Medea Merkel: Mörderische Mutti

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Dies ist ein anschauliches Beispiel, wie präsent auch die Nebenfiguren der Labyrinth-Sage sind. Hier: Medea, die kindermordende Stiefmutter des Theseus. Die scharfzüngige Glosse von Evelyn Roll ist zugleich ein kleines schreiberisches Meisterstück.

Aus Copyright-Gründen (Jux Guttenberg!) kann ich leider nur zwei kurze Zitate von Anfang und Ende eines Beitrags von Evelyn Roll im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung vorstellen; der komplette Text ist hier zugänglich. Die Dreiklang-Fanfare des Titels “Merkel. Mutti. Und Medea“* ist zudem noch eine witzige Alliteration. Der Text selbst ist ein ironischer, nein: schon sehr sarkastischer Kommentar zum Thema “weibliche Macht und wie die Männer darauf reagieren” – nämlich als kleine Buben (und ängstliche Hosenscheißer – was die Autorin geflissentlich nicht schreibt).
* Nachtrag vom 14. Juni: Die Online-Ausgabe der Süddeutschen traut ihren Leser offenbar nicht so viel Bildung zu, dass sie wüssten, wer “Medea” ist. Dort hat man den knackigen Titel der Print-Ausgabe umgefummelt in ein blasses: “Glück gehabt, die Kleine! Seltsame Frisur.” Damit ist der ganze sarkastische Pfeffer raus aus dem Titel. Schade.

Eben war sie noch so entscheidungsschwach und ohne jede Durchsetzungskraft, die Mutti. Und jetzt Medea, die ihren liebsten Sohn tötet? Man hätte die Sache ja auch so beschreiben können: Ein Minister, der eine wichtige Landtagswahl dermaßen haushoch verliert, hat in einer auf die nächste Bundestagswahl zusteuernden Mediendemokratie nicht mehr genug Autorität, um dieses so komplizierte, wie bedeutende Projekt seiner Regierung durchzusetzen. Die Bundeskanzlerin, die diesen Zusammenhang etwas schneller zu Ende gedacht hat, als die meisten anderen, entlässt also diesen Minister, bevor das allgemeine Demontage-Theater los geht, und ersetzt ihn durch einen, dem sie offenbar zutraut, die Energiewende zu managen.

Erinnern wir uns, wer diese Medea ist, die in den Medien immer dann zuverlässig auftaucht, wenn es um Kindsmord im direkten oder – wie im hier behandelten Beispiel – im übertragenen Sinne geht. Medea ist zunächst eine zentrale Figur in der Argonautensage. Jason, der das Goldene Vließ mit ihrer zauberischen Hilfe aus Kolchis stiehlt, wird ihr Geliebter und Ehemann. Aber er hat ihr Herz nur vorübergehend gestohlen und wendet sich bald einer Jüngeren zu. Daraufhin ermordet Medea in rasendem Eifersuchtswahn und Zorn ihre eigenen Kinder, um Jason auf diese bizarre Weise zu strafen. Sie flieht nach Athen, heiratet dort den König Aigeus – und wird dadurch Stiefmutter des Theseus. Auch den will sie, mit Hilfe eines Gifttranks, meucheln. Aber König Aigeus entdeckt dies und verjagt sie in die Verbannung. Erst dann macht Theseus sich auf nach Kreta, um dort im Labyrinth den Minotauros zu besiegen. Weitere Details zur Labyrinthiade und ihren Figuren hier im Blog.

In ihrer Glosse schildert Evelyn Roll genüßlich (ja, man spürt ihr Vergnügen daran in jeder Zeile) das seltsam ambivalente Bild der Männer (in den Medien) von unserer Kanzlerin (von unserem weiblichen Kanzler?). Dann zerlegt sie es mit ein paar Handkantenschlägen und setzt noch eins drauf, indem sie am Schluss ein weiteres Mal Medea in ihrer ambivalenten Rolle als Mutti und Mörderin bemüht:

Wann immer sie abwartet und den Kompromiss sucht – bei Männern gilt das als hohe politische Kunst – ist sie zu zögerlich. Agiert sie explizit machtvoll, kippt die Unterschätzung sehr berechenbar um. Aber nicht in Bewunderung und Respekt wie bei männlichen Machteroberern, sondern in dieses: Aha. In Wahrheit ist sie also eine eiskalte, berechnende Lady, an deren Wegesrand sich rechts und links Berge von gemeuchelten Männern türmen. Jetzt ist sie also Medea, die aus Rache ihren Sohn verstößt. Demnächst wird es dann wieder heißen: keine klare Kante die Frau, man weiß ja immer gar nicht, was Mutti überhaupt will.

Was in der hier gekürzten Form die Vermutung aufkommen lassen könnte, dass es sich bei einem Text mit diesem komplexen Thema um mindestens eine halbe Druckseite im Feuilleton der Süddeutschen handeln muss – ist gerade Mal ein kleiner Zweispalter. So kunstvoll hat die Autorin ihre Gedanken komprimiert, ohne unverständlich zu werden – ganz im Gegenteil. Presiwürdig!

 

Über das Formulieren von pfiffigen Überschriften

Vielleicht hat die pointenreiche Überschrift “Merkel. Mutti. Und Medea” nicht die Autorin selbst, sondern die Schlussredaktion formuliert. Aber ich glaube das nicht – der Titel passt zu genau zum eigentlichen Text. Auf jeden Fall ist schon die Überschrift eine schöne Illustration dessen, was Carsten Könneker in seinem lesenswerten Sachbuch-Ratgeber “Wissenschaft kommunizieren” im Kapitel über das Verfassen von “Überschriften” vorstellt. Ich habe mir erlaubt, schon um ein Plagiat zu vermeiden, aus dem Dreiklang eine viergliedrige Alliteration* zu gestalten: “Medea Merkel: Mörderische Mutti“. Die Medea habe ich von hinten (Roll) nach vorne geholt, damit die Suchmaschinen gleich das für diesen Blog-Post Wesentliche erfassen, eben die Medea. (Hab ich alles in Carstens Buch gelernt.)

*Eine Alliteration ist die Wiederholung des gleichen Anlauts bei hervorgehobenen Silben: „Mann und Maus“ (Ma – Mau), „Kind und Kegel“ (Ki – Ke), “Nacht und Nebel”. Die „Pauken und Trompeten“ lesen sich ähnlich wie eine Alliteration – aber die ersten Silben der beiden Hauptwörter sind verschieden (Pau – Tro).
Im Textbeispiel dieses Artikels verwendet Evelyn Roll einen sog. Dreiklang, der zugleich eine (dreifache) Alliteration ist: „Merkel. Mutti. Und Medea“ (Me – Mu – Me). Das ist optimal. Der Klassiker eines solchen Dreiklangs ist die Fernsehsendung “Titel Thesen Temperamente”. füWenn man noch ein weiteres Wort dazupackt, wird´s problematisch, obgleich hübsch ausgedacht: „Wissenschaftliche Wege in die Welt des Winzigen“ (Wi – We – We – Wi) (Könnecker nennt dies auf S. 44 als kritisches Beispiel, das die Leser leicht überfordert).
Ich konnte bei meiner eigenen Überschrift dem Vierklang jedoch nicht widerstehen, zu verlockend war das Spiel mit den Wörtern: „Medea Merkel: Mörderische Mutti“ (Me – Me – Mö – Mu). Ich vertraue darauf, dass das die Leser von Scilogs nicht überfordert.

Für den Fließtext von Evelyn Roll selbst gilt: mustergültig formuliert, klar verständlich, auf den Punkt gebracht in kurzen prägnanten Sätzen. Auch deshalb habe ich diese Glosse gerne in diesem Blog zitiert, in dem es ja nicht nur ums Labyrinthische geht, sondern eben auch ums Schreiben. (Über Carsten Könneckers Buch ein andermal mehr.)

 

Medeas Präsenz in der Gegenwart

Abschließend möchte ich noch einige aktuelle weitere Beispiele für Medeas Präsenz in unserer Kultur aus meiner Archivmappe vorstellen. Sie zeigen diese Figur in den unterschiedlichsten Kontexten – was sie ja so besonders interessant und modern macht. Ich zitiere jeweils den Vorspann des betreffenden Artikels (Details s.u. in den → Quellen):

  • „Eine Frau – ein Mord: Michael Thalheimer inszeniert am Schauspiel Frankfurt eine unheimlich starke ´Medea´.“ (Berger, Jürgen)
  • „Uraufführung an der Wiener Staatsoper: Reimanns ´Medea´ schafft den Bogen ins Jetzt.“ (Brembeck, Reinhard J.)
  • „David Bösch inszeniert ´Das Goldene Vließ´ [von Franz Grillparzer] in Berlin.“ (Laudenbach, Peter)
  • „Der Komponist Aribert Reimann über seine Version des ´Medea´-Stoffs, die in Wien an der Staatsoper aufgeführt wird.“ (Reimann, Aribert)
  • „Die Erde gleicht nicht der mythischen Gaia, der behütenden Mutter allen Lebens, sondern vielmehr der möderischen Medea.“ (Ward, Peter)

Außerdem wäre noch zu nennen Pier Paolo Pasolinis Verfilmung des Medea-Stoffes von 1969, mit Maria Callas in der Hauptrolle. Details in der Wikipedia.

Über die antiken Ursprünge am ausführlichsten und wohl auch am zuverlässigsten informieren Michael Grant und John Hazel in ihrem “Lexikon der antiken Mythen und Gestalten”. Sie zeigen die ungeheuerliche Blutspur, welche Medea durch mehrere Länder des Mittelmeerraums zieht – ich habe zehn Morde gezählt. Erstaunlicherweise findet man im Lexikon alles über sie – nur nicht die Ermordung ihrer Kinder von ihrer Hand – was sie ja für unsere Gegenwart so besonders grausig-attraktiv und zu einer sehr speziellen Persönlichkeit macht.

(Hier im diesem Blog gibt es weitere Artikel zu dieser zeitlosen Frauenfigur, vor allem : Medea mal drei und Theseus und Medea im Clinch; weitere Fundstellen sind über die KATEGORIEN in der rechten Randleiste erreichbar.)

Quellen:
Berger, Jürgen: „Garaus der romantischen Liebe“. In: Südd. Zeitung Nr. 89 vom 17. April 2012, S. 13 (Feuilleton) „Eine Frau – ein Mord: Michael Thalheimer inszeniert am Schauspiel Frankfurt eine unheimlich starke „Medea.“
Brembeck, Reinhard J.: „Tönende Mauern des Schweigens“. In: Südd. Zeitung vom 3. März 2010 (Feuilleton) „Uraufführung an der Wiener Staatsoper: Reimanns „Medea“ schafft den Bogen ins Jetzt.“
Grant, Michael und John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. (1973) München 1976 (List)
Könneker, Carsten: Wissenschaft kommunizieren. Weinheim 2012 (Wiley VCH). ISBN 978-3-527-32895-6. 219 Seiten – € 24,90
Laudenbach, Peter: „Wir müssen reden“.In: Südd. Zeitung vom 26. Okt 2009 „David Bösch inszeniert „Das Goldene Vließ“ [von Franz Grillparzer] in Berlin.“
Pasolini, Pier Paolo (Regie): Medea (1969) – mit Maria Callas in der Hauptrolle. Details in der Wikipedia 
Reimann, Aribert (Interview mit ihm durch Wolfgang Schreiber): „Am Ende ist die Musik sehr karg“. In: Südd. Zeitung vom 26. Feb 2010 „Der Komponist Aribert Reimann über seine Version des „Medea“-Stoffs, die in Wien an der Staatsoper aufgeführt wird.“
Roll, Evelyn: “Merkel. Mutti. Und Medea”. In. Südd. Zeitung Nr. 122 vom 29. Mai 2012, S. 12 (Feuilleton)
Ward, Peter: „Gaias böse Schwester“. In: Spektrum der Wissenschaft, Nov. 2009, S. 84-88. „Die Erde gleicht nicht der mythischen Gaia, der behütenden Mutter allen Lebens, sondern vielmehr der möderischen Medea.“

Schauen Sie bitte gelegentlich auch mal in die früheren Beiträge dieses Blogs rein! Hilfreich sein könnten vor allem Willkommen im Labyrinth des Schreibens und die Zeittafel. Die wichtigsten Personen und Begriffe werden erläutert in Fünf Kreise von Figuren sowie im Register dieses Blogs.

206/697/1288 / BloXikon: Labyrinthiade / Medea (als Plot) / Glosse

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

3 Kommentare

  1. aus purer Angst …

    Nu ja, so kann “man” sich irren:
    Da hatte ich gedacht (nachdem ich den Text gestern gelesen hatte), dass sich für so plump, blöde Verallgemeinerungen wie “DIE Männer” und “DIE weibliche Macht” denkende Menschen nicht ernsthaft interessieren, oder aber verärgert sind, da hier einfach nur Stereotype aufgerufen werden.

    Nun hatte ich niemals gehofft, dass mächtige Frauen die gleiche Machtgier besitzen wie die, die bei männlichen Mächtigen so oft zu Recht kritisiert wird.
    Ich wollte schon immer von echten Menschen regiert werden, sehr gerne auch von Frauen.
    Den Rauswurf von Rötgen hätte ich auch jedem Mann als menschlichen Irrsinn ausgelegt
    Andererseits hatte ich von den hohen Zustimmungswerten für Frau Merkel in der Bevölkerung gehört, und von ihrer unangefochtenen Position innerhalb ihrer Männer dominierten Partei.
    Die Angst vor weiblicher Macht scheint sehr, sehr mächtig zu sein, da die Mehrheit der Bevölkerung sich bei den Umfragen nicht einmal mehr traut, Frau Merkel ihre Sympathie zu entziehen. Außerdem wurde sie wahrscheinlich auch aus purer Angst von ihrer Männer dominierten Partei zur Kanzlerkandidatin gemacht.
    Dann hatte ich auch immer wieder davon gehört, wie großartig Frau Merkel die Krise managt.
    In dem Text von Frau Roll sollte ich dann wohl erfahren, dass ich mich völlig geirrt habe und dass alles genau umgekehrt ist. So, so.
    Wie mächtig diese Angst vor weiblicher Macht wirklich ist, hatte ich bisher wohl unterschätzt.

  2. Vlies ungleich Fließ

    Sie meinen bestimmt das goldene Vlies. “Fließ” bezeichnet einen kleinen Bach. Sowas gibt es zwar auch in der Mythologie (Paktolos), ist aber schwierig zu entwenden.

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