Den roten Faden finden: Ein Experiment in Angewandter Labyrinthologie
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Wer in diesem Blog schmökert, bekommt vielleicht aufgrund der vielen Zitate den Eindruck, hier wird nur Material gesammelt und theoretisch über das Thema gearbeitet. Weit gefehlt.
Abb.: Zur Veranschaulichung: Der Rote Faden, auch Ariadnefaden genannt, der den Weg durch das Labyrinth weist (Archiv J. vom Scheidt)
Wenn andere Blogger hier in SciLogs ihre archäologischen Ausgrabungsabenteuer, aufregende Exkursionen in Sternwarten oder tolle Experimente in phsyikalischen oder chemischen Labors dokumentieren, habe ich mir oft gedacht: Über so etwas würde ich auch gerne mal berichten können. Dieser Tage wurde mir jedoch bewusst, dass ich dies bisher nicht getan habe, weil ich da offensichtlich einer gewissen Betriebsblindheit meinerseits unterliege.
Ich möchte jetzt gar nicht darauf eingehen, dass und wie und wo ich ein richtig großes kretisches Labyrinth ganz praktisch und landartmäßig in die Schweizer Berglandschaft des Wallis platziert habe, sondern die Gelegenheit nützen, darzulegen, wie ich Labyrinth-Motive in meinen Schreib-Seminaren einsetze.
Wenn ich aus einer Art Vogelperspektive betrachte, was ich da in meinen Seminaren seit mehr als drei Jahrzehnten mache, so erscheint mir das außerdem mindestens so aufregend und in seinen Ergebnissen interessant wie das Köcheln einer neuen biochemischen Ursuppe. Ist denn nicht jedes meiner Wochenend-Seminare ein Experiment mit ungewissem Ausgang? Ist nicht beispielsweise jede Roman-Werkstatt ein lebendiges Laboratorium, in dem Versuche ebenso gelingen wie misslingen können? Ist nicht ein dreijähriger Kurs, während dessen Verlauf sich ein Dutzend Teilnehmer meiner Obhut und Erfahrung anvertrauen, so etwas wie der Aufbruch mit einem Schiff zu einem fremden Kontinent – eine Heldenreise ganz besonderer Art? Auf jeden Fall ist es eine intensive Mischung aus Selbsterfahrung und Handwerk des Schreibens.
Allgegenwart des Labyrinth-Mythos: Der Rote Faden
Dass dabei Zufälle eine wichtige Rolle spielen, passt ganz gut.
Wirklich rein zufällig las ich, während ich diese Zeilen schrieb, zum zweiten Mal Philip K. Dicks Roman A Scanner darkly, in der deutschen Version Der dunkle Schirm. Na, ich bin gespannt, dachte ich, ob bei diesem Eintauchen in die Welt der Junkies und der Drogenräusche nicht irgendwann das Labyrinth auftaucht. Und siehe da, völlig ungeplant, doch wunderbar passend zu diesem Blog-Post, finde ich auf S. 33:
Der Versammlungsleiter gewann seine bisherige Sicherheit zurück und nahm den Faden wieder auf [. . .]
Hier ist ganz unmissverständlich dem Kontext zu entnehmen, dass da der schon sprichwörtlich gewordene Rote Faden gemeint ist. Ariadnes Zauberfaden, der Theseus den Weg durch das Labyrinth ermöglicht – und jedem Schreibenden wie Lesenden den Gang durch einen komplexeres Manuskript (oder, wie im Beispiel aus Dicks Roman, durch einen Vortrag).
Wer diesen Roman liest, landet in der Tat in einem psychischen Labyrinth resp. in einem Irrgarten der Charaktere und ihrer Handlungen, ihrer ständig wechselnden Beziehungen und Identitäten. Ich halte dieses Werk für eine der besten Studien über individuelle Drogenerfahrungen (die Dick sehr drastisch am eigenen Leib erfahren hat) wie für ihre gesellschaftliche Relevanz, insbesondere deren amerikanische Variante. Vor ein paar Wochen schaute ich mir auch wieder einmal die recht gelungene Verfilmung des Romans durch Richard Linklater an. Ein Werk, das durch die eigenwillige nachträgliche Verfremdung des realistisch gedrehten Films in eine Art Animationsfilm eine zusätzlich schräge Anmutung erhält, die meines Erachtens sehr gut zum Drogenthema passt. Diese Version der Geschichte ist, den Erfordernissen des Filmgeschäfts entsprechend (in dem man ja ordentlich Geld verdienen will) weit weniger labyrinthisch, will heißen: konfrontiert den Zuschauer mit weniger Verwirrung (die ja dem Thema sehr adäquat ist) als der Roman.
Wie passend, dass man außerdem für jeden Text, nachzumal einen ganzen Roman* einen “roten Faden” braucht, ohne den Leser wie Autor verloren gehen im Labyrinth des Möglichen.
* Was für den Roman gilt, lässt sich in groben Zügen auch auf das Sachbuch übertragen – s. Carsten Könnekers Ratgeber, den ich im vorangehenden Post vorgestellt habe
Besinnliches Schreiben über Sylvester mit Rotem Faden
Mein Blog hatte von Anfang an den Untertitel “Die Suche nach dem roten Faden”. Einmal im Jahr biete ich ein Seminar an, in dem dies bewusst das zentrale Thema ist: Über Sylvester mache ich mir mit den Teilnehmern schreibend Gedanken, wie dieser Rote Faden im eigenen Leben aussieht:
° aktuell als bestimmende Idee,
° in der Vergangenheit als Traum oder Vision (spätestens in der Jugend macht man sich da auf die Suche),
° in der Zukunft als Entwurf und Ahnung, als Plan und geistiges Konstrukt (für das ich den Begriff ZukunftsSelbst geprägt habe).
Der Jahreswechsel ist genau der passende Moment, sich das ganz entspannt einmal genauer anzuschauen: Woher komme ich, wo stehe ich gerade – wo will ich hin?
Wie wird dieses Schreib-Seminar im Detail verlaufen? Alles möchte ich hier nicht verraten, denn ohne die eine oder andere Überraschung wäre das wohl zu spannungsarm. Aber wer einmal in einem meiner Seminare war, weiß, dass bei dieser Versuchsanordnung einige Methoden eingesetzt werden, die der Phantasie und der Kreativität mit Sicherheit auf die Sprünge helfen. Sie sorgen zudem für die nötige Bewusstseinserweiterung, ohne die wir infolge der “Enge des Bewusstseins” kaum einen komplexeren Text schreiben könnten. Es sind dies
° die Methode des Clustering nach Gabriele Rico (die wir etwas ausgebaut haben),
° die anregenden OH-Karten
° und das Konzept der Inneren Bühne.
Gelegentlich arbeite ich auch mit Buchstabenwürfeln. Immer dabei ist eine von mir eigens entwickelte Methode, die den Teilnehmern (und auch mir selbst) hilft, in einen neuen Text problemlos hineinzukommen und allfällige Blockaden aufzulösen: Die Vier-Spalten-Methode.
Ein Gegenstand, den man endlich loswerden möchte
Diesmal werde ich an Sylvester etwas Neues probieren. Ich verrate nicht zuviel, wenn ich das hier bereits vorstelle. Denn niemand kann ja jetzt schon wissen, welche Objekte da in der Mitte der Schreibgruppe auf dem Teppich zusammenkommen werden: Ich bitte die Teilnehmer, vor dem Seminar zuhause in aller Ruhe einen Gegenstand auszuwählen, den sie schon lange loswerden möchten – von dem sie sich aber aus irgendeinem dunklen Grund bisher nicht trennen konnten. Dieses Seminar ist nun die Gelegenheit dazu, endgültig loszulassen. Für das Schreiben gibt diese Übung einiges her. Es ist zudem ein passender Anlass für den Jahreswechsel, wo es ja ebenfalls darum geht, Altes loszulassen und sich für Neues zu öffnen.
Zunächst einmal soll dargestellt werden, weshalb man diesen Gegenstand überhaupt besitzt – und warum man ihn bisher noch nicht loslassen konnte. Daraus entsteht ein Text, der tagebuchähnlich (autobiografisch) sein kann oder auch die Form einer kleinen Erzählung oder eines Sachtextes annimmt.
Im zweiten Teil der Übung geht es darum, aus dem Sammelsurium, das da im Zentrum der Gruppe von allen Objekten gebildet wird, sich einen dieser Gegenstände auszusuchen. Einen, den man gerne (neu) besitzen würde – oder den man vielleicht auch auf keinen Fall haben möchte. Wie auch immer: Hieraus entsteht ein neuer Text, der beschreibt, was einen an diesem Objekt der Begierde oder der Abneigung genau reizt.
Diese Übung hat es wirklich in sich. Ich kam auf diese Weise einmal in den Besitz einer alten Kaffeeemühle (wer hat und braucht heute sowas schon noch). Aus der Beschäftigung mit diesem Objekt begann zunächst eine kleine Erinnerungs-Zeitreise in die Kindheit, in die 1950-er Jahre, als man Kaffeemühlen sehr wohl noch verwendete, auch bei uns zuhause. In einem zweiten Durchgang (und somit drittem Text) wurde daraus ein komplettes Kapitel meines aktuellen eigenen Roman-Projekts.
In diesen drei Seminartagen werden wir den Roten Faden hoffentlich finden und ihn zu einem guten Start in Neue Jahr 2013 nützen. Der Ariadnefaden leitet uns dabei, wenn alles gut läuft, sowohl durch die Texte, die entstehen, wie in eine komprimierte, vom Jahreswechsel bestimmte Schau unseres Lebens. In diesem verirren wir uns nämlich ebenfalls, wenn wir uns nicht immer wieder seinen Roten Faden vergegenwärtigen – also den Sinn und die Zielsetzung unserer Existenz. Und sei es auch nur in Gestalt des aktuellen Ausschnitts, wie er sich beim Wechsel von einem Jahr in das nächste darbietet.
Quellen
Dick, Philip K.: Der dunkle Schirm. (A scanner darkly _ New York 1977). Bergisch-Gladbach 1980 (Bastei-Lübbe TB).
Linklater, Richard (Regie): A Scanner Darkly. USA 2007 (Warner Bros).
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