Ruf des Abenteuers II: aus psychoakustischen Labyrinthgängen
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Wenn man intensiver in ein Thema eintaucht – und das Schreiben eines Blog ist genau dies -, erscheinen plötzlich Apekte, mit denen man nicht gerechnet hat.
So beansprucht ein derartiges öffentliches Logbuch beispielsweise eine Menge mehr Zeit, als wenn man nur für sich im stillen Kämmerlein ein Tagebuch führt. Man muss viel genauer hinschauen, ob die Gedankengänge auch für Außenstehende klar nachvollziehbar sind. Um die Rechtschreibung muss ich mich natürlich auch mehr kümmern, als wenn ich nur private Notizen mache, die außer mir niemand zu sehen bekommt (ein guter Moment, mich zu entschuldigen für alle Fehler dieser Art, die mir auch beim fünften und sechsten Korrekturlesen durchgerutscht sind – mea culpa!)
Um den Ruf eines Abenteuers handelt es sich bei diesem Blog noch in einer anderen Hinsicht als den, welchen ich vor einiger Zeit skizziert habe (Ruf des Abenteuers I). Die Beschäftigung mit dem L-Thema hat seltsame Nebeneffekte gezeitigt, so als würde da ein ganz spezielles Feld entstehen, das einem nicht nur per Zufall die eigenartigsten Zusammenhänge aufdeckt, sondern auch neue Einsichten vermittelt.
Die eine Einsicht, die mir zuvor schon irgendwie bewusst war, die aber nun durch die Häufung der Belege immer mehr ins Zentrum rückt, ist die, wie unglaublich intensiv Aspekte der Labyrinth-Geschichte aus den historischen Tiefen des Altertums unsere Gegenwart durchdringen:
° Ich erinnere nur an den sprichwörtlichen roten Faden, ohne den viele Zeitgenossen sich schon in ihren Schriften und Reden hoffnungslos verheddern würden (wenn sie ihn denn überhaupt finden). Deswegen habe ich einen separaten Sampler eingerichtet, in dem ich besonders eindrucksvolle Beispiele zusammentrage: Rote Fäden bilden ein Netzwerk.
° Oder was wären unsere Intellektuellen ohne die schillernde Metapher vom Labyrinth – gleich in welchem künstlerischen oder wissenschaftlichen Zusammenhang?
Letzteres macht sich auch deshalb gut, weil es im Leser automatisch bestimmte geheimnisvolle, Neugier weckende und nicht selten wohl auch beängstigende Assoziationen hervorruft. Ein älteres Beispiel hierfür aus der Rezension einer Opernaufführung in der Süddeutschen Zeitung. Behandelt wurde, als Auftakt der Münchner Biennale 2002, die Uraufführung von André Werners Musiktheaterwerk Marlowe: Der Jude von Malta:
Komponiert hat André Werner so, als würde man kunterbunt gemischt Ausschnitte aus einer Oper hören, die als Ganzes gar nicht existiert. Machiavelli, dessen Thesen zur Zeit von Christopher Marlowe gerade das Eroberungsfieber der Herrschenden erhitzten, wird von Werner zum Spielleiter des Stücks aufgewertet, der sich zumindest zu Beginn wie eine Marionette fügt. Die musikalische Dramaturgie sei somit keine echte, Musik und Szenenfolge sollen Stringenz vorgaukeln, die durch Brüche im Satz immer mehr unterminiert werde.
Nicht das Biennale-Motto hat André Werner zu solchem kompositorischen Tun ermuntert. Das Projekt hat er vor einigen Jahren vorgeschlagen als die Art, wie ihn Musiktheater interessiert: als Spiel mit den Zeitverläufen, mit psychoakustischen Labyrinthgängen, die an Treppenhäuser von Escher oder im Harmonischen an Möbiusbänder erinnern. Das interaktive Bühnenbild, in dem der Raum nur virtuell aufscheint, soll schlüssig den musikalischen Ansatz ergänzen. Vor 400 Jahren hat Marlowe in diesem Stück über die fatalen Verknüpfungen von Macht, Politik und Religion nachgedacht. Unsere Tage rufen drastisch ins Bewusstsein, wie relativ die Zeit sich gegenüber solchen Strukturen verhält. Der Jude von Malta existiert heute, es gab ihn auch schon 1000 Jahre vor Marlowe. Das Stück ist fordert stets aufs Neue seine Vergegenwärtigung.
Wunderbar – diese psychoakustischen Labyrinthgänge, die dann gleich noch mit den nicht minder geheimnisvollen und schillernden Treppenhäusern von Escher und den hirnwindungenverdrehenden Bändern des Mathematikers Möbius verknüpft werden!
In der Science Fiction nennt man das, was solche Assoziationen heraufbeschwört, sense of wonder. Frei übersetzt: den Sinn für das Wundersame, Magische, Märchenhafte.
Aber dieser Ruf des Abenteuers ist für mich noch etwas ganz anderes: Ich habe den Verdacht, dass im Labyrinth-Symbol und in dieser ganzen LABYRINTHIADE noch viel mehr steckt, als uns bisher bekannt ist. Was wir schon wissen, ist ja nicht wenig. Aber kaum erforscht sind die möglichen tiefenpsychologischen Aspekte dieser hochkomplexen Geschichte – und auch die kulturgeschichtlichen und archäologischen sind noch keineswegs erschöpft. Wer weiß, was demnächst eine Grabung an einem heute noch nicht (medien)bekannten Ort zutage fördern wird – beispielsweise ein Labyrinthsymbol auf einer 10.000 Jahre alten Keramikscherbe?
Beim Schreiben des 200. Eintrags irgendwann im Verlauf des nächsten Jahres (?) bin ich, sind Sie, vielleicht schon ein wenig schlauer. Oder auch nicht. Denn nicht jede HELDENREISE geht ja gut aus, führt zur Hebung eines Schatzes – auch nicht die der Forschung (deren Schätze solches neues Wissen ja ist).
Dem lockenden Ruf der Wildnis und ins Abenteuer muss man trotzdem folgen!
Quelle: Reinhard: "Virtuelle Verwirrung". In: Südd. Zeitung vom 27. April 2002