“Komm zurück, Sohn Ikaros”
BLOG: Labyrinth des Schreibens
In der Kunst sind Labyrinthe bzw. deren einzelne Elemente und Gestalten fester Bestandteil der Versatzstücke, auf deren Symbolgehalt die Künstler immer wieder gerne zurückgreifen. Jüngstes Beispiel:
Eine Installation von Andreij Herzog. Er stammt aus Russland und studierte in München an der “Akademie der Bildenden Künste” (s. auch den vorangehenden Beitrag: 200 Jahre… ). Hier ein Text von ihm, der das aus modernen Sportutensilien (u.a. dem Segel eines Surfbretts) zusammengefügte Objekt begleitet:
Daidalos, der inzwischen die Insel Kreta und die lange Verbannung hasste und berührt war von der Liebe zu seinem Geburtsort, war durch das Meer eingesperrt. “Mag er Minos”, sagte er, “Länder und Meere versperren; aber der Himmel steht sicher offen; wir werden dorthin gehen. Mag er auch alles besitzen, die Luft besitzt Minos nicht.”
So sprach der Daidalos, Vater von Ikaros.
Nach der Sage flog Ikarus zu hoch, stürzte ab und ertrank im Meer. Der kühne Flug und die Begierde nach dem Himmel wurden ihm zum Verhängnis.
Das, was ich in meiner Arbeit zur Disposition stellen möchte, sind die Freiheit und die Mittel, mit denen sie heute erobert werden kann. Wir sehen bei näherer Betrachtung dieser Installation Funsportartikel zu einem großen Haufen so zusammengesetzt, dass sie in einem Stahlzaun kollidieren. Das Thema, welches ich in dieser Arbeit andeuten möchte, ist die Problematik der stark reglementierten Gesellschaft und der daraus resultierenden individuellen Flucht des Menschen ins vermarktete Extreme.
Die Diskrepanz zwischen moralisch/ethisch Vertretbarem (Konstruiertem) und der marktorientierten, infantilen Sinnesverstümmelung wird hier deutlich. Auch einer künstlerischen Einstellung möchte ich mich hier stellen: Der Gewissheit, mich dem Abgrund nähernd sinnlose Grenzen überschritten und durchbrochen zu haben, deren Bestimmung es war, diese Untiefe erst zu umschreiben. Ein lohnender Akt dem urmenschlichen Verlangen nachzukommen, mutig den daraus resultierenden Folgen entgegentretend.
Dazu das Foto, das der Künstler selbst in den Räumen der Ausstellung angefertigt hat und das gewissermaßen seine zusätzliche Sichtweise der Installation hinzufügt:
Abb.: Come home son – eine Hommage an den Ikaros (Foto: Andreij Herzog)
Kollektives Gedächtnis als Referenz
Ich nützte die Gelegenheit und stellte dem Künstler einige zusätzliche Fragen, die er mir folgendermaßen beantwortet hat:
JvS: Wie kamen Sie auf die Idee, das Ikaros-Motiv zu gestalten? Was regte Sie dazu an?
Andreij Herzog: Das Ikaros-Motiv zu gestalten, ergibt sich für mich aus der Motivation für mein gesamtes Schaffen selbst. Es geht bei mir um die Grenzen, ihre Peripherien, das Niemandsland und den Versuch, sich ihnen zu nähern, die Grenzen zu überschreiten. Ikaros im Neuland – das war das Richtige zum richtigen Zeitpunkt.
JvS: Haben Sie dann irgendwo über den Ikaros und seine Geschichte nachgelesen – oder war Ihnen nur der kreative Impuls wichtig, der den künstlerischen Gestaltungsprozess ausgelöst hat?
Andreij Herzog: Die Geschichten und Legenden in der Gesellschaft sind für mich die Art des kollektiven Gedächtnisses, die mir eine Referenz dafür geben, was ich bin. Daraus entnehme ich die Essenz dessen, was sich nicht verändert und transformiere es in die Gegenwart. Die Impulse für das gegenständliche Objekt erhalte ich dann aus der Welt um mich herum.
JvS: Wie haben Ihre Professoren an der Akademie auf diese Idee reagiert?
Andreij Herzog: Das weiß ich nicht. Ich pflege meine Arbeit freizulassen, sobald sie vollendet ist. Die Meinungen und Empfindungen der Menschen über eine Arbeit sind für mich eine Gutenachtlektüre, aus der ich nicht lernen kann und will.
JvS: Ist diese Installation (so darf ich es doch nennen – oder sagen Sie lieber “Objekt” oder was sonst?) überhaupt im Rahmen der akademischen Ausbildung entstanden – oder geht das auf private Initiative von Ihnen zurück?
Andreij Herzog: Ganz recht, es ist eine Installation. Akademisch ist es nicht. Wie überhaupt verhält es sich bestenfalls so, dass man jede Periode in seinem Leben zum Abschluss bringen sollte. Ich bin fertig mit allem Akademischen.
JvS: Haben Sie irgendwelche Reaktionen bekommen, von Besuchern der Ausstellung?
Andreij Herzog: Wissen Sie, es ist sonderbar, da Sie mich danach fragen, denke ich auch darüber nach. Sicher gab es Reaktionen, ich kann mich aber nicht mehr an diese erinnern. Ich könnte mich an negative erinnern: aber solche gab es nicht, zumindest nicht mir gegenüber. Irgendwie ist es mir unwichtig. Wenn ich mich als Künstler dafür interessieren würde, könnte ich meine Arbeit nicht gut richten.
JvS: Vielen Dank für diese Auskünfte – und weiterhin so eindrucksvolle Ideen!