder ein Stein auch). Darum hat man in der philosophischen Tradition auch „Dinge“ und „Wesen“ unterschieden, Lebewesen/Organismen sind „Wesen“, und sie sind in einem anderen Sinne Individuen als Dinge, nicht nur „numerische“, „logische“ Individuen; oder man hat zwischen akzidentellem und substanziellem Sein unterschieden und Lebewesen letzterem zugerechnet.
Dann fahren Sie fort: „Alle Organismen würden dann zusammen ein funktionales Ganzes (die Biosphäre) bilden.“
Das tun sie eben nicht. Ich dachte auch lange Zeit (habe das auch publiziert), nur darauf käme es an: ein Beziehungsnetz, das alle Teile verbindet, so daß kein Teil etwas „tun“ kann – für sich selbst oder für andere eine Funktion erfüllen kann – oder überhaupt an keinem Teil eine Veränderung stattfinden kann, ohne daß sich das auf andere auswirkt und wegen des umfassenden Charakters des Beziehungsnetzes auf die ganze Biozönose/Biosphäre. Dann hätte eine derart hochgradig vernetzte Biozönose, insbesondere dann, wenn die Beziehungen mutualistischer Art sind, bzw. in dem Maße, in dem sie es sind, näherungsweise organismischen Charakter. Aber das ist falsch. Das verkennt den Bruch, der zwischen solchen Systemen und Systemen von der Art von Organismen besteht. Die Teile müssen, teleologisch formuliert, „um des anderen willen“ da sein, und sie müssen ihre Existenz dem vorgängigen Ganzen, dem Organismus eben, verdanken. „Das seit nunmehr über 3,5 Milliarden Jahre stattfindende Wachstum findet seine Grenzen allein in den abiotischen Bedingungen (Wasser, Luft, Licht, Nährstoffe, etc.). Dadurch entsteht insgesamt ein sich selbst stabilisierendes (Fließ-?)Gleichgewicht.“ Das trifft auf eine Biozönose von der Art eines Waldes oder der Lebensgemeinschaft eines Sees auch zu (Beispiele habe ich im Artikel genannt). Es sind „äußere“ Gleichgewichte, die sich da einstellen, vergleichbar einem stehenden Gewässer, das überläuft: der Abfluß ist gleich dem Zufluß, wir haben ein Fließgleichgewicht.
Man kann den Unterschied schön daran sehen, was geschieht, wenn man der Biozönose etwas wegnimmt, z. B. dem Wald eine Baumart oder alle Tiere oder alle Reduzenten usw.: die Biozönose ändert sich oder es entsteht eine neue Biozönose, das kann man nach Belieben so oder so sagen. Aber wenn man dem Organismus etwas wegnimmt (z. B. ein Bein, oder die Lunge), so ersetzt er das Weggenommene oder er lebt „beschädigt“ weiter, und wenn der Schaden zu groß wird, stirbt er (modulare Organismen sind eine Schein-Ausnahme: der eigentliche Organismus ist das Modul). Er wird nicht zu einem anderen Organismus, er bleibt dieser oder er ist gar nicht. Da sieht man, meine ich, überdeutlich den kategorialen Unterschied.
„Gaia als ein sich stabilisierendes oder ausbalanciertes irdisches Gesamtsystem aus biotischen und abiotischen Subsystemen—ich finde, das hat was.“
Es stabilisiert nicht sich, sondern da wird etwas stabil, weil aufeinandertreffende „Kräfte“ sich ausgleichen. Es ist durchaus ein Gesamtsystem, aber kein Organismus.
Zu Margulis (im letzten Kommentar): Man findet auch bei Lovelock solche sich halb distanzierenden Ausführungen. Sie sind auch recht typisch für die Vertreter der Superorganismus-Theorien in der Ökologie. Wenn es ernst wird, könne sie die Behauptung vom Ökosystem als Lebewesen doch nicht durchhalten, aber in -zig einzelnen Äußerungen kommt sie dann doch wieder durch (z.B. im Begriff “ecosystem health”). Das Hauptproblem der innerbiologischen Diskussion zu solchen Fragen ist, daß man, ich wiederhole es, weithin keinen Begriff von der Besonderheit desjenigen Systems hat, das man Organismus nennen kann.
“Gaia Is A Tough Bitch”,
schreibt Lynn Margulis in:
John Brockman (1996): “The Third Culture: Beyond the Scientific Revolution”
Zwei Zitate aus Margulis’ Aufsatz, die wohl belegen, dass sie Lovelocks Gaia-Hypothese durchaus kritisch sieht:
Quelle:
http://edge.org/…ersation/lynn-margulis1938-2011
@Ludwig Trepl: Leben im/aus Leben
Ohne die Gaia-Hypothese als Ganzes verteidigen zu wollen, möchte ich die Argumente hinterfragen, die Sie oben für deren Ablehungen angeführt haben. Dabei will ich nicht soweit gehen wie @Balanus, denn eine Biospezies würde ich zunächst nicht als ‘Lebewesen’ sehen (Anführungsstriche stehen für Organismen höherer Ordnung), denn dort sind mir die Interaktionen zu indirekt und unvollständig.
Vielmehr habe ich mit den Beispielen für Gleichgewichte und Selbstorganisation insofern Probleme, als mir in der Auswertung trennende Aspekte zu stark betont werden während die verbindenden eher wegfallen. Etwa scheint mir die von Lebewesen gebaute Höhle für den Vergleich untauglich, denn diesen externen Effekt können wir bei ‘Lebewesen’ gar nicht so unmittelbar beobachten oder definieren. überhaupt scheint mir in dieser Beobachtbarkeit ein Großteil der Schwierigkeit zu liegen.
Bei dieser Definition gehe ich mit, doch scheint mir Ihre Anwendung dann zu teleonomisch zu sein – wenn Sie später “aktive Regulation” fordern. Denn auch die Regulation in Lebewesen erfolgt meist nich aktiv im Sinne von irgendwie bewusst ein Ziel anstrebend, sondern sie ist automatische Folge der Umweltveränderungen – nur dass sich eben nicht ein einzelner Wert anpasst, sondern eine ganze Kette von Werten wie Dominosteine umfällt. Es gibt also keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der Funktionsweise eines Thermostates am Heizkörper und der Regulation der Körpertemperatur. Wir nennen letzteres nur aktiv, weil wir die ganzen Zwischenschritte nicht sehen und verstehen.
Die Räuber-Beute-Population (wobei diese Sicht schon recht eng ist, geht sie doch von nur zwei aufeinander bezogenen Spezies aus) ist dann auch ‘aktiv’ in dem Sinne, als es verschiedene Zwischenschritte bei der Anpassung gibt – und auch Lebewesen ändern ihre Organisation in Abhängigkeit von der Umwelt, sonst hätten wir im Westen kein Problem mit Übergewicht. Was in beiden Fällen gleich bleibt, das ist die Struktur. Und Sie schrieben ja auch, dass nur Warmblüter ihre Temperatur halten müssen – warum also sollte nicht auch jedes ‘Lebewesen’ nur bestimmte (überlebenswichtige) Werte oder Strukturelemente zu seiner dauerhaften Struktur zählen und sich nicht ansonsten an die Umwelt anpassen (dürfen)?
Plausibel scheint mir das auch noch dahingehend, als die reine Quantitäts-Anpassung nur in seltenen Fällen vorliegt. Vielmehr wirkt eine Gruppe von Lebewesen auch in der Verhaltenssteuerung aufeinander ein – und zwar so, dass sich ihre Struktur dauerhaft erhalten kann. In der Soziologie ist das ja für Menschen bekannt, man muss dann eben einsperren, strafen oder (als krank) auschließen. Und auf diese Weise wird die Struktur des Organismus quantitativ und qualitativ erhalten. Die Gruppe ist insofern ein ‘Lebewesen’. Und das wird etwa bei jenen Fischen besonders deutlich, deren stärkstes Weibchen beim Tode des Männchens zum Männchen wird. Das ‘Lebewesen’ Fischgruppe muss erhalten bleiben – wozu es eines Männchens bedarf.
Zur vollen Funktionsfähigkeit eines Lebewesens oder ‘Lebewesens’ wird die Einheit (1) in der Tat vorausgesetzt – aber zuvor muss sie erst einmal entstehen. Zwar geschieht das für Lebewesen zunächst nicht durch Zusammensetzung (2), sondern durch Wachstum aus sich heraus – durch Zellteilung (der befruchteten Eizelle). Aber auch die ‘Lebewesen’ müssen erst einmal aus sich heraus wachsen – obgleich es dazu bei geschlechtlicher Fortpflanzung schon zwei braucht reicht bei Bakterien durchaus eine einzige, die sich teilt und teilt – dieses ‘Lebewesen’ Bakteriengruppe verhält sich insofern nicht anders als das Lebewesen Embryo.
Mir scheint auch das Abstellen auf die Existenz einer Zentrale nicht zwingend zu sein. Schließlich entwickelt sich der Embryo zunächst auch ohne Zentrale. Und auch die Eigenschaften, die Sie in Individuen als vorexistent ansehen, die sind eigentlich nur Anlagen, die sich im Rahmen des ‘Lebewesens’ entwickeln müssen. Beim Menschen sehen wir das sehr deutlich, wenn man etwa an die Sprache denkt. Und wie sich der einzelne Mensch insgesamt entwickelt, auch das hängt gleichermaßen von den Umweltbedingungen ab wie bei der Zelle – Anlagen werden entwickelt oder verkümmern.
Dann ist in der Tat beim einzeligen Lebewesen weniger angelegt als beim mehrzelligen – zunächst legt nur die DNA an, dann aber darüber hinaus noch die Sturktur der Zellgruppe. Und in jeder höheren Organisationsform legt die Struktur der Organisation mit an. Mit der jeweils gegeben Struktur werden auch die Entwicklungsmöglichkeiten weiter eingeschränkt – einer Eizelle stehen mehr Möglichkeiten offen als dem Baby, denn bei letzterem wurden schon viele Entscheidungen von der Biologie getroffen, und heute teils schon von der Gesellschaft (z.B. Kaiserschnitt).
Und wenn dann Elemente zu einem Lebewesen oder ‘Lebewesen’ hinzukommen, dann verändert es sich. Der Wald ist nicht mehr derselbe, wenn eine andere Tierspezies hinzukommt – aber er entwickelt sich nun selbst mit ihr weiter. Eine Gesellschaft ist nicht mehr dieselbe, wenn sie Ausländer als Gastarbeiter ins Land holt – aber sie entwickelt sich (ob sie will oder nicht) mit diesen Gastarbeitern weiter und deren ‘Verfehlungen’ sind dann auch Spiegel der eigenen Entwicklungsunfähigkeit. Und auch Individuuen sind nicht mehr dieselben, wenn andere Zellen hinzukommen. Gerade in der neueren Forschung gibt es Hinweise darauf, dass unsere Darmflora nicht nur für gewisse Nahrungsunverträglichkeiten verantwortlich ist, sondern auch für unsere Stimmung oder Kommunikationsfähigkeit. Selbst erwachsene Menschen können dann mit neuer Darmflora (oft von Geschwistern) ‘plötzlich’ ohne gewisse Beschwerden leben.
Letztlich ist dann aber auch nicht entscheidend, dass ein Lebewesen für seinen eigenen Fortbestand sorgt. Sondern teils reicht der Fortbestand der Art – wenn etwa Spinnen ihre Männchen nach der Befruchtung verzehren oder Bienen bei der Verteidigung sterben. Warum sollten diese suizidären Verhaltensweisen auf Lebewesen beschränkt sein und bei ‘Lebewesen’ wie dem Birkenwald als Argument gegen diese Qualifikation gelten? Dann scheint mir aber auch durchaus diskussionswürdig, was uns denn die Beschreibung als ‘Lebewesen’ überhaupt bringen kann.
Sie schrieben oben, dass auf ‘Lebewesen’ nur die evolutionäre Erklärung passt. Wenn wir nun die prinzipielle Verschiedenheit zu Lebewesen aufgeben, könnte es dann nicht sein, dass die evolutionäre Erklärung auch für die Lebewesen selbst, also in ihrem Körper die zutreffende ist? – also die Erklärung für deren (Miss)Gestaltung bei richtiger (falscher) Umwelt. Auch Zellen haben ja nicht die Nachkommen, die irgendwo im Körper leben könnten, sondern die genau die ‘Atmosphäre’ brauchen, die dort existiert. Dann gibt es aber für Lebewesen auch nicht mehr wirklich ein absolutes Ziel, außer überleben – wobei sich das für sie als Teil im ‘Lebewesen’ ebenfalls relativiert. Und für ‘Lebewesen’ könnten wir dann ebensowenig ein absolutes Ziel angeben – würden aber mglw. für die diffizilen Wechselwirkungen sensibilisiert…
Zum Begriff
„Gaja“ und „Das Gott“ der Familienministerin Kristina Schröder in der „ZEIT“, Dezember 2012
Neben anderen durfte auch Frau Kristina Schröder sich in der ZEIT zum Jahresausklang 2012 über religiöse Fragen äußern und brachte dabei den Begriff „Das Gott“ ins Spiel. Die über den Artikel zum Substantiv vollzogene „Kastration“ spricht Bände und wirft deutliche Schatten auf den hier zu diskutierenden Begriff „Gaja“.
Sehr instruktiv wird die Reflektion dieses Vorganges dann, wenn er in der Logik triadischer Relationen beleuchtet wird. Die elementarste triadische Relation ist die von Eltern (Mutter und Vater) zum Kind. Viele Mythen und Märchen, und nicht nur diese, siehe Syllogismus, oder die Grammatik, basieren auf triadischen Relationen. Sogar über den Sehsinn, wenn auch verrechnet, nehmen wir die Welt in drei Dimensionen wahr. Mehr oder weniger als drei Dimensionen verstellen unsere Vorstellungskraft.
Noch nennen wir uns Christen nach dem Mann aus Nazareth, der zur Wintersonnenwende in Bethlehem geboren sein soll. Sein Geburtsdatum wurde willkürlich auf das heidnische Fest der Wintersonnenwende gelegt. Wir wissen nicht sehr viel von diesem Mann. Nur das Gebet der Christen, das „Vater unser“, ist eines der wenigen überlieferten Bekenntnisse dieses Mannes, der am Kreuze sein Leben ließ, was auch überliefert ist. Wir haben als Christen den „Vater unser im Himmel“, die Juden ihren „JHWH“ und die Moslems „Allah“, als ein „transzendentales Du“, zu dem wir sprechen können in unseren tiefsten seelischen Nöten. Das Verhältnis der monotheistischen Religion zu ihrem Gott ist das zu einem persönlichen „DU“, als einem Gegenüber, das vernünftig ist und versteht. „Das Gott“ kann nur so rational gedacht werden, wie eine Maschine, ein Computer etwa, der uns scheinbar auch versteht in seiner künstlichen Intelligenz. Wir müssten dann konsequenterweise unsere gezeugte Herkunft von einer Maschine ableiten. Das alleine spricht schon Bände.
In Zeiten vor den Gentests konnte sich weder Kind noch Vater der leiblichen Verwandtschaft und Abstammung sicher sein. Es war eine reine Glaubensfrage, ohne allen Beweises, nur Hoffnung und Vermutung und letztlich Zweifel. So das Verhältnis zum zeugenden leiblichen Vater, so das zum transzendentalen Vatergott: Ungewissheit! Die Abstammung von der Mutter, war bis heute wenigstens einseitig von der mütterlichen Seite her klar.
Doch das „das Gott“ der Kristina Schröder offenbart im Grunde ein ganz anderes Problem. „Staub bist du und zum Staube kehrst du zurück“, was drückt das anderes aus, als dass wir von „Mutter Erde“, „Gaja“, entstammen und zu dieser zurückkehren auf unsere materiellen Bestandteile reduziert. Einen
„Vater im Himmel“ und die „Mutter Erde“ als dem Abbild der triadischen Relation der ontogenetischen Herkunft in der Familie, das ist die eigentliche Logik hinter dem „Vater unser im Himmel“. Doch die gänzlich entmythologisierte Erde ist in unserem Bewusstsein längst nicht mehr „Mutter“ wie sie einst dem als abergläubisch verhöhnten Animismus war, der der Mutter Erde Opfer brachte, bevor er als ökonomisch tätiger Mensch sie aufbrach und verletzte. Die animistische Religion interpretierte noch die Eingriffe in die Natur in der Logik des Vergehens eines Ödipus.
Die Mutter Erde verlor als Muttersymbol in der Entzauberung der Welt jene Beziehung zum Menschen, die im Sanskrit „TAT TWAM ASI“, „DAS BIST DU“ heißt. Noch Schopenhauer war das vollkommen klar. Sie, die Erde, stiftet den „elan vitale“ (Henri Bergson), das Prinzip des Lebens, als das alles durchdringende Prinzip, an dem jeder einzelne von uns notwendig teilhat. Frau Schröder verrät daher nicht eine männliche Gottheit, sondern ganz und gar das weibliche Prinzip. Denn rein logisch macht der Begriff „Vater unser im Himmel“, die Frage nach der „Unserer Mutter“ unabdingbar. Was hieße das aber, wenn wir der Erde als „unserer Mutter im Hier und Jetzt“, als einem konkreten „DU“ in der Logik eines „TAT TWAM ASI“ zu begegnen hätten und jeder Eingriff an ihr „animistisch“ zu entschuldigen sei? „Das Gott“ gleicht bloß die längst total vollzogene Verdinglichung und Versachlichung der „Mutter Erde“ nur aus. Sie zählt nur noch als Wirtschaftsfaktor. „Das Erde“ ist längst schon Realität in unserem Bewußtsein.
Passend dazu ein Zitat aus Max Horkheimers in der Mitte des 20 JH verfassten „Kritik der instrumentellen Vernunft“, „Revolte der Natur“,: „Hinter dem kindischen Geschwätz der Slogans, denen nichts heilig ist, steht ein unsichtbarer Text, der die Macht der industriellen Konzerne verkündet.“ „Das Gott“ aus dem Munde einer Angehörigen einer sich christlich nennenden Partei zeugt nur davon, dass diese Partei ganz diesem „unsichtbaren Text“ sich verpflichtet hat und die eigentliche Logik des Monotheismus längst nicht mehr begreift. Noch das Sabbat Gebot gemahnt, an einem Tage der Woche den Dingen ihr Für-Sich-Sein zu lassen und sie nicht zweckrational zu (miss-]gebrauchen.
Das Problem des Begriffs „Gaja“ ist, dass dieser nur erst einmal bloß animistisch gefasst werden kann. Betrachtet man das „Paradies“ des Schöpfungsmythos des AT als die Beschreibung eines durch Verbote (Tabus) und Beseelung („Begeistung“) der Natur, das Zusammenleben des Menschen regelnden, Animismus, so lehrt schon der Mythos, dass ein Zurück zum ursprünglichen animistischen Denken nicht mehr möglich ist. Der Mensch ist endgültig aus dem Paradies des animistischen Denkens vertrieben. Ein Dilemma, fürwahr, lässt sich das Problem nur durch animistisches Denken einerseits lösen, während wir andererseits so wissenschaftlich verbildet und technisch, kulturell entwickelt , sprich: entfremdet, sind, dass ein solches Denken nur inszeniert erscheinen kann, nicht aber authentisch.
Wie wir von Natur aus die Welt dreidimensional wahrnehmen, in einer triadischen Relation sozusagen, so müssen wir begreifen, dass wir die Welt auch wissenschaftlich in drei Sphären zu begreifen haben. Eine Stadt, nicht ein Dorf, unterscheidet sich von einem Ameisenstaat, so sagt Chesterton, des Pudels Kern treffend, dadurch, dass an den Straßen des letzteren keine Statuen berühmter Ameisen aufgestellt seien. Gemeint ist, die Straßen der Ameisen sind rein funktional, niemals bedeutend, wie etwa der Champs Elysees in Paris oder die Route 66, die neben ihrer reinen zweckrationalen Funktionalität noch Bedeutung tragen. Die Erscheinungen, die wesentlich Bedeutung tragen und Funktion in der Logik der Sprechakte ausüben, sind die institutionellen Tatsachen. Sie haben längst den Planeten mit einer eigenen bestimmenden Seinssphäre überzogen.
Städte, Staaten, Geld, Hedgefonds, die Ehe, die Oscarverleihung, der Papst usw. alles institutionelle Tatsachen, die eine ganz andere Seinssphäre in dieser Welt ausmachen. „Noosphäre“ (nicht im Sinne Teilhard de Chardins gemeint, der den Begriff prägte) darf daher auch nicht esoterisch verstanden werden, wie man vielleicht meinen könnte, sondern allein auf den „objektiven Geist“ im Sinne Hegels bezogen und darüber hinaus. Mit Vladimir Vernatzkij, einem Geologen der 1920er Jahre, lässt sich die Welt, das Sein, in der Sphären gliedern: Die Hylesphäre, die Materie, in der die Gesetze der Physik gelten, die Biosphäre, die Sphäre alles Lebendigen und die Noosphäre, die Sphäre des Geistes. Nochmals sei hervorgehoben, dass unter dem Begriff Noosphäre nur solche Dinge zu verstehen sind, wie das Recht, der Bürgermeister, der Abgeordnete, Facebook, das WWW usf. Die Noosphäre gehört dieser Welt genauso an, wie der das Magnetfeld generierende Eisenkern im Zentrum des Planeten.
Die zentralen Begriffe der Sphären sind „Körper“, „Organismus“ und „Institution“. Organismen (Biosphäre) setzen Körper (Hylesphäre) voraus und erscheinen als Körper, können aber in den Begriffen der Beschreibung von Körpern nicht vollständig beschrieben werden. Institutionen (Noosphäre) setzen Körper und Organismen (besonders den Menschen) voraus, können aber in den Begriffen der Beschreibung dieser nicht vollständig beschrieben werden. Die Institution „Geld“ verliert zur Zeit ihren materiellen Grund, wird von diesem ganz abgelöst und dadurch mutiert dadurch zum „absoluten Geist“. Wie sollte Geld, eine Tatsache dieser Welt, jemals in Begriffen der Naturwissenschaft sich beschreiben lassen können? Soviel zum Naturalismus. Die zeitgenössische Philosophie des Geistes kennt als „anca neurophysiologica“ nur noch den subjektiven Geist, „der im Gehirn wohnt“, wie einst Gott in der Kirche. Ein objektiver Geist, der für Hegel noch eine zentrale Rolle spielte, scheint gänzlich ins Abseits geraten. Doch nur an den Werken ist Geist überhaupt zu erkennen.
Zusammenfassend hieße das, die Erde, als Organismus angesehen, wäre dann nur unvollständig beschrieben. Das heißt aber nicht, ein und für alle mal keine Zweite-Person-Perspektive, die dem Animismus zentral war, gegenüber den Gegenständen und allem Leben der Welt und der Welt an sich sich einnehmen zu können. Unsere Zeit verlangt nicht mehr und nicht weniger vom Menschen als ein Perspektivenwechsel von der in der Wissenschaft und Philosophie des Geistes, besonders in den „Neuro-XYZ-logien“ präferierten „Ersten-“ und „Dritten-Person-Perspektiven“ als die alleinigen hin zur „Zweiten-Person-Perspektive“ als der zentralen. Da diese allen großen Weltreligionen und dem Animismus immer schon das Herzstück war, kann die Explikation des Begriffs „Gaja“ in der heutigen Zeit nur in der „Zweiten-Person-Perspektive“ geschehen. Nur dann, wenn wir allen Lebewesen in Achtung und Ehrfurcht in der Logik des „Als-Ob-Person“ gegenübertreten und dann auch noch den Erscheinungen der Hylesphäre und aus tiefem inneren Empfinden heraus, dann wird uns die weltgeschichtliche Wende gelingen. Alles jenseits von Ideologien. Alles andere führt in eine hinterweltliche Esoterik, die ganz im Sinne der „Macht der (finanz- )industriellen Konzerne“ über die Kulturindustrie von den eigentlichen Sinnfragen wegführt und das Bestehende nur legitimiert.
Der Begriff „Gaja“ ist m.E. zuerst mythologisch zu explizieren. Die Grimmschen Märchen liefern genügend Beispiele der guten und der bösen Mutter, sprich den zwei Gesichtern der Mutter und damit auch der „Gaja“. Die Autonomie der menschlichen Subjekte wird darin bestimmt gemacht und das unabhängig vom Geschlecht. Zeitgeschichtlich stehen wir an anderer Stelle als zur Zeit der Entstehung der Märchen. Ihre Logik ist daher weiter zu denken.
Ethisch moralisch ist zu prüfen, ob wir heute nicht in der Logik des Ödipus der Mutter Erde gegenübertreten. Letztlich haben wir nach Versöhnung zu fragen, nach der Versöhnung zwischen Hyle- und Biosphäre auf der einen und der Noosphäre auf der anderen. Diese Versöhnung kann nur vom Menschen ausgehen. In seiner Dualität gehört dem Mensch der fühlenden Biosphäre und der rationalen Noosphäre zugleich an. Die Fragen, die sich zum Begriff „Gaja“ stellen lassen, sind die großen Fragen der Menschheit zu ihrer Zukunft im 21. Jahrhundert. Sie können nur gemeinsam beantwortet werden, denn „Jeder Versuch eines einzelnen [oder einer einzelnen wissenschaftlichen Disziplin] für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern!“ (Dürrenmatt, „Die Physiker“).
Gaia /@L. Trepl
»Was aber wohl wirklich auf der Ebene der Biospezies als ganzer liegt, ist der gemeinsame Genpool, auf den sozusagen bei jeder Paarung Rücksicht genommen werden muß. Ich kann aber nicht sehen, daß die Biospezies irgend etwas „tut“, um diesen Genpool zu erhalten, daß man hier also ein Äquivalent zur Tätigkeit des Organismus hätte. «
Gewiss, die Biospezies, obschon eine biologische Einheit, kann nichts für ihren Erhalt tun, sie agiert nicht. Die Biospezies existiert und erhält ihrer Existenz als übergeordnete Einheit nur durch die Aktivitäten ihrer Teile (man fühlt sich fast an das Gehirn erinnert: Nicht das Organ „tut“ etwas, um sich zu organisieren, zu erhalten und zu funktionieren, sondern es ist schlicht ein Effekt, der sich aus dem aktiven Zusammenspiel seiner Teile ergibt).
Meine Frage wäre nun: Kann man denn die Biosphäre nicht ebenfalls als eine übergeordnete biologische Einheit betrachten? Ein logisches Individuum, das sich aus der Gesamtheit und dem Zusammenspiel der Biospezies ergibt?
Alle Organismen würden dann zusammen ein funktionales Ganzes (die Biosphäre) bilden. Und da dieses biotische Ganze ein Produkt des abiotischen Planeten Erde ist und demzufolge in enger Wechselbeziehung zu den abiotischen Faktoren der irdischen Trägersubstanz stehen muss, was hindert uns, dieses ganze System aus biotischen und abiotischen Subsystemen „Gaia“ zu nennen?
Das biotische System ist auf permanentes Wachstum angelegt (weil seine Teile so programmiert sind). Das seit nunmehr über 3,5 Milliarden Jahre stattfindende Wachstum findet seine Grenzen allein in den abiotischen Bedingungen (Wasser, Luft, Licht, Nährstoffe, etc.). Dadurch entsteht insgesamt ein sich selbst stabilisierendes (Fließ-?)Gleichgewicht. Auf eine Änderung der chemischen Zusammensetzung der Luft beispielsweise reagiert das biotische System mit dem vermehrten Wachstum von Organismen, die diese Veränderung tolerieren können (der Mechanismus dieser fortwährenden Anpassung der biotischen Untereinheiten oder Grundelemente an die abiotischen Bedingungen wird Evolution genannt).
Das ist so ungefähr der Stand meiner vorläufigen Überlegungen zur Gaia-Hypothese. Gaia als ein sich stabilisierendes oder ausbalanciertes irdisches Gesamtsystem aus biotischen und abiotischen Subsystemen—ich finde, das hat was.
Jeder Planet, auf dem Leben entstanden ist (was der Biologe in seiner fachlichen Beschränktheit eben unter „Leben“ versteht), hätte demnach seine eigene „Gaia“.
@ Balanus
„ … Biospezies? Bilden diese so etwas wie ein System? Gäbe es keine Wechselbeziehungen zwischen den Individuen, gäbe es keine Biospezies. Man könnte doch sagen, die Biospezies ist ein sich selbst erhaltendes und selbst organisierendes System“
Die Biospezies ist sicher ein System. Das unterscheidet sie kategorial von der Morpho- oder Ökospezies und ist der Grund dafür, weshalb manche (ich auch) meinen, daß sie im logischen Sinne ein Individuum ist, keine Klasse. Aber welche Art von System? Da fühle ich mich überfordert, ich weiß auch nicht, ob es dazu Arbeiten gibt.
Sie ist jedenfalls kein System von der Art des Organismus, auch kein „autopoietisches“ in dem weiteren Sinne, wie die Autopoiesis-Theoretiker meinen diesen Begriff verwenden zu dürfen. Es scheint mir keinen Sinn zu ergeben, von Selbstorganisation im holistischen Sinn zu reden, d. h. daß sie sich als Ganze durch Differenzierung und Produktion ihrer Teile selbst erzeugt. Aber auch um Selbstorganisation im individualistischen Sinn handelt es sich nicht: Es treten, anders als etwa bei einer Biozönose, nicht voneinander unabhängige Individuen zu einem System zusammen, das dadurch erst entsteht.
Vielleicht kann man sagen: Ihre Einheit kommt, wie bei jeder Abstammungsgemeinschaft, dadurch zustande, daß eine ursprüngliche Einheit, eine Ganzheit, sich differenziert. Man denke an die Teilung (also eine Differenzierung) bei asexueller Fortpflanzung von Einzellern, aus der schließlich eine Population von Einzellern entsteht. Aber die Teile (Zellen) bleiben hier nicht zusammen wie bei einem Mehrzeller und werden zu dem Ganzen dienenden Organen (oder Teilen von Organen), sondern sie trennen sich und bilden damit zusammen gerade kein Ganzes, ja eigentlich gar kein „Ding“ oder ein „System“, sondern eine bloße Aggregation.
Bei der Biospezies kommt aber etwas hinzu: Die Einheit besteht ja nicht nur wie bei dieser asexuellen Einzeller-Population darin, daß alle ihr zugehörigen Organismen gemeinsame Vorfahren haben, obwohl das (so gut wie) immer auch der Fall ist. Sondern sie besteht in der Reproduktionsschranke. Das ist aber eigentlich keine Eigenschaft des Ganzen, der Biospezies als eines Systems; es wäre falsch zu sagen: Die Biospezies bildet eine Reproduktionsschranke gegen andere Biospezies aus. Sondern die einzelnen Organismen paaren sich nicht erfolgreich. Mit dieser Reproduktionsschranke hat es auch noch die Merkwürdigkeit, daß dieser Begriff gar nicht die kategoriale Ebene des Faktischen betrifft, sondern die des Möglichen/Unmöglichen (?).
Was aber wohl wirklich auf der Ebene der Biospezies als ganzer liegt, ist der gemeinsame Genpool, auf den sozusagen bei jeder Paarung Rücksicht genommen werden muß. Ich kann aber nicht sehen, daß die Biospezies irgend etwas „tut“, um diesen Genpool zu erhalten, daß man hier also ein Äquivalent zur Tätigkeit des Organismus hätte.
Sie sehen: ich habe dazu nur ganz vage und wohl zum Teil auch wirre Gedanken. Vielleicht kommen Sie ja weiter.
„Nur wenige behaupten, dass die Erde oder Biosphäre ein Lebewesen „ist“. Sie soll vielmehr einem Lebewesen ähneln, oder kann als ein Lebewesen betrachtet werden.“
Mir scheint das ein Trick, oder Ausdruck einer Verlegenheit. Eine Ähnlichkeit kann man grundsätzlich zwischen allem finden, weil es irgendeine Gemeinsamkeit zwischen allem geben muß. Die Frage ist nur, ob hinreichend ähnlich, um sinnvoll als Lebewesen „betrachtet“ werden zu können. Als Modell kann man den Organismus(begriff) für alles mögliche nehmen, so wie man auch beispielsweise einen Metallzylinder als Modell für einen Menschen nehmen kann. Es bringt aber nur in sehr wenigen Fällen etwas. Und mit dem Organismus hat es nun die Besonderheit, daß er etwas so Besonderes ist, daß die Ähnlichkeit schon den Kern treffen muß, wenn man ihn zum Modell für etwas nehmen soll, das kein Organismus „ist“. So kann man sagen, daß die konservative Staatsidee (nicht die Wirklichkeit des Staats!) darin besteht, daß der Staat ein Organismus „ist“. Oder man kann sagen, auch wenn es die lebensweltliche Vorstellung von Organismus nicht trifft, daß ein Bienenvolk ein (Über-)Organismus ist. Denn in solchen Fällen findet man die definierende Besonderheit des Organismusbegriffs wirklich an dem Gegenstand. Wenn aber nur solche Sachen angeführt werden wie Fließgleichgewichte, die man zwar an Organismen beobachten kann, die aber nicht den Organismus wesentlich bestimmen, dann ist eine Formulierung „das ähnelt einem Organismus/Lebewesen“ irreführend.
„die Biosphäre [ist] potentiell unsterblich“.
Das sind viele Organismen auch. Sie sind aber dennoch sterblich: ein Unglück kann sie treffen. Das kann aber der Biosphäre auch passieren. Sie wäre dann dennoch nicht gestorben, sondern die einzelnen Lebewesen wären gestorben.
Mir scheint, dass – Ihren ausführungen folgend – menschliche organisation zu einem superorganismus führt. Der regulierende eingriff von staaten könnte mithin jene aktive aktion sein, die Sie für ein lebendes individuum fordern. Vielleicht wird ja die erde doch noch zu einer Gaia, wenn der mensch das klima aktiv reguliert.
Dies ist nicht nur einer erweiterung des individuums mensch, weil die vernetzung und organisation der menschen dabei zentral ist.
Dies ist eine erheiternder gedanke, an den ich aber nicht glauben will. Von einer gesunden umwelt zu reden macht jedoch gerade in dieser weise durchaus sinn, weil eine verlässliches und moderates klima vor allem für die landwirtschaft unerlässlich ist. Und die methapher Gaia kann helfen dies zu vemitteln.
Das Anthropozän ist im übrigen ein hinweis gerade auf diese entstehende einflussnahme des regulierenden menschen. Oder?
@Ludwig Trepl
Es existiert mindestens eine Textstelle bei Haken, wo er “holistic” tatsächlich verwendet, und dort offenbar im Sinne von “macroscopic” (Information and Self-Organization. Springer, 2nd ed., 2000, p. 35):
Hier zu finden: http://books.google.com/books?id=e7o2a5dA2AoC
Welche begrifflichen Assoziationen naheliegend sind und welche nicht, kann individuell auch beträchtlich variieren, und im Zweifelsfall ist es ja nicht falsch, die Angelegenheit zu klären.
Erste Gedanken…
Wie verhält es sich eigentlich mit den Individuen einer Biospezies? Bilden diese so etwas wie ein System? Gäbe es keine Wechselbeziehungen zwischen den Individuen, gäbe es keine Biospezies. Man könnte doch sagen, die Biospezies ist ein sich selbst erhaltendes und selbst organisierendes System (von Individuen gleicher Art).
Im Übrigen:
Nur wenige behaupten, dass die Erde oder Biosphäre ein Lebewesen „ist“. Sie soll vielmehr einem Lebewesen ähneln, oder kann als ein Lebewesen betrachtet werden. Um eine solche Ähnlichkeit postulieren zu können, muss sich die Biosphäre wohl nicht exakt auf die gleiche Weise selbst organisieren, wie es ein individueller Organismus tut.
Außerdem: Das Individuum ist sterblich, die Biosphäre (als Gesamtheit aller Lebensformen oder als das Prinzip „Leben“) potentiell unsterblich.
@ Chrys
Stimmt, die Bezeichnungen individualistisch und holistisch sind nicht von Haken, auch nicht von Sendova-Franks & Franks. Ich habe sie in Anlehnung an die einschlägige Diskussion in der Ökologie um den “organismischen” und demgegenüber “individualistischen” Charakter von Ökosystemen/Gesellschaften gewählt. Mikroskopisch vs. makroskopisch trifft die Sache ja gar nicht. “Individualistisch” ist aber auch etwas problematisch, vielleicht wäre “elementaristisch” besser, denn die “Bausteine” bei dieser Selbstmontage sind keine Individuen (außer natürlich im numerischen Sinne), wenn sie nicht Organismen sind, was aber nur ein spezieller Fall von Selbstmontage ist. Holistisch aber paßt, jedenfalls sehe ich keinen Grund, der dagegen spräche.
Wow! /@Chrys
Scholarpedia kannte ich noch gar nicht…
Danke für den Hinweis! 🙂
Selbstorganisation
Eine Unterscheidung zwischen holistisch und individualistisch bezogen auf Selbstorganisation scheint mir allerdings nicht dem terminologischen Repertoire von H. Haken entlehnt zu sein. Es mag sich hier um einen Fall von Dialektbildung handeln — eine Proliferation von Begriffsbildungen fördert freilich stets die Gefahr von Missverständnissen.
Haken spricht hingegen u.a. bevorzugt von makroskopisch im Unterschied zu mikroskopisch. Versteht man jedoch in naheliegnder Weise “holistisch” als “makroskopisch”, dann wäre die Behauptung, nur holistische Selbstorganisation sei charakteristisch für Lebewesen, zumindest doch extrem missverständlich.
Hermann Haken (2008) Self-organization. Scholarpedia, 3(8):1401.
der geistige Stillstand seit …
Wenn Mensch glaubt Mensch lebt nur einmal, zufällig und in einer andersartigen Sinnlosigkeit von vernunftbegabter Evolution und SCHLUSS, dann ist die Erde ganz sicher ein ebensolches Lebewesen – aber / und weil Mensch sich in Hierarchie von Suppenkaspermentalität auf Sündenbocksuche im nun “freiheitlichen” Wettbewerb bildet, ist dies …
Gaia-Hypothese
Philosophisch ist diese Meta-Sicht zulässig, es dürfen auch ähnliche Meta-Sichten auf die Welt selbst formuliert werden. – Wo der (wissenschaftliche) Nutzen ist, bleibt die Frage. Der Schreiber dieser Zeilen vermag dem Artikel zu folgen.
MFG
Dr. W (der auch den behaupteten Anthropozän als in diese Richtung gehend versteht)