Felix Baumgartners Supersprung 2: Ikaros

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Im vorangehenden Beitrag habe ich vor allem den Werbeeffekt von Felix Baumgartners tollkühnem Unternehmen “Himmelssprung” untersucht. Aber wenn einer sich so hoch in die Lüfte wagt, fallen einem sofort Daidalos und sein Sohn Ikaros ein. Hier also ein weiterer Beleg für die von mir vermutete Allgegenwart des Labyrinth-Mythos,zu dem die beiden ganz wesentlich gehören.

Dieses Himmelfahrtskommando (buchstäblich) hat zwar viel mit Werbung zu tun – aber sein Abenteuer ist viel komplexer. Es handelt sich um eine Mischung von faustischem Ehrgeiz, Größenwahn, präzisem technischem Kalkül, exzellentem Training und einem Sponsoring, das nicht mit unterstützenden Geldern kleckerte, sondern beachtlich klotzte (50 Millionen €uro sollen die Red Bull-Leute in Baumgartners Unternehmen investiert haben).

Die Figur des Ikaros hat die Menschen zumindest in der westlichen Hemisphäre schon vor geraumer Zeit bewegt. Die meisten anderen Kulturen kennen den Labyrinth-Mythos und seine Symbolik nicht*.

Das Schicksal des Ikaros ist ein starker Neben-Plot der Labyrinthiade. Wie schon verschiedentlich in diesem Blog erwähnt, muss Ikaros keineswegs sterben. In einer wenig bekannten Variante der Geschichte überlebt er**.

Wie es ein weiterer Zufall so will, führt uns schon die Marke Red Bull mitten in die Labyrinth-Geschichte. Es ist ein (dem Gott Poseidon gewidmeter) Bulle, der zum Auslöser für die Entstehung des Monsters Minotauros wird und zum Bau des Ur-Labyrinths als seinem Gefängnis führt. Ausgerechnet die Marke Red Bull verknüpft also beides, verbindet den gut 4000 Jahre alten Mythos mit dem Werbe-Abenteuer des Oktober 2012. Das Markenzeichen zeigt zwei Bullen, die aufeinander zurasen; auf dem Schutzhelm Baumgartners wie auf dem Heliumballon war es unübersehbar abgebildet. [Bilder demnächst.]

Der Stier war auch das Markenzeichen der minoisch-kretischen Epoche, in der die Labyrinthiade entstanden ist. Die Astrologen sprechen deshalb vom Stier-Zeitalter. Dieses war nicht nur auf Kreta präsent, sondern auch im Ägypten jener Zeit – wie in allen anderen Kulturen, die durch Ackerbau und Viehzucht zu großer Blüte gelangten.

Abb.: So hätte es mit Felix Baumgartner auch gehen können: Ikaros stürzt ab (Bild: Alfred Hertrich, 1990)

Faustische Triebe

Ikaros und seine rücksichtslose Tollkühnheit ist gerade sprichwörtlich geworden: als Sinnbild für Größenideen, Machtstreben, autoritäres Gehabe und eben – vielleicht – auch Rücksichtslosigkeit gegen wen auch immer. Goethe hat diese Figur im Faust modernisiert. Schon der antike Mythos mahnt an den drohenden Absturz, der solch “faustischem Verlangen” droht. Bei Felix Baumgartner ist das Abenteuer nicht zuletzt dank seines erfahrenen und besonnenen Mentors Kittinger, geglückt. Ein Leitartikel von Mark Felix Serrao in der Süddeutschen Zeitung würdigt das sehr gekonnt:

Jetzt, da alles gut gegangen ist, wird auch diese Geschichte von denen erzählt und geschrieben werden, die gewonnen haben. Felix Baumgartner, der tollkühne Abenteurer, und sein Brause-Sponsor feiern ihren Fallschirm-Sprungrekord, den gemeinsamen Imagegewinn und ihre sicher bald beginnende Tournee durch die Talkshows. Und die anderen, all jene, die den 43jährigen Osterreicher für einen “irren Ösi” und Aufschneider hielten und halten, brummeln höchstens noch halblaut vor sich hin: Was wäre gewesen, wenn..?
Ja, was? Ganz einfach: Wenn Baumgartner während seines minutenlangen freien Falls das Bewusstsein verloren und sein Abenteuer nicht überlebt hätte, dann würden jetzt sehr viele hauptberufliche und hobbymäßige Kommentatoren sehr laut über skrupelloses Sponsoring und männliche Riesen-Egos schimpfen, die ihren Trägern und den armen Angehörigen nur Leid bringen. Vom Sturz des Ikarus wäre sicher die Rede, der höher hinauswollte, als gut für ihn war. Aber: Baumgartner lebt.
Viel interessanter als die Frage nach den schlichten, aber deshalb nicht unbedingt schlechten Motiven des Helden (Ruhm! Geld!) und seines Sponsors (ebenso) ist die Frage nach den Motiven des Publikums. Warum hat dieses menschheitsgeschichtlich eher nachrangige Ereignis den Rekord für Live-Übertragungen im Netz geknackt – mit einer Million Zuschauer mehr, als die Amtseinführung von US-Präsident Barack Obama hatte? Weil Baumgartners Sprung “der Wissenschaft” wichtige Erkenntnisse bringen wird, wie
Red Bull so pathetisch wie sinnlos behauptete?
Eher nicht. Die bislang beste Erklärung für die Faszination des Publikums steckt in einem Glückwunschtelegramm, das die Europäische Weltraumorganisation” (ESA) via Twitter verschickt hat: “Sicher gelandet! Glückwunsch auch von uns an Felix Baumgartner, einen sehr, sehr mutigen Fallschirmspringer!” Mut. Ein schönes, ein altes Wort.

 

Begleitende Zufälle

Während ich diesen Text vorbereitete, lief im Fernsehen der Film “Berlin Calling” (Regie: Hannes Stöhr), der von einem in Drogennebeln abstürzenden Berliner DJ names Ickarus handelte (das “ck” im Namen ist beabsichtigt und zielt wohl auf das berlinernde Dialektwort “icke” für “ich”).. Und in der Süddeutschen Zeitung berichtete Jens Bisky über eine Ausstellung zur Malerei der DDR, deren Leitthema das Bild “Sturz des Ikarus II” des DDR-Malers Wolfgang Mattheuer vorgab.

* Anderen Kulturen, außer der indischen und der der Hopo-Indianer, ist das Labyrtinth-Thema fremd. allenfalls als modernen Import via die omnipräsenten Medien.
** “Nach einer anderen Überlieferung befreite Pasiphaë Daidalos aus dem Labyrinth. Daidalos erbaute ein Schiff und erfand das Segel, um es voranzutreiben. Dann stieg er mit Ikaros an Bord, floh von der Insel [Kreta] und suchte Zuflucht in Sizilien am Hofe des sikanischen Königs Kokalos.” (Grant S. 107). In dieser Variante kam es also gar nicht erst zum Himmelsflug samt tödlichem Absturz. Je nach Variante stürzt Ikaros also ab und ertrinkt – oder wird gerettet. Die erste, tragische Variante ist eindeutig die beliebtere.

Quellen
Bisky. Jens: “Ikarus stellt die Flügel in die Ecke”.: In: Südd. Zeitung Nr.243 vom 20. Okt 2012, S. 17
Grant, Michael und John Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. (1973) München 1976 (List)
Hutt, Felix: u.a. “Ich komm jetzt nach Hause”. (Titelgeschichte) in: Stern Magazin Nr.43 vom 18. Okt 2012, S.30-45
Mattheuer, Wolfgang: “Sturz des Ikarus II” (Gemälde) – zit. nach Bisky, Jens
Serrao; Marc Felix: “Der Fall aus dem All”. In: Südd. Zeitung Nr.239 vom 16. Okt 2012, S. 04

 

Schauen Sie bitte gelegentlich auch mal in die früheren Beiträge dieses Blogs rein! Hilfreich sein könnten vor allem die Vorbemerkung zu diesem Labyrinth-Blog und die Zeittafel. Die wichtigsten Personen und Begriffe werden erläutert in Fünf Kreise von Figuren sowie im Register dieses Blogs.

224 / #837 jvs / 1467 LifeType – BloXikon: Ikaros
Begonnen in der Virtuellen Schreib-Werkstatt #310

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

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