Science Fiction 2: Was das heute sein kann
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Science Fiction geht so weiter, wie es sich für diesen Blog gehört: Mit der Durchdringung eines Labyrinths.
1960 erschien in den USA ein spannenden Reißer von Algis Budrys: Rogue Moon. Der Titel der Übersetzung ins Deutsche, Projekt Luna, sagt, um welchen Mond es da geht: unseren eigenen. Dort entdeckt man bald nach der Mondlandung (die 1960 ja noch pure Science Fiction war) ein rätselhaftes Gebilde, dessen Bedeutung und Herkunft (Aliens?) nie so richtig geklärt wird. Nur eines weiß man: Es handelt sich um ein höchst gefährliches Yrrinthos, also um ein unglaublich komplexes, verwinkeltes, aus unzähligen Gängen bestehendes Gebilde, das jeden tötet, der es betritt.
Held der Story ist ein Rennfahrer, der auf der Erde tödlich verunglückte, aber wieder zusammengeflickt und ins Leben zurückgeholt wird. Passenderweise hat man soeben einen Materietransmitter erfunden, mit dessen Hilfe man diesen unerschrockenen Mann von der Erde, immer wieder in diese schreckliche Matrtix auf dem Mond befördert (das war lange vor Star Trek und “Beam me up, Scotty”). Jedesmal kommt er um, wird reanimiert und kann so immer weiter in die Matrix eindringen, denn der von ihm einmal geschaffte Weg bleibt erhalten. Er stirbt zwar nicht “tausend Tode”, aber doch viele. Für mich eine schreckliche Vorstellung – aber amerikanische Helden sind wohl aus diesem Holz geschnitzt.
Das liest sich alles recht trivial, wie viele SF nicht nur jener Tage, eine richtige Space Opera. Aber dieses Maze, das zugleich so etwas wie ein lebendiger Minotauros ist, muss nur als Metapher für den Lauf des Lebens mit all seinen Gefahren gelesen werden – und schon ist das gar nicht mehr trivial. Ich kenne keine bessere Metapher für die Struktur und die Bewältigung einer unbekannten schwierigen Aufgabe als den Irrgarten – oder eben das Labyrinth, wie es fälschlicherweise immer wieder und meistens tituliert wird, weshalb ich es lieber mit dem Kunstwort Yrrinthos bezeichne.
Budrys hat eine streckenweise recht lieblos skizzierte (oder schlecht übersetzte?) Geschichte geschrieben. Aber seine Idee mit dem Rogue* in Form einer technischen, außerirdischen Struktur finde ich genial. Wie ich gerade bei amazon recherchiert habe, gibt es derzeit zehn Exemplare der deutschen Ausgabe Projekt Luna für schlappe einen einzigen Cent (!) pro Exemplar, wozu natürlich noch die Versandkosten von etwa drei €uro kommen. Also: Zugepackt!
* – als englische Bezeichnung für ein gefährliches Raubtier oder einen bösartigen Schurken.
Das einzige literarische Genre, das sich mit der Zukunft befasst
Science Fiction ist das einzige literarische Genre, das sich mit der Zukunft befasst. Das mag sich jetzt ebenfalls trivial ausnehmen, wo SF sich doch per Definition mit der vor uns liegenden Zeit befasst. Aber das ist keineswegs trivial, denn
° zum einen gibt es Stories “nach Art der Science Fiction” (wie man sie nennen könnte), welche voll und ganz in der Gegenwart spielen;
° zum anderen gibt es Zeitreise-Geschichten, die den Leser in die Vergangenheit entführen (wie in einem Teil der Zeitmaschine von H.G. Wells).
Zu ersteren gehören alle Geschichten von Invasionen durch Außeriridische, die sich jetzt gerade ereignen, von denen jedoch nur wenige Erdenmenschen Kenntnis haben (mit diesem Plot spielt die Trilogie um die Men in Black). Auch Stories um parallele Welten gehören hierher, bei denen es meist um eine Alternate History geht, wo in einer parallelen Erde sich einiges anders entwickelt hat. Ein Klassiker auf diesem Gebiet ist Carl Amerys geistvoll-witziges An den Feuern der Leyermark, wo bayerische Helden in den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg eingreifen und dieser einen völlig anderen Verlauf nimmt. Auch Heinz Zwack spielt mit mehreren solchen alternativen Welten; seinen soeben erschienen Roman Neben weit habe ich gerade druckfrisch erhalten und gleich mit großem Interesse begonnen zu lesen (ich werde darüber noch berichten: 444 Seiten wollen genossen und durchgearbeitet werden!)
Warum noch immer Schmuddelkind der Literaturwissenschaft?
Zugleich ist diese Literaturgattung immer noch so etwas wie ein Schmuddelkind der Literaturwissenschaft und der Feuilletons. Allerdings hat sich da bereits einiges zum Positiven hin verändert, weil viele Journalisten und Literaturwissenschaftler inzwischen vor allem durch das Fernsehen mit SF auf eine zwanglose Art aufgewachsen sind – ganz anders als ich und die SF-Fans um meinen Jahrgang 1940 herum.
Wichtigkeit und Schmuddel-Image: Zwei Sachverhalte, die irgendwie nicht zusammenpassen und keineswegs der Realität entsprechen: Denn was wären wir Menschen ohne unsere intensive und ständige Beschäftigung mit der Zukunft?
° Der Taschenkalender verzeichnet unsere wichtigen kommenden Termine – sie warten alle in der Zukunft.
° Wir planen unseren nächsten Sommerurlaub und die Altersrente – das eine näher, das andere ferner in der Zukunft.
° Wir kaufen im Supermarkt ein, weil wir – sehr nah in der Zukunft – daraus unser nächstes Mittag- oder Abendessen bereiten wollen.
° Wir bestellen ein Buch in unserer Buchhandlung , das wir demnächst lesen wollen.
° Wir lernen mehrere Jahre lang eine Fremdsprache wie Japanisch, Arabisch oder Chinesisch oder üben fleißig am Klavier – in der Annahme, dass uns dies in der Zukunft einen Nutzen bringen wird oder zumindest Vergnügen.
° Wir rufen einen Freund an und verabreden uns zu einem Gespräch im Café.
° Wir gehen zur Vorsorgeuntersuchung wegen was auch immer.
° Wir pflanzen einen Samenkern in die Erde in der Hoffnung, dass wir demnächst Äpfel oder Kirschen davon ernten können.
° Wir schreiben für einen Blog wie diesen und erwarten, dass er gelesen und kommentiert wird und irgend etwas bewirkt.
° Wir steigen in Berufskarrieren ein, gründen eventuell ein eigenes Unternehmen.
° Wir schließen nicht zuletzt Ehen und zeugen Kinder und begleiten sie durchs Leben, später kommen vielleicht noch Enkel dazu.
° Wir wissen alle, dass wir irgendwann sterben müssen und uns Tag für Tag auf dieses unausweichliche Ziel hin bewegen.
Warum gibt es angesichts dieser ungeheuren Bedeutung der kommenden Zeit so wenig Interesse an einer Literatur, die sich diesen Möglichkeiten auf viel lebendigere Art annähert als dies ein Sachbuch oder eine Doku im Fernsehen vermag?
Und seien wir mal ehrlich: Was im Kino und im Fernsehen als Beschäftigung mit der Zukunft daherkommt, ist doch im Grunde nur Abenteuerspiel für Jugendliche, nachzumal männliche. Ist pures Unterhaltungsspektakel, das die modernen Möglichkeiten der CGI (Computer-Generated Imagery resp. Computer-Generierte Inhalte) bis zum Anschlag nützt, um uns in dreidimensionale Phantasiewelten zu entführen. Ich habe mir Avatar von James Cameron schon acht Mal im Kino und einmal auf Blu-ray angeschaut und bin nach wie vor hingerissen von dieser grandiosen Geschichte. Aber Seelenwanderung mittels einer Maschine aus dem Körper eines verstümmelten Soldaten in den künstlichen, geklonten Körper des Bewohners eines fremden, für uns Erdenmenschen tödlichen Planeten irgendwo draußen im Universum?
Was für ein Schmarr´n, wie der Bayer sagt. Derselbe Schmarr´n ist die Annahme, es würde sich finanziell lohnen, mit gigantischen Raumschiffen Prospektoren, Wissenschaftler, Geschäftsleute und – last but not least – Soldaten durchs Universum zu karren, um irgendein seltsames Metall aus dem Boden zu baggern und zur Erde zurückzutransportieren, welches die Schwerkraft aufhebt! Doppelter Schmarr´n also, physikalischer und finanzieller. Aber ich bin im Kinosessel ganz hingerissen von den Drachenritten und all den anderen exotischen Wundern, die Cameron uns da in seinem Film serviert. Wir genießen die Kampfszenen (vow! was für ein Theaterdonner!) Und unser Innerer Teenager ist faziniert von Schwebenden Felsen und einer bizarr exotischen Planetenwelt.
SF hat noch ganz andere Qualitäten
In meinen Schreib-Seminaren geht es mir allerdings um ganz andere Qualitäten der Science Fiction. Es geht nicht zuletzt um die Erfahrung der eigenen Zukunft. Diese kann natürlich stets nur eine Erwartung sein, ein imaginäres, virtuelles Spiel mit den persönlichen Möglichkeiten. Zeitreisen in die eigene Zukunft (oder auch Vergangenheit) erlauben wundersame Selbsterfahrungs-Trips – auch wenn wir uns im Klaren darüber sein sollten, dass Zeitreisen als reale Erfahrungen niemals möglich sein werden. Aber sich vorzustellen, man reise mit so einem Vehikel à la H.G. Wells´ Zeitmaschine zurück in frühere Jahre der Existenz und könnte dort ein wenig am Rad des Schicksals drehen, nach dem Motte: “Was wäre wenn…” –
– dies erlaubt interessante Spekulationen mit dem eigenen Schicksal. Gewissermaßen um “drei Ecken herum” können wir so schreibend und phantasierend, ganz nach Art eines SF-Autors, ein besseres Verständnis für unsere Lebensgeschichte gewinnen,. Nimmt man sich dazu die Zeit, die ein ganzer Roman erfordert, ist der Gewinn entsprechend größer. Das wird mir jede(r) bestätigen, der oder die einmal so ein komplexes Werk verfasst hat. Und dies ist ein Gewinn jenseits irgendwelcher literarischer Qualitäten oder gar ökonomischen Return on Investment. Denn die Zeit und die seelische Energie, die man in ein solches Werk investiert, ist beträchtlich.
Um Newcomern den Einstieg zu erleichtern und erfahrenen Schreibern den speziellen SF-Aspekt zugänglich zu machen, biete ich jedes Jahr ein Wochenenende mit dem Thema Science Fiction oder Fantasy an. Ich nehme es mit dem Science ganz bewusst nicht so streng, weil es zunächst ja mal um die Phantasie geht. Das technische Brimborium der SCIENCE Fiction ist ohnehin meistens ein nur notdürftig kaschiertes Fantasy-Element. Oder ist das Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit, die Aufhebung der Schwerkraft und noch so manches andere Thema der scheinbar so realistischen SCIENCE Fiction viel anderes als eine technisch verbrämte Fantasy? Nur dass man statt, beispielsweise, mit Hilfe eines Zauberspruchs und eines magischen Besens wie Harry Potter und seinesgleichen durch die Lüfte zu reiten, ruft: “Beam me up, Scotty!”. Und Scotty holt uns mit Hilfe eines nicht weniger wundersamen Materietransmitters zurück ins rettende Raumschiff.
Allgegenwart des Labyrinth-Mythos
Den Roman Rogue Moon von Algis Budrys habe ich eingangs schon erwähnt. Er soll für viele SF-Romane stehen, bei denen der Begriff Labyrinth entweder in der Geschichte oder bereits im Titel vorkommt.
Im Film Das Mercury Puzzle mit Bruce Willis in der zweiten Hauptrolle (der eigentliche Held ist der autistische, hochbegabte Simon, den der großartige Miko Hughes spielt) geht es eigentlich um einen ganz gegenwärtigen Thriller. Aber das Plot hat im Kern doch ein SF-Element: Die NSA (ja, genau die!) hat einen angeblich nicht zu knackenden digitalen Code entwickelt. Um zu testen, ob er wirklich nicht geknackt werden kann, veröffentlicht ihn ein übereifriger Mitarbeiter des Geheimdienstes in einem Rätselheft. Simon bekommt dies in die Finger und geht seiner Lieblingsbeschäftigung als Autist mit einer beeindruckenden Inselbegabung nach: Er erkennnt verborgene Muster. Und so erkennt er auch wider alle Prognosen das Muster dieses Codes: einen optischen Irrgarten. Simon ruft bei der angegebenen Telefonnummer an, um stolz die Lösung mitzuteilen – und dann bricht die Hölle los. Die NSA resp. deren ehrgeiziger und skrupelloser Boss (gespielt von Alec Baldwin) schickt ihre Killer los, die Simon und alle Mitwisser beseitigen sollen. Denn wer diesen Code kennt – kann alle Auslandsspione der NSA enttarnen und töten!
Böse, böse – denkt man als Zuschauer. Heute weiß man über die NSA natürlich noch ganz andere Sachen. Aber im Film genügt dieser Plot. Keine Science Fiction im üblichen Sinne, mit Raumschiffen, Robotern und anderen Supermaschinen. Aber von der Bedeutung des Ungewöhnlichen her und des sense of wonder würde ich diese Geschichte sofort als SF verstehen.
Quellen
Aldiss, Brian und David Wingrove: (1973/86) Der Milliardenjahretraum. Bergisch-Gladbach 1990 (Bastei Lübbe)
Amery, Carl: An den Feuern der Leyermark. München 1979 (Nymphenburger)
Becker, Harold (Regie): Das Mercury Puzzle. USA 1997 (Universal)
Budrys, Algis: Rogue Moon. New York 1960. Deutsche Übersetzung “Projekt Luna”, München 1970/2. Aufl. (Heyne TB)
Sonnenfeld, Barry (Regie): Men in Black. USA 1997 (Columbia)
Zwack, Heinz: Nebenweit. Berlin Juli 2013 (Atlantis-Verlag Stolberg)
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Aktualisiert: 25. August 2013/12:35
v 1.2
SF & Fantasy
Das ist ‘ne gute Frage.
Ich hab mir ja auch schon so einige Gedanken dazu gemacht und kam dann u.a. wegen der “Macht”, die in Star Wars eine grosse Rolle spielt, zu dem Schluss, dass jede auch noch so phantastische Technik irgendwelche Grenzen hat. Wenn man die Überwinden will, dann kommt doch wieder Magie ins Spiel, die in star Wars durch “die Macht” repräsentiert wird. Die Hexen und Zauberer nennen sich dann Jedi Ritter. Nur macht nicht jede Science Fiction diesen Sprung ins Mystische mit.