“Winterwölfin, Labyrinth und Bär” (Erster Preis des Wettbewerbs)
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Agnes Liebi hat im Münster noch eine alte Rechnung zu begleichen. Dazu muss sie tief in die Geschichte dieses Gebäudes eintauchen. Der Erste Preis im Wettbewerb resultiert aus der überzeugenden Art, wie die Autorin das Labyrinth-Motiv mit dem Fasnachts-Thema erzählerisch und sprachlich überzeugend verbindet – und das alles mit nicht ganz 5.000 Anschlägen.
Winterwölfin, Labyrinth und Bär
Die weiße Winterwölfin hat das Fasnachtstreiben in der oberen Stadt verlassen. Ihr Traumwunsch, mit Löwen, Rittern und Drachen in den Gassen zu Guggenmusik zu tanzen, in Gaststätten zu singen, zu lachen, zu bechern, zu schmausen, dann Hand in Hand mit einer Schlampe, einem Kaminfeger, einem Schwarm Zwerge weiter zu ziehen, erfüllte sich auch in dieser zweiten Fasnachts–Nacht nicht. Wo sie auftauchte, flohen kreischende Kinder im Leopardendress; Mütter mit Goldmasken und Sonnenkronen schrieen; ein nicht kostümierter Herr zog sie am Ohr. Respektlos, erniedrigend. Die Winterwölfin floh in die untere Stadt.
Jetzt hastet sie, der Südwand des Münsters entlang, zur Kindbetterinnen–Tür. Durch sie betraten während Jahrhunderten die als unrein geltenden Wöchnerinnen das Kirchenschiff. Die Wölfin richtet die Ohren, wittert, zieht den Münsterschlüssel aus der Brusttasche, steckt ihn ins Schloss, dreht, öffnet, tritt ein, schließt ab. Stille umfängt sie. Ausgeblendet das Fasnachtstreiben. Durch die hohen gotischen Fenster fällt Licht der Gebäudebeleuchtung; das fein ziselierte Maßwerk wirft Schatten: Stämme, Äste, Zweige. Daheim, denkt die Wölfin. Gerettet.
Auf weichen Pfoten schleicht sie quer durch die Holzbänke zum Mittelgang. Sie wirft einen Blick aufs Passionsfenster; dass der weiße Christus am Kreuz sie doch anschauen möchte! Aber die Dunkelheit verhüllt ihn und verschluckt, wie jede Nacht, bedrängende und tröstliche Bilder.
Die Wölfin steigt über die Treppenstufen zum Abendmahlstisch im Chor. Der Sandsteinboden ist fleckig von Wachstropfen und ausgespucktem, eingetretenem Kaugummi.
„ Kumi ori – Steh auf, werde Licht“ hieß vor Jahren eines meiner Projekte, denkt die weiße Gestalt. In der Dunkelheit erscheint der Labyrinthweg im Chorraum. Am Samstag vor dem ersten Advent baute ich ihn mit frisch geschnittenen, duftenden Tannenzweigen und Teelichtern. In die Mitte stellte ich die brennende Osterkerze. Kinder, Väter, Mütter und viele alte Menschen setzten sich bei beginnender Dämmerung ins altehrwürdige Chorgestühl; ihre Augen verfolgten jene, die achtsam auf dem verschlungenen Pfad unterwegs waren. Wer in der Mitte ankam, hielt die schmale Botenkerze ins Osterlicht, zog sie heraus, schützte die flackernde Flamme mit einer Hand, stand ein Weilchen reglos, wendete sich dann, trat den Rückweg an, beugte sich unterwegs zu einem Teelicht, entzündete es, löschte die Botenkerze und übergab sie am Aus- und Eingang des Labyrinths dem nächsten Wartenden. Dass Geburt, Tod und Auferstehung auf geheimnisvolle Weise verbunden und eins sind, erfuhren Junge und Alte beim Begehen des langen Weges zur Mitte und zurück.
Die Winterwölfin schüttelt sich. Sie blickt ins mächtige Gewölbe mit den Schlusssteinen und entdeckt, dass sie unter dem mittleren Sprungring steht. Darin, umgeben von Papst Gregor, Bischof Ambrosius und den Märtyrern Maurizius und Sebastian, prangt der kräftige, schwarze Bär, in zielsicherer Aufwärtsbewegung, umringt von in gotischer Schrift gesetzten Worten, die er seit 1573 lautstark brüllt, so oft ihm etwas in die Quere kommt, eine Wölfin zum Beispiel: "Gib o herr gott vom himel das under disem gwelb himmel das wort glert ghördt werde rein …"
„Firlefanz,“ beschied nach drei Kumi ori–Jahren ein stattlicher Bär. „Der esoterisch angehauchte vorweihnächtliche Labyrinthweg passt nicht hier her. Seit der Reformation geht es in diesem Raum allein ums Wort.“ Die Wölfin erzählte von Chartres, von der Bedeutung der Labyrinthe im mittelalterlichen Ostergottesdienst … Der Bär hörte artig zu; er beriet sich mit andern Bären. Sein ablehnendes Urteil revidierte er nicht, wohl aber die Begründung. „Es schmerzt, das für ein paar Alte und Kinder interessante Nischenprodukt zu verbieten, aber der Sandstein leidet unter Wachstropfen, Harzflecken und ausgespucktem, eingetretenem Kaugummi. Aus denkmalpflegerischen Gründen sehen wir uns leider gezwungen …“
Jahre sind seither vergangen. Die Winterwölfin starrt gebannt zum schwarzen Bären im Gewölbe. Zorn packt sie wie damals, als ihr das Urteil übermittelt wurde. Mit geballten Fäusten hat sie es zähneknirschend entgegengenommen. Jetzt, in dieser abweisenden, einsamen Fasnachts–Nacht, heult sie den Bären in der Höhe an, laut und schrill, bis ihre Stimme versagt.
Es knackt und knirscht im Gewölbe. Die Winterwölfin flieht. Im Lauf greift sie nach dem Schlüssel. Durch die nordöstliche Hebammen– Tür verlässt sie den Raum, schließt ab – zweimal dreht sie – rennt Stadt aufwärts. Hat ihr Heulen bewirkt, dass sich ein Schlussstein lockerte? Wird er sich lösen und fallen? Fällt und zerbricht mit ihm der auf eine Holzplatte gemalte Bär?
Kläffend eilt die weiße Winterwölfin zurück ins Fasnachtstreiben. Sie blickt nach rechts, nach links. Ein struppiger Braunbär reicht ihr den Arm. „Lass uns was trinken!“ sagt er.
Sehr fesselnd…
…vom ersten Satz an. Man ist sofort in der Geschichte “drin”
Schön geschrieben
Die Geschichte ist schön geschrieben, aber ich verstehe die Bedeutung nicht. Vielleicht ist mein Gehirngänge zu sehr für technisches verknüpft und versteht diese Mehrdeutungen nicht? Oder gibt es da nichts zu verstehen?