Yrr in den Tiefen der Meere
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Ich weiß nicht mehr, ob in dem 1000-Seiten-Schmöker Der Schwarm von Frank Schätzing das Stichwort Labyrinth direkt vorkommt.
Ich habe das Buch zu einer Zeit gelesen, kurz nach seinem Erscheinen, als ich noch nicht daran dachte, Bezüge zum L-Thema systematisch zu erfassen. Da wäre es jetzt praktisch, eine digitale Version mit der Möglichkeit einer Volltext-Recherche zu haben; hab ich aber nicht. Doch nicht nur deshalb steht demnächst die Zweitlektüre an, sondern auch weil es ein exzellent geschriebener und recherchierter Roman ist, den ich gerne ein weiteres Mal lese: Science Fiction vom Feinsten, gerade weil Schätzing die bedrückenden Fakten unserer umweltzerstörenden Gegenwart auf hervorragende Weise mit der ver-rückten (will sagen: den Blickwinkel verrückenden) Idee einer uns Menschen ebenbürtigen, wenn nicht gar überlegenen Schwarm-Intelligenz in den Tiefen der Weltmeere verbindet.
Und wie nennt Schätzing diese futuristische marine Wesenheit? Er bezeichnet sie als die Yrr. Ich war sehr verblüfft, als mir aufging, dass ich völlig unabhängig davon mein Kunstwort für Irrgarten Yrronthos genannt habe, schon Jahre bevor ich Schätzings Thriller in die Finger bekam – s. Yrrinthos oder Yrrinth? Nur einer dieser erstaunlichen Zufälle, die einem immer wieder mal begegnen.
Aber es gibt auch einen direkten Bezug zur Labyrinth-Geschichte. Auf S. 289 heißt es:
Die Nacht erstrahlte in düsterem Grün.
Weder war es kalt noch warm, vielmehr herrschte eine Art wohliger Temperaturlosigkeit. Das Atmen schien zu den Akten verfehlter Entwicklung gelegt und durch eine übergreifende Funktion ersetzt worden zu sein, die es gestattete, sich frei in den Elementen zu bewegen. Nachdem Anawak nun schon eine ganze Weile durch das tiefdunkelgrüne Universum gefallen war, befiel ihn eine regelrechte Euphorie, und er reckte die Arme wie ein Ikarus, der sich den Abgrund zum Himmel erkoren hat, berauschte sich am Gefühl der Schwerelosigkeit und sank immer tiefer und tiefer. Am Grund schimmerte ihm etwas entgegen, eine weite eisige Landschaft, und der dunkle, grüne Ozean verwandelte sich in einen nächtlichen Himmel.
Dies stellt sich als Traum des Protagonisten heraus. Schätzing hat in einem Interview mal gesagt, dass es ein eigener Traum gewesen sei, der ihm die zentrale Idee von der Schwarmintelligenz in den Tiefen der Weltmeere eingegeben und ihn zum Schreiben des Buches veranlasst habe. Es ist wohl der Traum in diesem Zitat gewesen. Schön für den Autor, dass aus einem derart flüchtigen nächtlichen Gebilde so ein solider Ziegelstein von Buch geworden ist – der sich allein in Deutschland schon 3,5 Millionen mal verkauft hat, in bislang 22 Sprachen übersetzt wurde und zur Zeit verfilmt wird (Hans Hoff 2008).
Da behaupte noch einmal jemand, Science Fiction von deutschen Autoren finde keine Leser bei uns!
Labyrinthmäßig wurde ich bei Schätzing übrigens noch einmal fündig: Nachdem mir der Schwarm so gut gefallen hatte, kaufte und las ich gleich noch Lautlos, einen eher konventionellen Thriller über ein in letzter Sekunde verhindertes Attentat auf eine hochrangige politische Persönlichkeit. Sehr gut und spannend geschrieben, mit einem überaus verblüffenden Schluss – wenn auch die Story als solche recht unglaubwürdig bleibt.
Das Stichwort Labyrinth kommt gleich dreimal vor (S. 57, 270, 555) und auf S. 570 wieder der Ikarus. Drei kleine Proben sollen demonstrieren, wie unterschiedlich derselbe Autor im gleichen Roman die Konnotation zum Irrgarten einsetzt: einmal bezogen auf eine Stadt (S. 57):
Die Gasse wurde schmaler und endete vor einem halbverfallenen Haus. Im düsteren Labyrinth des ältesten Viertels von Triora war sonst niemand unterwegs um diese Zeit.
– das andere Mal, um – in der Aussage einer der Romanfiguren – den seelischen Zustand eines Menschen zu charakterisieren (S. 270):
"Solche luzide Eleganz hat der gute alte Paddy aus den Tagen des Trinity nicht im Entferntesten besessen. Er hätte mich entweder aufgesucht, wenn ihm an meiner Gesellschaft gelegen wäre, oder gar nicht. Stattdessen hetzt er mich durch das Labyrinth seiner Psychosen und entlässt mich mit einer deutlichen Warnung."
Das dritte Zitat (S. 555) bezieht sich auf ein wiederum völlig andres Gebiet, nämlich Finanzen:
Ricardo hatte eine teuflisch ausgeklügeltes System erdacht, um Geld aus Transfers wie diesem in einem Labyrinth Potemkinscher Bankverbindungen verschwinden zu lassen.
Quellen
Hoff, Hans: "Der Schwarm von Köln". In: Südd. Zeitung vom 17. Mai 2008
Schätzing, Frank: Der Schwarm. Köln 2004 (Kiepenheuer & Witsch)
ders.: Lautlos. (2000) München 2006 (Goldmann Taschenbuch)
Lautlos ist das klar bessere Buch, es ist spannend und beschäftigt sich mit Whisky 🙂