Vom Höhlen-Labyrinth unter Yukatan zum literarischen Irrgarten

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Wenn man die Freien Assoziationen mal so richtig laufen läßt, ergeben sich die abenteuerlichsten Querverbindungen in die eigene und in die Weltgeschichte, mit der Labyrinth-Idee als einer Art Wünschelrute.
Im der neuen Ausgabe des PM-Magazin (Nr 1 /2008) lese ich auf S. 86:

… In dem rund 500 km langen Labyrinth von Höhlen auf der mexikanischen Halbinsel Yukatán sollen noch zahllose Gänge auf ihre Entdecker warten.

Diese Zeilen zu lesen, war fast so etwas wie ein Déjà-vu: 1949 habe ich, als Neunjähriger, mit Begeisterung die Heftchen einer Abenteuer-Serie verschlungen: Sun Koh – der Erbe von Atlantis. In einem unterirdischen Höhlensystem auf Yukatan (!) errichtet der Held eine Basis, in der er sich auf den geweissagten Wiederaufstieg des versunkenen Kontinents vorbereitet.
Soll nochmal jemand behaupten, daß Schundheftchen vergebliche Lesensmüh sind! Einen Großteil meiner Bildung  habe ich aus diesen – meisterhaft erzählten und sehr solide recherchierten – Geschichten eines sächsischen Lehrers bezogen, gerade was geschichtliche und geographische Informationen angeht (Atlantis jetzt mal beiseitegelassen).

Die Reihe (erstmals in den 1930-er Jahren veröffentlicht) wird zur Zeit in einer liebevoll aufgemachten und kritisch kommentierten Buchreihe wieder zugänglich gemacht. Im einführenden Band zu dieser Reihe schreibt Heinz J. Galle zusammenfassend und im Vergleich mit einer anderen Heft-Serie um eine Heldin namens Atalanta:

In den Ruinen einer Maya-Stadt auf Yukatan entdeckt Sun Koh ein altes Höhlensystem, das von Manuel Garcia, einem genialen Erfinder, bewohnt wird. Ihm zur Seite stehen flinke Japaner, die blind all seine Anweisungen befolgen. Atalanta [hingegen] trifft am Großen Sklavensee auf einen Mitbewohner des Felslabyrinths, es ist ein südländischer Typ mit schwarzen stechenden Augen, einem Mephistogesicht und einem Lachen, das wie das Meckern eines Ziegenbockes klingt …

Letzteres war vielleicht kein bewußter Hinweis auf den Minotauros – aber bei einem (Felsen)Labyrinth darf man das ruhig vermuten.

Im selben Buch von H.J. Galle gibt es übrigens noch einen weiteren L-Bezug, diesmal einen Irrgarten (auf S. 276). In der Publikationsgeschichte der Sun Koh-Hefte geht es so wild zu wie in den Geschichten selbst: Das beginnt 1933, also vor dem Zweiten Weltkrieg, in Form kleiner Quarthefte mit wöchentlichem Erscheinen, wird nach dem Krieg 1949 in größerem Format und ziemlich veränderter Reihenfolge der Geschichten fortgesetzt, nimmt in den 1960-er Jahren die Form einer – nochmals kräftig veränderten – Leihbuch-Ausgabe an und mutierte endlich zu einer Taschenbuchreihe. Das veranlaßt Galle als den Herausgeber einer modernen, sachkundig kommentierten und autorengemäß rekonstruierten fünften Edition (SSI Verlag, Zürich, ab 2003) zu der kritischen Bemerkung:

Die Leser der alten Serie erkannten ihren Sun Koh nicht wieder. Die ursprüngliche Reihenfolge wurde verlassen, die (150) Hefte wild durcheinandergeschüttelt. Auf Heft 58 folgte z.B. das Abenteuer aus dem Nummernbereich 137-139. Doch selbst die Bücher, die Sun Koh in einer relativ vernünftigen Reihenfolge enthielten, waren für die früheren Leser zum Irrgarten geworden da alles überarbeitet war. Die Texte der einzelnen Abenteuer wurden zum Teil brutal gekürzt, ganze Kapitel wurden neu hinzugefügt, aus den deutschen Nebenfiguren wurden Engländer und Amerikaner, Zeit und Ort veränderten sich. In Band 28 Die Räuber vom Pfirsichblütenberg wurde die Handlung aus dem Jahr 1925 ins Jahr 1950 verlegt, der Ort der Handlung von China nach Korea verschoben.

So, jetzt wissen Sie, was ich als Kind gerne gelesen – ach was: verschlungen habe und wer der Held meiner Jugend war (bis Tarzan und Superman ihn ablösten). Ohne jede Ahnung, in was für einem unterhaltungsliterarischen Irrgarten ich mich damals bewegte. Ohne Ahnung übrigens auch, daß diese Heftchen ursprünglich (ab 1933) in meiner Geburtsstadt Leipzig erschienen waren – und daß Platon einst seinen mythischen Kontinent Atlantis mit dem Labyrinth-Helden Theseus in Verbindung brachte.

Literatur:
Galle, Heinz J.: Sun Koh – der Erbe von Atlantis und andere deutsche Supermänner / Paul Alfred Müller alias Lok Myler alias Freder van Holk. Zürich 2003 (SSI-media).
Müller, Paul Alfred (alias Lok Myler) : Sun Koh – der Erbe von Atlantis. (Leipzig 1933_Bergmann). Zürich 2005 (SSI-media)

 

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

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