Termiten an Bord: Verwirrung als literarischer Topos

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Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Jemand hat einmal behauptet, der Kriminalroman sei die moderne Variante der antiken Tragödie. Gerne wird in diesem Zusammenhang die tragische Geschichte des Ödipus erwähnt, die ja sogar gegen Schluss in der Tat einem Verhör wie bei einem Mordprozess gleicht. Der Krimi, den ich hier vorstellen möchte, kommt nicht so tragödisch daher, sondern als Reiseroman.

Wie es der Zufall will, landen wir in diesem Beitrag, nach Timbuktu, schon wieder in Afrika. Diesmal schippern wir an der Westküste entlang, auf dem französischen Dampfer Laos, der von Bombay nach Marseille fährt.

Hansruedi Gehrings Geschichte gleicht mehr einem Spiel mit den Möglichkeiten eines kriminalistischen Rätsels als einer lustigen Seefahrt. Die Verbindung der vertrauten Krimi-Elemente mit einer Schiffsreise und der Sinnsuche des Protagonisten machen den Roman zu mehr als einem Dutzend-Krimi à la Tatort. Der Autor ist, wie sein Held, selbst Arzt und hat als Psychiater und Psychotherapeut in Bern die entsprechenden einschlägigen Erfahrungen und Erkenntnisse mit den düsteren Zeiten des Menschseins.

Der Autor bietet übrigens selbst Krimi-Workshops an, als praktische Anwendung seiner Erfahrungen als Autor. Eine sehr anregende und informative Erfahrung – und das angesichts der imposanten Eigernordwand auf der anderen Talseite von Grindelwald, gegenüber dem Chalet, wo der Workshop stattfindet. Da wurde (wie ich selbst als Teilnehmer mitbekam) rasch klar, weshalb der Eiger von den Bergsteigern auch gerne als Eigermordwand bezeichnet wird – weil er so mörderisch schwer zu bezwingen ist und schon so manches Todesopfer gefordert hat.

Nun, im Workshop ging es – in durchaus gemütlicher und kollegialer Atmosphäre – um etwas anderes, nämlich um die mörderische Seite nicht von Bergen, sondern von Menschen (bei denen dieses Adjektiv ja ohnehin besser passt). Ich erwähne diese Selbsterfahrung im Krimischreiben deshalb vorab, weil Passagen des hier vorzustellenden Krimis von Hansruedi Gehring in der einen und anderen meiner eigenen Roman-Werksätten entstanden sind. Das macht dann richtig Freude: wenn das Endprodukt die Gestalt eines richtigen gedruckten Buches angenommen hat und man im Zusammemnhang lesen kann, was vorher nur seitenweise oder in Exposee-Form vom Autor in der Schreiberrunde zu Gehör gebracht wurde.

Allgegenwart des Labyrinth-Mythos: Metapher im Roman

Zunächst sei der Inhalt aus einer Rezension des Romans in einer Ärztezeitung zitiert, auch weil dort das Labyrinth-Motiv aufgegriffen wird. Danach lasse ich den Autor am besten selbst ausführlich (was er freundlicherweise genehmigt hat) zu Wort kommen. Doch hier zunächst der Rezensent Erhard Taverna:

Ein junger Mediziner besteigt in Bombay ein Passagierschiff, das eine sehr lange Reise vor sich hat. Als Sinnsuchender hat er Indien bereist, jetzt will er zurück in die Schweiz, noch ungewiss über seine berufliche Zukunft. In seiner Haltung mehr passiv als aktiv, wird er ungewollt zum Mitarbeiter des Schiffsarztes, der ihn, froh um jede Fachkraft, für die Infirmerie des ehemaligen Truppentransporters engagiert. Kaum hat der Dampfer abgelegt, stirbt der erste Notfall an einem rätselhaften Skorpionstich. Mit diesem Tod beginnt ein Reigen von gegenseitigen Verdächtigungen und klaustrophobischen Situationen in einer labyrinthischen Passagierwelt mitten auf dem Ozean. Hansruedi Gehring verknüpft geschickt das Innenleben seines Protagonisten mit den undurchsichtigen Rollenspielen eines figurenreichen Ensembles.

Wellen, Wind und ferne Ufer begleiten ein Verwirrspiel um ein geheimnisvolles Pflanzenelixier, das ein Termitenforscher mit sich führt. Eine Liebelei versüßt und kompliziert das Leben des Icherzählers, dessen Ermittlungen hoffnungslos ins Leere zu laufen drohen, bis zwei weitere Todesfälle eine unerwartete Wendung provozieren. Das «Logbuch eines Schiffsarztes», so der Untertitel des Kriminalromans, kann man auf verschiedene Weise lesen. Einfach nur als Kriminalfall mit einem überraschenden Finale oder als Initiationsgeschichte eines Indienfahrers, der nach allen Ashrams und Gurus den Meister in sich selber findet. (Taverna 2011)

 

Und nun der Autor selbst, im Roman:

Am späten Nachmittag sass ich immer noch an meinem Platz bei den Rettungsbooten, als müsste ich dort den Untergang der Laos abwarten. Der Wind wehte heftiger und der Vormast zog mit seinen flatternden Wimpeln unter dichten Wolkenpaketen durch. Dennoch schien die blassblaue Meeresfläche am Horizont nahtlos in den Äther überzugehen. Dann und wann tauchte ein weisser Punkt auf, wuchs zur Scheibe an und liess sich später als Schiff ausmachen, das aus grosser Entfernung entgegenkam.
Ich wollte endlich meine Begegnung mit dem südindischen Heiligen festhalten, solange die Eindrücke noch frisch waren. Etwas sträubte sich in mir dagegen, denn es war nie meine Absicht gewesen, in Indien einen Guru aufzusuchen. Ich hatte auch keinen gesucht, sondern, frei nach Picasso, einen gefunden. Über meine Begegnung mit dem Maharishi in Rishikesch hatte ich einen Bericht an die Zähringer Zeitung geschickt. Die Redaktorin schrieb mir darauf nach Delhi zurück, sie könne weitere solche Portraits brauchen. Ich rätselte, ob ich am Ende mein indisches Tagebuch doch noch publizieren würde. Ludwig, der das behauptete, stand schon eine Weile vor mir:
„Jemand vermisst dich.”
„Wer am meisten?”
„Deine Tischnachbarin.”
„Es gibt zwei Damen am Schweizertisch.”
„Die jüngere mit dem rostbraunen Haar. Es klang bei ihr nach einem Hilferuf.”
„Dafür ist der Schiffsarzt zuständig.”
„Sie will aber dich sprechen.”
„Wo finde ich sie?” Ich spürte plötzlich meinen Herzschlag bis zur Halsschlagader.
„Sie wartet im Salon der Touristenklasse.”
„Ich dachte, so etwas gäbe es nur in der Ersten?”
„Nein, ganz im Gegenteil! Der unsrige gilt als der modernere. Ein bekannter Pariser Innenarchitekt hat ihn entworfen. Darum setzen sich aus Neugierde immer wieder Erstklasspassagiere hinzu. Es wurde bei der Realisierung ausschliesslich nichtbrennbares Material verwendet: verschiedene Metalle, Glas, Keramikplatten und synthetische Textilien”, kam er ins Schwärmen. „Das einzig Brennbare in diesem Raum, pflegt der Barpianist zu scherzen, seien das Klavier und der Taktstock des Dirigenten.”
„Da bin ich ja gespannt!”, hechelte ich auf dem Weg, den mir Ludwig erst zeigen musste. Im Labyrinth der Laos fand ich mich noch nicht überall zurecht.
(Gehring, S. 39)

 

Neun auf einer Fährte

Um im Jargon des Genres zu bleiben: Haben Sie Blut geleckt? Dann sollten Sie den ganzen Roman lesen. Doch nun zur Abrundung des Themas ein Blick ins Werk einer Autorenkollegin. Marion Mainwaring hat ebenfalls einen Krimi geschrieben, der auf einem Schiff spielt, diesmal auf der Atlantikroute von Liverpool nach New York. Ihr Klassiker Neun auf einer Fährte ist ein Leckerbissen für Krimi-Fans, denn in dieser – paraodistisch angehauchten – Erzählung versammeln sich neun der berühmtesten Detektive der Welt (die ja der Imagination von neun anderen Autorenm entsprungen und rein virtueller Natur sind), um ein und denselben Mordfall auf ihre jeweils charakteristische Weise zu lösen. Auch in diesem Roman zeigt das Schiff labyrinthische Eigenschaften – und passenderweise kommt ebenfalls ein Arzt vor:

«Ja, es war schon komisch», plichtete der Erste [Offizier] bei. «Die Pfeife und der Schal, um sie gewickelt… » Hoffnungsvoll fuhr er fort: «Aber vielleicht lagen sie auch nur zufällig da? Vielleicht haben sie mit dem Mord gar nichts zu tun!»
«Wie dem auch sei, ich sehe keinen Sinn darin», antwortete Mallory abwesend, «und bald werden es die Spatzen von den Dächern pfeifen; daß Mallory King* …»
Pfeifen! Pfeife!
Mallory stockte der Atem. Er schluckte. «Rasch», rief er. «Wo kann ich ein Exemplar von Brownings Gedichten finden?»
«Was?»
Vor Mallorys geistigem Auge formte sich ein Bild. Bücher. Papier. Brownings Gedichte. Papiere … «Das Sprechzimmer des Doktors!»
«Wenn Sie Gedichte brauchen, dann finden Sie sie höchstwahrscheinlich dort. Aber warum?» Mr. Waggish sah etwas unglücklich drein.
«Das sag ich Ihnen später. Wenn ich meiner Ahnung nachgegangen bin. Vielleicht ist es das, worauf ich gewartet habe – der Schlüssel zu dem Labyrinth! ,Ich muß unbedingt zum Doktor. Er muß mir ein Buch leihen.»
(Mainwaring S. 158)
* Das literarische Vorbild dieses Detektivs ist “Ellery Queen”.

Indirekt verwendung Marion Mainwaring die Irrgarten-Metapher ein weiteres Mal :

… suchte sie durch winklige Korridore und über mehrere Treppen vorsichtig ihren Weg zum Schiffssalon. Man konnte sich ja so leicht verlaufen! (Mainwaring S.16)

 

Ein internationales Phänomen

So verschieden die beiden Kriminalromane auch sind, schon wegen der zeitlichen Distanz in der sie veröffentlicht wurden (Mainwaring 1954, Gehring 2010) – die Labyrinth-Metapher gibt ihnen auch etwas Gemeinsames. Und sie stellt sie in die lange Reihe der Bücher und Autoren, welche diese Metapher einsetzen, um – bewusst oder unbewusst – die Verwirrung von Menschen darzustellen angesichts rätselhafter Verwicklungen und des modernen menschlichen Zusammenlebens überhaupt.
Ich gehe sogar soweit zu behaupten, dass das Labyrinth als literarischer Topos allenfalls noch von der Odyssee übertroffen wird – obwohl diese Irrfahrten (sic!) genau genommen auch nichts anderes sind, als die verschlungene Bewegung des Helden Odysseus durch das komplexe Yrrinthos der mediterranen Inselwelt. Der irische Dichter James Joyce hat dies gewusst und beide Mythen, Odyssee und Labyrinthiade, in seinem Roman Ulysses vereint.

Und diese Metapher ist keineswegs nur bei Genre-Autoren des Krimis und der Science fiction beliebt. Auch Vertreter des normalen Literatur wie der Nobelpreisträger Heinrich Böll kennen den Irrgarten (Billiard um halb zehn, S. 87), Wolfgang Koeppen weiß von Ikaros (Tauben im Gras, S. 116) und der Tscheche Milan Kundera – damit das nicht nur ein deutsches Phänomen bleibt – weiß um Irrgarten (Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, S. 131), den Irrweg (a.a.O. S. 153, S. 253) und um Gedankengewirr (a.a.O. S. 270) – welch letzteres seine labyrinthische Herkunft nicht verleugnen kann. Nehmen wir noch die Österreicherin Elisabeth Langgässer hinzu (Das Labyrinth – als Titel und einzelne Geschichte in dieser Anthologie) sowie den Amerikaner John Grisham, mit vier Labyrinth-Nennungen in Die Firma (S. 47 and more to come) und die Engländerin Joanne K. Rowling mit Labyrinth und Rotem Faden (Ein plötzlicher Todesfall, S, 90 und 113) oder den französischen Barbarella-Comic und -Film (beide um ein riesiges Yrrinthos drapiert) – dann wird´s richtig international.
Doch davon ein andermal mehr.

Quellen
Gehring, Hansruedi: Termiten an Bord. Zürich 2010 (Wolfbach Verlag). ISBN 978-3-905910-06-3
ders.: Rätselhafter Tod in Zähringen. Zürich 2001 (Orte Verlag)
Mainwaring, Marion: Neun auf einer Fährte (Murder in Pastiche_New York 1954_Macmillan). Reinbek 1964-01 / 2. Aufl. 1979-01 (Rowohlt Thriller TB).
Taverna, Erhard: “Wie man einen Krimi schreibt”. In: Schweizerische Ärztezeitung Nr 92/2011, S. 143

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"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

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