Ukrainski Blues mit Spiegelkabinett und ein Déjà-vu
BLOG: Labyrinth des Schreibens

"Streifzüge durch die Ukraine" nennt Dietmar Schultke seinen Reisebericht. Es ist eine Reise zu den gemeinsamen slawischen Wurzeln, die seine Heimat in der Spreewaldregion mit dem Land am Schwarzen Meer verbinden.
Eigentlich kein Thema, das mich sonderlich interessiert. Aber ich kenne den Autor ein wenig und war von seinen früheren Publikationen sehr angetan, vor allem von seiner Dokumentation über den Bau der Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland (die er als junger Zeitsoldat in der DDR-Armee aus nächster Nähe miterlebt hat): "Keiner kommt durch". Eine Art Fortsetzung war dann Schultkes zweites Buch über die Folgen dieses monströsen Bauwerks (Die Grenze, die uns teilte), ebenso lesenswert.
So langsam las ich mich in den anregend bebilderten und erzählten Ukraine-Büchlein fest. Gewöhnte mich daran, dass seine Schwärmereien für hübsche junge Frauen auch symbolisch zu verstehen sein könnte: als Begeisterung für die Ukraine. Und dann, auf S. 47, eine zusätzliche Belohnung zum Lesevergnügen:
Nach der Gondelfahrt [in Charkow] spazierten wir durch den Gorki-Park; hier gab es Vergnügungen aller Art: Karussell, Schießbude und Spiegelkabinett …
Na, das freut einen denn auch. Mit einer zufälligen Begegnung mit dem Labyrinth-Thema hätte ich in diesem Umfeld nun wirklich nicht gerechnet; aber man entkommt ihm eben nicht. Denn der Labyrinth-Fan weiß, dass ein Spiegelkabinett nicht anderes ist als eine moderne Variante dessen, was man sonst als Irrgarten bezeichnet.
Glas und gläserne Spiegel kannte die Antike nicht. Als vor vielleicht 5.000 Jahren die Idee des Irrgartens entstand (als verzerrte Variante eines kretischen Labyrinths?), kannte man nur die refektierenden Oberflächen von Wasser und poliertem Metall als Spiegel. Hier das Pendant zum Charkower Angebot aus einem anderen Vergnügungspark:
Abb.: Spiegelkabinett auf dem Münchner Oktoberfest 2008 (Foto: JvSch)
(S. zu dieser Thematik auch meinen Beitrag vom 17. März: Spiegelkabinett als Sonderfall.)
Deja vue – ein Nachtrag
Ich hatte diesen Beitrag schon gepostet, als mir beim nochmaligen Durchlesen plötzlich ein Kindheitserlebnis (vermutlich aus dem Jahr 1943) wieder einfiel, an das ich mich bereits bei der Lektüre von Dietmar Schultkes Ukrainski Blues erinnert hatte – nämlich als ich dort auf S. 40 auf den "Dnepr-Strom" stieß. Ich muss etwa drei Jahre alt gewesen sein, als mein Großvater mir einige neue Wörter beibrachte. Das erste lautete "Konstantinopel"; das konnte ich rasch fehlerfrei nachsprechen. Aber dann wurde es schwieriger:
Dnjepr, Dnjestr, Dnjepropetrowsk…
Da musste ich einige Male stotternd herumprobieren, bis mir das – als Nicht-Slawen – fehlerfrei gelang. Ich weiß sogar noch genau diese Reihenfolge der drei fremdartigen Begriffe.
Wie kam mein Großvater auf diese Wörter? Er war zwar schon beim Ersten Weltkrieg dabeigewesen, mitten im Grauen von Verdun. Er hatte sich aber in den Zweiten Weltkrieg nochmals freiwillig gemeldet und war nach Russland bzw. in die Ukraine geschickt worden. Dort konnte man solche Leute wie ihn, den Architekten und Bauunternehmer und Major im Ruhestand, bei den Pionieren gut gebrauchen. Er half wohl, Pontonbrücken über den Dnjepr oder Dnjestr zu bauen. 1943 auf Heimaturlaub, brachte er dann mir, seinem Enkel, auf diese Weise ein Stück Fremde und zugleich Krieg nah. (Weshalb er, der Hitlerfeind, sich für die Naziverbrecher nochmals in die Hölle eines Kriegs begab, habe ich erst vor einigen Jahren begriffen: weil seine Frau, meine Großmutter, im Sterben lag und er dies nicht aushielt.)
Quellen
Schultke, Dietmar: "Keiner kommt durch". Berlin 1999 (Aufbau TB-Verlag)
ders.: Die Grenze, die uns teilte. Berlin 2005-09 (Köster)
ders.: Ukrainski Blues. Cottbus 2009 (Regia)