Entschleunigt zurück
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Wenn ein Familienangehöriger an Parkinson erkrankt, bedeutet das für alle Beteiligten eine enorme Verlangsamung. Als ich 1979 den Begriff “Entschleunigung” geprägt habe, dachte ich bestimmt nicht an solche Zusammenhänge.
Aber die Krankheit fragt nicht nach Zusammenhängen. Sie ereignet sich. Und dann muss man schauen, wie man damit fertig wird.
In diesem Fall war das Opfer meine Frau Ruth. Einige Jahre ging es gut. Aber inzwischen ist die Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes so gravierend –
Sei´s drum. Dies ist der Hauptgrund, weshalb ich ein Vierteljahr mit meinen Blog-Beiträgen ausgefallen bin. Gefangen im Labyrinth der “verlangsamten Lebens”, aus dem nur schwer ein Ausgang zu finden ist. Natürlich verlangsamt auch das Älterwerden. Ich bin inzwischen 74 – da läuft man einem Bus besser nicht mehr hinterher. Und man denkt immer wieder einmal nach über Tempo, Geschwindigkeit, Beschleunigung und Entschleunigung. Ist es vielleicht das, was man euphemistisch als “Weisheit des Alters” bezeichnet? Oder auch als “Milde des Alters”?
Mag sein. Jedenfalls hat mich das Leben, das eigene wie das meiner Frau, gezwungen, mich mit solchen Gedanken zu beschäftigen. Dabei wurde mir bewusst, wie eng verbunden die beiden Themen meines Blogs – das Labyrinthische und das Schreiben – auf fundamentale Weise mit einer Entschleunigung verbunden sind:
Entschleunigung als übergeordneter Begriff
° Wer in einen Irrgarten hineingerät, tut gut darin, nicht in Panik zu geraten, sondern ganz langsam und bedächtig Schritt für Schritt sich voranzutasten, bis die Struktur des Yrrinthos erkannt ist und der Ausweg gefunden. (Im aktuellen Film Maze Runner wird allerdings das Gegenteil getan: die Läufer erkunden im Eiltempo die Struktur ihres Gefängnisses – doch darüber demnächst mehr.)
° Wer schreibt, wird ebenfalls zwangsläufig langsamer: Mögen die Gedanken auch rasend schnell durch die neuronalen Synapsen-Netze des Gehirns fliegen: Sobald sie durch Niederschrift auf dem Papier sichtbar werden sollen, wird alles sehr langsam. Da kann man noch so flott auf der Computertastatur tippen oder mit Hilfe der DRAGON-Software diktieren: die Entschleunigung ist unvermeidlich.
Der Begriff Entschleunigung wird also zu einer Art Oberbegriff, der die beiden Ur-Themen meines Blogs einschließt. Weshalb ich ihm in ab jetzt einen gebührenden Platz in meinen Beiträgen widmen möchte.
Ein Blick zurück:
Wenn ich ganz weit zurückdenke, so war ich 23 und Student, als ich das erste Mal kiffte und gewaltig beeindruckt wurde von der Zeitlupenhaftigkeit, die meine Wahrnehmung und mein Denken unter dem Einfluss des THC da erfuhren. An Entschleunigung dachte ich damals nicht – aber ich erlebte sie. Was gewissermaßen ein ausgleichendes Antidot zu dem war, was mich bei meinem Hobby Science fiction lange Zeit so beeindruckt hat: Nämlich die ungeheure Beschleunigung möglichst auf Überlichtgeschwindigkeit, die einem – lesend – das ganze Universum zugänglich machte.
Die Mondraketen und Marsmissionen unserer Tage fliegen, damit verglichen, im Schneckentempo durchs All, auch die nach der Göttin des Labyrinths Ariadne benannten Arianen der ESA. Ob auch nur eine Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit jemals möglich sein wird, ist zu bezweifeln – da spricht die Relativitätstheorie heftig dagegen (schon durch den Zuwachs an Masse). Aber auch die Raketen und Raumschiffe unserer Tage sind schon recht flott und sicher das Beschleunigste an Vehikeln, was existiert. Für den SF-Fan also das eine Ende eines gedachten Spektrums der Geschwindigkeit. Als Jugendlichen hat mich das naturgemäß enorm beeindruckt. Umso überraschender war für mich einige Jahre später der Effekt des Gegenteils der extremen Entschleunigung beim Kiffen.
Seltsamerweise kommen seit einiger Zeit, nach langer Ruhe auf diesem Gebiet, wieder Anfragen zum Themas Rauschdrogen, die (ja, auch als Folge der Kifferei) mein erster Start ins Berufsleben als praktizierender Psychologe waren: eben als Drogenberater, ab 1970. Bis mir der Umgang mit den Drogenabhängigen nach fünf, sechs Jahren zu anstrengend wurde und ich das viel ältere Interesse wieder entdeckte, das ab da mein Berufsleben prägte: das Schreiben: Gewissermaßen eine “Entschleunigung der gesünderen Art” (verglichen mit dem Kiffen).
Aber so holt einen die Vergangenheit manchmal ein. “Rausch” und “Rauschdrogen” sind eben interessante Themen, nicht nur zur Zeit des Oktoberfestes. Im Handbuch der Rauschdrogen, das ich 1971 zusammen mit meinem Kollegen Wolfgang Schmidbauer publiziert habe und das über elf *Überarbeitungen resp. Neuausgaben fast vierzig Jahr im Handel erhältlich war (bis die Online-Aktualität des Internets solchen enzyklopädischen Publikationen den Garaus machte), sind wir diesem Thema in all seinen Verknüpfungen und nicht selten recht labyrinthischen Bezügen ausführlich nachgegangen. Warum das Thema mich ausgerechnet jetzt wieder erreicht? Keine Ahnung. Zufall. Wie so manches im Leben.
Es gab einige Interviews. die ich viel lieber zu den Themen (Kreatives) Schreiben oder Labyrinthe gegeben hätte. Aber erst wollte das Jugendmagazin des Stern, neon, mich alten Zausel zu den Drogen der Jungen befragen. Vor kurzem legte die Süddeutsche Zeitung für ihre Online-Ausgabe mit einem ausführlichen Podcast nach, was die Wiener Zeitung animierte und schließlich den Bayrischen Rundfunk und die bekannte quer-Sendung des Bayrischen Fernsehen von Süß, mir die Gretchen-Frage (aus dem Faust) zu stellen – nicht nach der “Religion” allerdings, sondern nach den Drogen: “Wie hältst du´s mit den Drogen, lieber [Heinrich]”. Aktueller Anlass war wohl das (im August erst noch) bevorstehende Oktoberfest, angeblich das größte kollektive Besäufnis der Welt, wenn man so will ein gewaltiges Hochlied auf die Volksdroge Nr. eins, den Alkohol. Wer wissen will, was ich heute von den Rauschdrogen und den Räuschen halte: unten findet man die Links zu den Podcasts.
Am meisten Spaß gemacht hat mir das Interview mit Laura Beck für BReaking BAyern: Bayern im Rausch – eine Anspielung auf die TV-Erfolgsserie Breaking Bad um einen ehemaligen Chemielehrer, der zum Drogenhersteller und Großdealer mutiert.
Kleine Selbstreferenzen
Nun bin ich also entschleunigt zurück im Zirkus der SciLogger. Mit einem hübschen Zufalls-Fund in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung vom vergangenen Wochenende, wo man mir als Erfinder des Begriffs gewissermaßen ein kleines “Kränzlein” flicht:
Die Idee mit der Entschleunigung geht angeblich auf dieses Buch hier zurück: „Singles -. Alleinsein als Chance“. Autor: Jürgen vom Scheidt,Psychologe. Publikationsjahr: 1979. Eine Typenbeschreibung des schon damals vom bundesdeutschen Alltag schwer gebeutelten Überzeugungs-Singles. Das Problem: Einsamkeit macht auch nicht glücklich. Die stresst den Single wie sechs kleine Kinder. Herr Scheidt empfiehlt also: Der Single solle mal einen Gang runterschalten. Entschleunigung. (Zips 2014)
Von wegen “angeblich”. Bis heute – und das umfasst einen Zeitraum von immerhin 35 Jahren (1979-2014) – hat sich niemand bei mir gemeldet, der ein früheres Publikationsdatum für “Entschleunigung” vorzuweisen hat.
Und hier noch ein Zitat aus neon, das mir – ich gebe es zu – auch “wie Honig runtergelaufen ist”, wie man so sagt:
Jürgen vom Scheidt, ein freundlicher Alt-68er und der Autor des legendären Handbuches der Rauschdrogen (ein häufig geklautes Buch in öffentlichen Bibliotheken), bringt es so auf den Punkt: »Es geht bei Drogen immer auch darum, den uralten Topos der Heldenreise wiederzubeleben. Man entfernt sich aus dem gesicherten Alltag, um eine Mutprobe oder eine Initiation zu bestehen..«
Genauso war es in meiner eigenen, bescheidenen Rauschkarriere. Es gab einen direkten Übergang von den Abenteuerspielen der Kindheit zum ersten Bierrausch und dem ersten Joint. War es mir kurz zuvor ein unglaubliches Vergnügen gewesen, mit Freunden durch den Wald zu streifen und Jedi-Ritter-Kämpfe zu bestehen, begab ich mich nun auf innere Abenteuerreisen — der Reiz war der gleiche. Auch hatte ich nie das Gefühl (wie es die Lehrer warnend formulierten), der Realität zu entfliehen. Es ging darum, diese zu bereichern. Und da ich immer vorsichtig war und mich eher in den Rausch schlich als warf, hatte ich damit auch nie Probleme. Bei manchen führen die Heldenreisen jedoch in die Dunkelheit. Jeder kennt die Geschichten von Schulkameraden, Freunden oder Verwandten, die abglitten in die Sucht oder in eine Drogenpsychose und die jetzt für den Rest ihres Lebens mit irrem Blick durch Wälder streifen. Es versteht sich eigentlich von selbst, dass die Politik tätig wird, um das unterbinden. (Hanske 2012)
Quellen
Emmerlich, Simon (Sendemitschnitt “Rauschdrogen”): Bayrischer Rundfunk / Bayern 2, Sendung vom : 21. August, 09:30 Uhr: Sendemitschnitt “Rauschdrogen”
Grasshoff, Friederike Zoe: Digitale Reportage Rausch (Video)
Hanske, Paul-Philipp: “Dichterfreiheit”. In: Neon Nr. 10 / Oktober 2012, S. 102-106
Beck, Laura und Poll, Andreas: Bayrisches Fernsehen, Redaktion “quer” (Projekt BReaking BAyern):
BReaking BAyern: Bayern im Rausch
Schmidbauer, Wolfgang und Jürgen vom Scheidt: Handbuch der Rauschdrogen. (München 1971/ 11. Ausgabe 2003_ Nymphenburger). Frankfurt am Main Nov 2004 / 11. Ausgabe (Fischer TB)
SZ-Team: Wochenendbeilage zum Thema “Rausch”. In: Südd. Zeitung Nr. 152 vom 05/06. Juli 2014 – auch → Rausch
Tempfer, Petra: “Jede Kultur hat ihren Rausch”. In: Wiener Zeitung vom 08. August 2014. S. 10
Zips, Martin: “Slow”. In: Südd. Zeitung Nr. 240 vom 18./19. Oktober 2014, S. 53
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#279 / 1009 JvS / 967 SciLogs / Aktualisiert 21. Okt 2014/07:06 / v 1.2
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