Die Banken, sie wanken…

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

… in Dollar, Pfund, Franken.
Der Bär hebt die Pranken,
Der Bull´ wird zum Kranken.
Wer weist endlich Schranken
– den Börsen, die schwanken?

Ja, da hilft nur noch dichten. Es scheppert und ächzt und kracht dieser Tage gewaltig im Räderwerk des Turbokapitalismus, genau wie in meinem kleinen Reim-dich-oder-ich-fress-dich. Und ausgerechnet mit Ikaros/Ikarus wird Sicherheit angesichts des drohenden Weltuntergangs verheißen, jedenfalls in einer Anzeige im Wirtschaftsteil der Süddeutschen Zeitung vom 18. September 2008:

Schutz und Chance zusammen unterwegs.
[. . .]
Guten Aussichten entgegen – aber nicht einfach so ins Blaue, sondern mit vernünftiger Absicherung. Denn wer heute intelligent investiert, schützt sich vor dem freien Fall: mit den neu entwickelten UBS Ikarus-Zertifikaten.
[. . .]
Damit sie gewinnen – wie im Flug, denn die Laufzeit ist vorteilhaft kurz.

Da hat wohl jemand die griechische Sage nicht so richtig verstanden oder erinnert, weder in der Marketing-Abteilung noch bei den Kreativen in der Werbung noch bei den Bossen der Union de Banques Suisses, die das alles in Auftrag gegeben haben. Leute von der UBS: nachsitzen! Gerade weil ihr euch rühmt, die "Schweizer Grossbank mit Hauptsitzen in Zürich und Basel und der weltweit grösste Vermögensverwalter" zu sein. Ikaros, das ist nämlich der, welcher ABSTÜRZT! Und zwar immer!! Und er kommt ZU TODE!!! (jedenfalls fast immer, nur in einer Variante der Sage rettet er sein nacktes Leben).

Aber vielleicht haben sie ja Recht bei der UBS. Alles war schon zusammengekracht, die Lehmann Brothers, die Fannie Mae und die Freddie Mac und und und. Im letzten Augenblick hat die amerikanische Regierung AIG, den größten Versicherer der Welt, verstaatlicht und damit gerettet – ausgerechnet die amerikanische Regierung! Andertags stiegen die Börsenkurse wie Raketen wieder in den Himmel. Man kann es nicht fassen. Aber vielleicht hilft ein anderes Zitat ja weiter beim Verstehen. Es stammt aus dem Bericht über eine Pressekonferenz, auf welcher der Boss der Allianz-Versicherung sprach (Fromm 2008):

Wer Helmut Perlet bei den letzten Allianz-Konferenzen zuhörte, wie er durch das komplexe und komplizierte Zahlenlabyrinth der Allianz führte, hörte immer wieder den selben, leicht zerknirscht klingenden Oberbayern heraus. Es war dieser trocken-leidenschaftslose Mix aus technischem Finanzenglisch und bajuwarischem Granteln, der ihn in Zeiten der Finanzmarktkrise glaubwürdig machte.

Das klingt fast so poetisch wie aus einem Liebesroman der Marlitt. Ausnahmsweise trifft die Bezeichnung Labyrinth die Sachlage mal sehr korrekt. Wer sich in Wirtschaftsdingen nicht auskennt, tappt gerade dieser Tage durch einen äußerst verwirrenden Irrgarten – der Fachmann kennt jedoch den Roten Faden und findet seinen Weg. Naja, soweit die Theorie. Die Schwankungen der Börsenkurse erzählen etwas völlig anderes. Wer nur ein wenig paranoid ist, könnte allerdings glauben, da steckt System dahinter. Denn eines steht fest: Wenn man genug Geld flüssig in der Hinterhand hat (sagen wir mal: ein paar Milliarden), kann man sich bei diesen fallenden Kursen so manches Schnäppchen angeln. Wie man Milliardär wird? Darüber habe ich vorgestern geschrieben: Rot schlängelt sich´s  

Wie bemerkte Prof. Hans-Werner Sinn, Präsident des "Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung", dieser Tage zur Finanzkrise?

Ich glaube, keine andere Phase der Weltwirtschaft war ähnlich gefährlich wie das, was wir hier erleben.

Doch gemach, die Rettung war längst unterwegs. Die US-Regierung stellt 700 Milliarden Dollar zur Verfügung; das macht für jeden der 304 Millionen patriotischen Amerikaner gerade mal schlappe 2229 Dollar, gleich ob neugeborenes Baby oder 99-jähriger Greis (wenn man nur die Steuerzahler rechnet, dürfte es doppelt so teuer werden). Und alle Spekulanten sind gerettet. Naja, nicht alle. Jedenfalls, wer Geld hat, konnte es gleich wieder investieren. Man muss sich nur auskennen im Zahlenlabyrinth. Vermögensverwalter Jens Erhardt über die Kehrtwende aus der Finanzkrise:

Ich habe so etwas noch nie gesehen. Dass Standardwerte an einem Tag um 20 Prozent hochgehen – an so etwas kann ich mich nicht erinnern.

Wenn sich ein Science-Fiction-Autor so ein Szenario ausgedacht hätte – man würde es ihm nicht abkaufen. 

Ach, übrigens: Alitalia ist und bleibt pleite. Olympic Airlines (Griechenlands Fluglinie) ist Pleite. Die einst so renommierte Swiss Air ist schon lange Pleite und gehört heute der Lufthansa. General Motors, bis vor kurzem die größte Firma der ganzen Welt, steht kurz vor der Pleite. Da ist noch so manches Schnäppchen zu holen (wenn Papa Staat zuvor "rettet").

In den 1990-er Jahren gab es mal eine ähnliche, wenn auch längst nicht so dramatische Situation. Da machten Leute wie Milliken und Konsorten mit den von ihnen erfundenen Derivaten und Leerverkäufen Milliardengeschäfte, drehten ganz große Räder an den Börsen. Bis alles zusammenkrachte. Einer der großen Rad-Dreher war die Investmentbank Morgan Stanley. Ein Insider, Frank Partnoy, hat darüber einen dokumentarischen Roman mit dem Akronym F.I.A.S.C.O. als bezeichnendem Titel geschrieben. Noch entlarvender ist der Untertitel: "Blut an den weißen Westen der Wall Street Broker". Auch und gerade heute noch sehr lesenswert, sehr amüsant, sehr gruselig. Gruselig vor allem deshalb, weil man ein Jahrzehnt später, also dieser Tage, offenkundig nichts daraus gelernt hat. Morgan Stanley war längst aufgegangen in JP Morgan Chase. Das ist, neben der seriösen Bank auf America, die zweite der fünf weltgrößten Investment-Banken, die das Massaker der vergangenen Woche überlebt haben und sich die unterlegenen Gesellschaften einverleibt haben.

Wie heißt es so treffend?

Die Gewinne werden privatisiert, die Verluste sozialisiert.

Ich wüsste zu gerne, von wem dieser Spruch stammt. Letztlich ist es nur eine auf den Kopf gestellte Variante des biblischen "Geben ist seliger denn nehmen." Es kommt halt darauf an, von welcher Seite man es betrachtet.

Jetzt wissen Sie jedenfalls einmal mehr, warum mich das Labyrinth-Motiv mit all seinen Facetten so fasziniert: Weil es alle Aspekte des Lebens abdeckt, auch die Wirtschaft. Ikaros ho!

Quellen
Ehrhardt, Jens – zit.n. Diederichs, Friedemann: "Die Mutter aller Rettungsaktionen". In: Münchner Merkur vom 20. Sep 2008
Fromm, Thomas: "Geordneter Rückzug". In: Südd. Zeitung vom 13. Sep 2008
Partnoy, Frank: F.I.A.S.C.O. – Blut an den weißen Westen der Wall Street Broker. (1997) München 2000 (Heyne TB)

Sinn, Hans-Werner – zit.n. Münchner Merkur vom 20. Sep 2008 

Schauen Sie bitte gelegentlich auch mal in die früheren Beiträge dieses Blogs rein! Hilfreich sein könnten vor allem die Vorbemerkung zu diesem Labyrinth-Blog und die Zeittafel. Die wichtigsten Personen und Begriffe werden erläutert in Fünf Kreise von Figuren sowie im Register dieses Blogs.

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

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