Verwunschenes Schloß in Frankreich(Österreich II)

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Sie dürfen mich beneiden und bedauern zugleich. (Nur Geduld: Agnes Liebis Geschichte, die den Ersten Preis im Wettbewerb bekommen hat, können Sie übermorgen lesen.)

Ich befinde mich in einem 400 Jahre alten Schloss aus der Renaissance, in der Nähe von Wels und Linz. Beneiden dürfen Sie mich um das schöne Ambiente im alten Teil des Seminarhauses, eben das Renaissance-Bauwerk. Bedauern dürfen Sie mich wegen der Rückenschmerzen, die mich jedes Jahr überfallen, wenn ich hier mein Schreib-Seminar abhalte: weil im Neubau (wo sich mein ansonsten recht komfortables Zimmer befindet) Beton und Industrieparkett mein Skelett maltraitieren.

Ob ich deshalb heute morgen mit einem Traumfetzen aufgewacht bin, der nur aus diesen zwei Wörtern bestand: Verwunsches Schloß

Da steckt wohl noch mehr dahinter, vor allem die Lektüre eines Romans, den ich am Vorabend begonnen habe. Ich entdeckte, eine Abendlektüre suchend, Huysmanns´ Zuflucht auf dem gut sortierten (und sehr langen) Büchertisch und dachte mir: Wenn ich bei einem auf das Labyrinth-Thema stoße – dann bei Huysmans (der Ende des 19. Jahrhunderts ein sehr bekannter französischer Autor war und als dekadent und symbolversessen galt). Erzählt wird die Geschichte eines bankrott gegangenen Ehepaars, das vor der Meute der Gläubiger aus Paris flüchtet und Unterschlupf auf dem Land in einem völlig verlassenenen, total herunter gekommenen Schloß findet. Jaques Marles, der Ehemann, streift nachts und tagsüber durch die Gänge des weitläufigen Gebäudes und den Park. Er versinkt in drei unglaublich intensive Träume (meines Erachtens kräftig durch Rauschdrogen wie Haschisch oder Opium im Autor induziert). Und er entdeckt schließlich dies:

Was für eine Verwahrlosung! sagte er sich, ging wieder hinaus und besah sich den anderen Flügel. Ohne sich große Hoffungen zu machen, trat er durch immer neue Türen in immer neue Zimmer, verirrte sich in diesem Labyrinth, kam wieder bei seinem Ausgangspunkt an, drehte sich um sich selbst und wurde schwindlig im Kopf vor dieser unentwirrbaren Verschachtelung von Kammern und Sälen.
Er verursachte dabei einen höllischen Lärm; in der Leere hallten seine Schritte wie der Marschtritt eines ganzen Bataillons [ . . . ]
Als der ganze Lärm begann, ihm auf die Nerven zu gehen, erreichte er am Edne des Schlosses einen riesigen Salon voller Regale und Schränke […] Es war die ehemalige Schloßbibliothek. 

Bedenkt man, dass dieser Roman 1886 veröffentlicht wurde, kann man nur staunen, wie der Autor die Verbindung von Labyrinth und Bibliothek lange vor Borges vorwegnimmt (mehr zu Borges in einem späteren Beitrag).

In der Nachbemerkung des Übersetzers (?) kommt übrigens  (auf S. 220) auch der Rote Faden zu Ehren:

Wie ein roter Faden zieht sich eine Polarität durch den Text: der Widerspruch zwischen der grandios beschriebenen Natur und den als abstoßend wahrgenommenene Landbewohnern.

Dies möchte ich noch ergänzem um die Anmerkung, dass Huysmans nicht nur die Natur grandios beschreibt – sondern auch die ekstatischen Träume der Hauptperson und die bröckelnde Dekadenz dieses in die Verwahrlosung hinein zerfallenden Schlosses. Wer gerne eine ästhetische, unglaublich farbige Sprache liest und fein beobachtete menschliche Schicksalslinien kennenlernen möchte, ist mit diesem Roman sehr gut beraten. Dass Huysmans dem L-Motiv seinen Tribut zollt, hat mich nicht verwundert – gefreut hat es mich umso mehr, dass er diesen Topos tatsächlich in seine verwirrende Gefühls- und Schloßwelt einbezogen hat.

Als ich heute morgen des Schloß Puchberg photographierte, hatte es in der Morgendämmerung (und wohl auch eingefärbt durch meinen Traum und die Romanlektüre) etwas recht Morbides und Dekadentes. Wie bemerkte einst William Shakespeare? "Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters" – und das Hässliche wohl ebenfalls. Wer eine sonnigere, ja heitere Ansicht des Schlosses sehen will, findet sie hier: Schloß Puchberg (am besten die virtuelle TOUR anklicken)

Abb.: Das verwunschene Schloss liegt abweisend und düster im Morgen-
grauen, umtost vom Lärm des nahen Autobahnzubringers. Nicht nur "Schönheit" liegt im Auge des Betrachters, sondern auch (wenn er in der richtigen üblen Laune ist) Dekadenz und Verlorenheit.

Quelle:
Huysmanns, Joris-Karl: Zuflucht (En Rade _ Paris 1886) München April 2007 (dtv)

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

Schreibe einen Kommentar