Mord in Knossos

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Eine Geschichte, die in Athen beginnt und in Kreta auf ihren mörderischen Höhepunkt zutreibt – welcher Autor würde da auf Knossos und das Labyrinth verzichten?

Wieder einer dieser Zufälle. Beim Aufräumen meiner Bibliothek ordne ich die Krimis ein. Dabei fallen mir zwei Bücher von Patricia Highsmith in die Hände, die ich noch nicht gelesen habe. Ich schätze die Autorin sehr und werde neugierig. Denn „Die zwei Gesichter des Januars“ hieß in einer früheren Ausgabe „Unfall auf Kreta“. Wenn ein Autor eine Geschichte auf Kreta spielen lässt – kommt er/sie da am Labyrinth-Thema vorbei?
Beeindruckend ist, mit welchem Geschick die Highshmith sowohl das Labyrinth-Thema einführt als auch wie sie erzählend damit spielt. Es ist zudem mit der Backstory der Hauptfigur Rydal Keener verknüpft (dessen Vater ihm schon als Kind Griechisch beibrachte und die Labyrinth-Sage erzählte). Es handelt sich um eine exzellent entwickelte Dreiecksgeschichte. Sie beginnt mit einem Totschlag im Affekt, geht mit einem bewussten Mord in der Palastruine zu Knossos weiter – und ist eigentlich eine Spätauflage einer miserablen Sohn-Vater-Beziehung. Psychoanalyse-Erfahrene erkennen, wie die Autorin geschickt mit den sich zum tödlichen Finale aufschaukelnden Wechselspiel von unbewussten (teils sogar bewussten) Übertragungen und Gegenübertragungen spielt – ohne dass der Name “Sigmund Freud” jemals auftaucht.
Wer noch genauer hinschaut, erkennt sogar im suizidalen Verhalten des Übeltäters Chester am Schluss im Gefängnis in Marseille eine Art Wiedergutmachung an Vaters Stelle – befreit diese Beichte und Schuldannahme doch den sohnähnlichen Protagonisten Rydal, der seinerseits unter Mordverdacht in Paris inhaftiert ist, von allen möglichen Anklagepunkten, eine Passfälschung ausgenommen (die ihm auch noch nachgesehen wird).

Zitate mit Bezug zum Labyrinth-Thema

Auf S. 18 erwähnt die Autorin erstmals Kreta und den Ort Knossos. Auf S. 78 geht es dann gleich mitten rein in den Labyrinth-Bezug:

Rydal fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »[…] Ich hatte auch schon an Knossos gedacht, für morgen . Es ist von hier bloß dreißig oder vierzig Minuten mit dem Bus. Das hat mir der Portier vorhin gesagt. Wir könnten so um zehn Uhr hinfahren, dann eine Stunde dort bleiben …« Chester sah seine Frau an. »Was meinst du, Kindchen?« »Was ist doch noch mit Knossos? Ich hab’s vergessen.« »Wo das Labyrinth ist«, sagte Rydal. »Der Palast des Königs Minos.« Er hätte fortfahren und alles über den Knossos-Palast herunterbeten können, was ihn sein Vater als Kind hatte lernen lassen. Er trank seinen Uzo aus. »Das Labyrinth? Ich dachte, das ist bloß eine Sage.« Colette saß auf dem Rand des großen Doppelbettes und schwenkte ihren Highball; das Eis klinkerte gegen das Glas. Rydal schwieg. »Nein, nicht so ganz«, sagte Chester. »Die Sage ist erst hier, in diesem Palast entstanden. Du mußt das mal im Kreta-Führer nachlesen.«

Auf S. 124 wird der “Palast von Knosso” nochmals erwähnt. Dann geht es mittenrein (S. 125/26):

Sie verließen die Stadt; Chesters Taxi war nirgends zu sehen. Rydal saß aufrecht und sah hinaus. Er entsann sich des Bildes von Knossos in seines Vaters Arbeitszimmer; es war eine alte Fotografie gewesen, auf der man ein paar Ruinen im Hintergrund sah – viel zu wenige für seine kindliche Neugier. Wo ist denn das Labyrinth? hatte er seinen Vater gefragt, und sein Vater hatte mit einem Seufzer versucht, ihm zu erklären, daß man auf dem Foto nur wenig von dem Palast sah, der Palast sei vier Stockwerke hoch und der größere Teil liege hinter dem Hügel. An den Hügel erinnerte sich Rydal am besten: dunkles Gras mit ein paar Zypressen, die wie schwarze Ausrufungszeichen wirkten. Ein heller gewundener Pfad lief über das ganze Bild, und im Vordergrund sah man zwei grasende Schafe und einen schwarzen Esel. Diesen Hügel suchte er jetzt während der Fahrt nach Knossos. Gab es überhaupt ein Labyrinth? Das hatte er auch seinen Vater gefragt – das Kindergemüt konnte das Durcheinander von Fakten und Legende nur schwer begreifen. Viel später erst hatte er begriffen, daß die verwirrende Anzahl der ineinandergehenden Palasträume die Legende von einem Labyrinth oder Irrgarten hatte entstehen lassen, so wie die Stiertänze der jungen Männer die Sage vom Minotaurus, dem Menschen mit dem Stierkopf, hatte entstehen lassen.
Immer noch regnete es in dünnen Fäden. »Knossou«, sagte der Chauffeur und wies auf einen Drahtzaun, an dem sie entlangfuhren. Nirgends sah man Häuser oder Bauten.
»Wo ist der Palast?« fragte Rydal.
»Hinter dem Hügel.«
Sie fuhren auf einen mit Kies bedeckten halbrunden Platz, wo an einer Bude Eintrittskarten verkauft wurden. Rydal sah Chester und Colette drüben den Hügel hinaufgehen, den Zypressen zu und den Palastsäulen mit dem Dach, die er jetzt erkannte. Das war der Hügel aus dem alten Bild.

Ob der Palast von Knossos wirklich das Vorbild für das Labyrinth war, wird nicht nur von Hermann Kern bezweifelt (“Labyrinthe”). Denn bekanntlich ist das, was auf Abbildungen als “kretisches Labyrinth” dargestellt wird, gerade nicht verwirrend, sondern sehr klar im Hin-und her seiner Bögen eines einzigen Ganges; zur Minotauros-Geschichte passte die Vorstellung eines Irrgartens bzw. Yrrinthos (wie ich das lieber nenne) recht gut.
Geschickt baut Patrizia Highsmith immer wieder Bezüge zum Labyrinth-Motiv ein:

  • Auf S. 128 wird nochmals das Labyrinth erwähnt,
  • auf der nächsten Seite der Minotauros,
  • dann wieder das Labyrinth(S.128),
  • »Der Thron von König Minos«, »Hier kann man sich aber leicht verirren« (S. 129)

Man merkt als aufmerksamer Leser, wie die Geschichte  immer gefährlicher wird. Und dann passiert, auf S. 130, tatsächlich der (zweite) Mord. Doch damit ist das Spiel mit dem Labyrinth-Motiv noch nicht zu Ende:

  • Auf S. 143 wird die Leiche entdeckt: »in einer Ecke des Labyrinths« (das nun als Schauplatz ganz direkt eingeführt wird – obwohl es sich ja eigentlich um die Ruine des minoischen Palastes handelt),
  • Obwohl die beiden Hauptfiguren Rydal (als Protagonist) und Chester (als Widersacher und Vaterfigur) sich längst nicht mehr auf Kreta, sondern auf einem Fährschiff und dann wieder in Athen, später in Paris befinden, taucht noch viermal das Stichwort Knossos auf (S. 147, 148, 209, 2028)

Man sieht deutlich, wie die Autorin weiter mit dem Reizthema und MindCatcher Labyrinth spielt. Insgesamt ist “Die zwei Gesichter des Januars” ein sehr lesenswerter Roman – dem die Autorin durch die geschickt eingebauten Labyrinth-Bezüge eine zusätzliche literarische Ebene eingezogen hat. Insgesamt gibt es, über den Roman verteilt, 13 Bezüge zum Labyrinth-Thema: 7 mal Knossos (3 mal vor dem Mord, 4 mal danach). 4 mal Labyrinth, je einmal König Minos (und sein Palast) und der Minotauros.
Alles in allem ein schönes Beispiel dafür, wie Künstler auch und gerade in der Gegenwart (naja: der Roman ist 1964 in den USA erschienen und inzwischen fast ein halbes Jahrhundert alt) von diesem uralten Motiv profitieren.

Quelle
Highsmith, Patricia: Die zwei Gesichter des Januars. (The Two Faces of January _ New York 1964). Zürich 1974 (Diogenes TB). (Eine ältere Übersetzung ins Deutsche erschien 1966 unter dem Titel “Unfall auf Kreta”)
Kern, Hermann: Labyrinthe. München 1982 (Prestel)

Schauen Sie bitte gelegentlich auch mal in die früheren Beiträge dieses Blogs rein! Hilfreich sein könnten vor allem die Vorbemerkung zu diesem Labyrinth-Blog und die Zeittafel. Die wichtigsten Personen und Begriffe werden erläutert in Fünf Kreise von Figuren sowie im Register dieses Blogs.

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"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

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