Daidalos der Raumfahrt: Jesco von Puttkamer (1933-2012)

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Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Künstliche Intelligenz und Kybernetik wären auch eine mögliche Karriere für diesen hochbegabten Studenten gewesen, wie sich in in den Themen seiner frühen Kurzgeschichten zeigt. Oder auch das Leben als Schriftsteller – wenngleich dies zu der Zeit, als er Science fiction schrieb, eine sehr brotlose Kunst geworden wäre, zumindest in Deutschland. Aber er hat sich sehr bald schon für den Weltraum und den Aufbruch des Menschen dorthin entschieden und dass er tatkräftig daran teilhaben wollte – nicht nur schreibend.

Nachtrag vom 10. Jan 2013/12:04:
Dieser Beitrag hat eine komplizierte Entwicklung durchlaufen, mit immer neuen Variationen. So ist überraschend eine sehr berührende E-Mail aufgetaucht, die ich am Schluss noch eingefügt habe. – JvSch

E
Abb.1: Prof. Jesco von Puttkamer beim Testen eines Raumanzugs, ca. 1990 (c) Courtesy NASA

Prof. Jesco Hans Heinrich Max Freiherr von Puttkamer wurde am 22. September 1933 in Leipzig geboren. Am 27. Dezember 2012 verstarb er nach kurzer Krankheit nahe Washington, D.C. Er hinterlässt seine Ehefrau Ursula, mit der er seit 1961 verheiratet war.
Während des Zweiten Weltkriegs lebte er mit seiner Mutter und den Geschwistern überwiegend in der Schweiz. 1952 bestand er in Konstanz das Abitur. Danach absolvierte er in verschiedenen Firmen ein Ingenieurpraktikum als Werkstudent. In Aachen studierte er an der Fachhochschule Maschinenbau .
Bereits während des Studiums übersetzte und verfasste er SF-Kurzgeschichten und -Romane.
Nach dem Erwerb des Diploms als Ingenieur wanderte er 1962 in die USA aus. Bei der NASA in Huntsville, Alabama, arbeitete er im Team von Wernher von Braun am Apollo-Programm mit und berechnete Flugbahnen. Nach dem Ende des Mondprogramms waren sein Aufgabenbereiche bei der NASA (der er mehr als 50 Jahre aktiv angehörte) als Ingenieur und Planer das Skylab, das Space Shuttle und die Internationale Raumstation ISS sowie das Projekt des bemannten Fluges zum Mars.
Dazu kam seine Tätigkeit als Honorarprofessor für Raketentechnik an der Fachhochschule Aachen.
In seinen Vorträgen und Büchern warb er unermüdlich um eine friedliche Kooperation aller in der Raumfahrt aktiven Nationen.

Dass dies ein Nachruf werden würde, hatte ich nur einen Tag zuvor nicht gedacht. Jesco von Puttkamer sterben – das war irgendwie nicht vorstellbar. Aber so ist das mit den Zufällen. Man hat irgendetwas im Sinn – und plötzlich ist dieser Sinn ein völlig anderer. Dies sollte ein Bericht über die Ausstellung Science Fiction in Deutschland werden, die ich im Post vom 22. Dezember erwähnt habe. Nun ist aus diesem Entwurf ein Nekrolog geworden. Der Zufall hatte schon am 22. August dieses Jahres seine Hand im Spiel, als ich mit Bekannten verabredet wir. Wir saßen beim Essen, als einer von ihnen (der Journalist Gerald Sammet) sagte: “Morgen interviewe ich jemanden, den Sie gut kennen: Jesco von Puttkamer.” Ein anderer Zufall, der uns erst sehr spät bewusst wurde: Wir sind in der selben Stadt Leipzig geboren.

Hier in den SciLogs haben bereits zwei andere Blogger die Person und das Werk Jesco von Puttkamers gewürdig, die jeweils wichtige Aspekte seiner Person behandeln:

° Karl Urban in den WissensLogs: Intervierw mit Jesco von Puttkamer

° und Michael Khan in den KosmoLogs: Jesco von Puttkamer gestorben

 

Was in den Nachrufen kaum oder gar nicht beachtet wurde

In den Medien las man in den Nekrologen vieles über seine Laufbahn als Manager der NASA, wo er über 50 Jahre aktiv mit dem Aufbau der Apollo-Mondmissionen befasst war und später mit der Internationalen Raumstation ISS und dem geplanten Flug zum Mars. Zuerst als Mitarbeiter von Wernher von Braun (der ihn nach Huntsville holte), später immer stärker in seiner eigenen Kompetenz und Bedeutung als Raumfahrtingenieur der ersten Stunde bis in die jüngste Gegenwart. Was man beispielsweise in der Wikipedia immerhin noch erwähnt findet, sind Puttkamers literarische Tätigkeiten – als Sachbuchautor sowie als Übersetzer und Verfasser von Science Fiction. Das brachte während seines Studiums ein Zubrot.

Ab 1957/58, als wir uns im Science Fiction Club Deutschland (SFCD) erstmals begegnet sind, kreuzten sich unsere Wege immer wieder. Er hatte einen aberwitzigen Humor, der sich in vielen Geschichten für das Fan-Magazin Munich Round Up mit köstlichen Blödeleien wie den intergalaktischen Abenteuern von Professor Ambrosius und das Vurguzz-Universum austobte – literarische Späße, die fast nie über die Grenzen des SF-Fandoms hinausgelangten. Wer seinen eigenen Roman Galaxis ahoi! (1958) kennt, weiß, worüber ich hier berichte. Deutlich sieht man da, wie der junge Autor sein großes Vorbild A.E. van Vogt (den er glänzend übersetzt hat, vor allem The Voyage of the Space Beagle) nachahmt und zugleich parodiert. Ernsthafter war Der Unheimliche vom anderen Stern (1957).

Von seinen Kurzgeschichten hat mich am meisten “Zu jung für die Ewigkeit” beeindruckt. 1975 habe ich die in der Anthologie Welt ohne Horizont nachgedruckt (Landfinder 1975). Hilfreich war er auch, als ich einmal die Rechte für eine Kurzgeschichte von Wernher von Braun (“Lunetta”) suchte, die ich dank seiner Hilfe, gewissermaßen “auf kurzem Weg” in Huntsville, prompt von seinem Mentor von Braun bekam und in meiner Anthologie Das Monster im Park nachdrucken konnte. Richtigen Spaß hatten wir jedoch mit einem gemeinsamen Roman, den wir zu sechst gebastelt haben (ja: basteln ist das richtige Wort dafür): Das unlöschbare Feuer, veröffentlicht unter dem Sammelpseudonym Munro R. Upton. Hier findet man im Making Of die Details dazu.


Abb.2: Aus sf-fannischen Tagen in den 1960er Jahren – v.l.n.r. Jesco von Puttkamer, Jürgen vom Scheidt, Waldemar Kumming

 

Ein “verrückter Hund”: 100 Seiten in drei Tagen


Abb.3: Titelbild des Romans “Die Reise des schlafenden Gottes” von Jesco von Puttkamer (Erstausgabe von 1959): “Raumschiff TELLUS war die Krönung technsicher Perfektion – aber nur der schlafende Gott konnte es vor der Vernichtung bewahren.”

Die NASA und andere offizielle Institutionen mögen das anders sehen. Aber Jesco von Puttkamer war auch das, was man in Bayern liebevoll einen “Hund” nennt – einen ungewöhnlichen Kerl. Ich gehe sogar soweit, ihm respektvoll das Prädikat “verrückter Hund” nachzurufen. Ja, das war er wirklich. Das zeigt sich gerade in seinen von Phantasie und Kreativität überbordenden Kurzgeschichten und Romanen. Speziell in der Reise des schlafenden Gottes hat er, inspiriert von seinem großen Vorbild A.E. van Vogt, ein Weltraumabenteuer verfasst, das seinesgleichen sucht. Nicht unbedingt das, was man im literaturkritischen Sinne als “große Literatur” bezeichnen würde – aber was für ein inspirierendes Abenteuer eines jungen Mannes, der selbst den Himmel stürmen wollte, zumindest in seinen Anfängen. Und der sich inspirieren ließ vom Sense of Wonder in den Geschichten der SF-Autoren, so wie er diesem Gespür für das Wunderbare in den eigenen Erzählungen Raum gab. Aber er ließ ja nicht nur seiner Phantasie die Zügel los – sondern machte mit solchen literarischen Zukunftsvisionen erste Schritte zu jener Karriere, die ihn bald darauf ganz real die Weltraumfahrt ankurbeln half:
° Mit den Apollo-Mondmissionen,
° der Internationaler Raumstation ISS
° und – wenn auch nur in ersten Ansätzen – dem bemannten Flug zum Nachbarplaneten Mars.

Das Mars-Projekt war für ihn der nächste logische Schritt einer in seinen Augen geradezu zwangsläufigen technischen Evolution der Menschheit aus der “Wiege des Planeten Erde” (wie sein russisches Vorbild Ziolkowski es nannte) zu den Sternen: “Per aspera ad astra”.

Letzteres war einst auch der pathetisch-enthusiastische Schlachtruf der Fans im Science Fiction Club Deutschland (SFCD), der sich dies unter seinem ersten Präsidenten Walter Ernsting alias Clark Darlton (“Perry Rhodan”) Mitte der 1959er Jahre zum Motto erkoren hat. Jesco von Puttkamer folgte diesem Schlachtruf zunächst mit seinen Geschichten. Ich habe die “Reise des schlafenden Gottes” auch deshalb erwähnt, weil da bereits das Motiv des Traums von der “Schlafenden Walküre” anklingt (s. unten). Außerdem war dies eine schreiberische Leistung erster Klasse. Er hat das Manuskript dazu nämlich während eines SF-Cons* in sage und schreibe drei Tagen getippt. Die Versammlung war ihm offenkundig zu fad, sodass er sich in sein Zimmer im Gasthaus zurückzog und die Treibsätze seiner Phantasie zündete – auf immerhin rund hundert Manuskriptseiten.
* Für Nicht-Fans: Versammlung von SF-Fans, um ihre Literatur und deren Themen zu diskutieren, sich phantasievoll zu verkleiden und viel Alkohol wie den legändären Vurguzz als Treibstoff für ihre literarischen Weltraumflüge zu konsumieren.

 

Die ganze Palette der Science Fiction

Bevor er seine Karriere als Raketeningenieur begann, interessierte sich der junge Jesco von Puttkamer für alle möglichen zukunftsorientierten technischen Themen, eben die ganze Palette der Science Fiction. Wenn man seine frühen Geschichten liest, fällt auf, dass das anfängliche Interesse den Computern, der Künstlichen Intelligenz und der Kybernetik galt  – und dies, wohlgemerkt, zu Beginnder 1950er Jahre. Es ist als gut denkbar, dass er auch diese Laufbahn hätte einschlagen können. Das zeigt schon die erste von ihm mit 19 Jahren geschriebene Story von 1952: “Super-Zwei-Kampf”. Sie hat zum Thema ein Duell zwischen zwei grundverschiedenen Typen von Elektronengehirnen: einem kühlen Rechner und einem menschenähnlichen, gefühlsgesteuerten. Absolut modern wird das Kräftemessen in Form eines Schachspiels ausgetragen, dessen lebhafte Beschreibung zeigt, dass von Puttkamer sich mit diesem Spiel gut auskannte.

Auch die nächste Story variiert dieses Thema des Super-Rechengehrins: “Der integrierende Faktor”. Im selben Jahr, 1956, veröffentlichte er dann ein Novelle ganz anderen Typs: “Zu jung für die Ewigkeit”. Hier ist es schon die Raumfahrt zu den Sternen, allerdings kombiniert mit einer deutlichen Sehnsucht nach dem Übersteigen menschlicher Grenzen in eine übergordnete Wirklichkeit der Hyperraums, der zugleich eine Welt der Spiritualität mit Telepathie und anderen paranoprmalen Fähigkeiten für die Zeit nach dem Tod ist. Ein zutiefst philosophisches, ja religiöses Thema also.

Dass so ein nichttechnisches Thema, das man bei einem erfolgreichen Ingenieur und Manager zunächst nicht vermuten würde, für ihn sehr wichtig war, zeigt ein Traum, den er mir einmal erzählte. Darin sah er eine Walküre in einer Art Sarkophag in einem tiefen Schlaf liegen. So wie er es mir erzählte, war er von diesem Traumbild sehr beeindruckt. Dieser Traum hatte seine Wurzeln wohl da, wo auch sein großes Faible für Richard Wagners Musik herrührte, die ihn viele Male nach Bayreuth zu den Festspielen und da speziell zum Ring des Nibelungen führte. Auch dies eine Geschichte mit durchaus utopischen Zügen, die ihn – neben der Wagnerschen Musik – äußerst beeindruckt hat.
Zu Bayreuth noch eine kleine Epsidoe, die er mir einmal erzählt hat, als wir uns zu einem unserer gelegentlichen Gespräch im Biergarten des Seehauses am Kleinhesseloher See trafen. Da sei doch tatsächlich in Bayreuth, nur wenige Meter von seinem eigenen Platz im Theater entfernt, dieser Steven Hawking in seinem Rollstuhl gekommen! So wie er das erzählte, spürte man, wie ihn der große Physiker beeindruckte – und dabei war er selbst doch längst einer dieser beeindruckenden Prominenten. So souverän und selbstbewusst, wie er immer auftrat, schimmerte da plötzlich eine große Bescheidenheit durch, über die er eben auch verfügte, wenn es passte.

 

Die Großmutter öffnet den Sternenhimmel

Das Interesse für die Raumfahrt hat übrigens schon sehr früh die Großmuttter geweckt, als sie dem staunenden kleinen Jungen den nächtlichen Sternhimmel erklärte.

 

Allgegenwart des Labyrinth-Mythos: Roter Faden

 Ein Zitat aus der Geschichte “Der integrierende Faktor” zeigt das breite Spektrum an Ideen, die den Studenten beschäftigten und die er erzählerisch zu durchdringen suchte, bevor dann die Reißbretter und die Besprechungszimemr der NASA sein Welt wurden. Den Labyrinthologen freut es zusätzlich, hier einen roten Faden zu entdecken. Es wird eine Art Komplott beschrieben, als dessen Verursacher sich ein Super-Rechner entpuppt, der die Menschen überwinden möchte. Matrix und Terminator lassen grüßen – aber eben schon fast ein halbes Jahrhundert zuvor. Im Ich-Erzähler darf man gewiss so etwas wie ein Alter ego des jungen Studenten Jesco von Puttkamer vermuten:

Was mich in jener Zeit dann und wann in äußerste Anspannung versetzte, waren die häufigen Sabotageversuche, die von Systemgegnern auf das „Gehirn” unternommen wurden. Glücklicherweise hatte keiner von ihnen Erfolg. Das „Gehirn” war so gebaut, daß es sich gegen fremde Eindringlinge schützen konnte – sich selbst, seine Kraftstation, sein Pumpwerk und seine Mitarbeiter, darunter mich.
Trotzdem fielen die Sabotageversuche nicht weiter auf – damals! So etwas war immer vorgekommen, in allen möglichen Zweigen der Technik. Es war die Zeit der Terroristen. Warum nicht auch hier? Ich war mir klar darüber, daß manche Organisationen – religiöse Sekten, Wirtschaftskreise, politische Zirkel – mit der Existenz des „Gehirns” nicht einverstanden waren.
Aber bald fielen mir doch einige Dinge auf – nicht direkt im Zusammenhang mit meinem Schützling.
Da war zunächst die erste interplanetare Expedition, die zu den äußeren Planeten starten sollte, aber im letzten Augenblick wegen eines Versagens ihres Antriebssystems abgesagt werden mußte. „Sabotage! ” munkelte man. Aber ich erfuhr nie Genaueres. Jedenfalls war die Raumfahrt ins weitere Sonnensystem und außerhalb davon mit diesem Ereignis um Jahre verzögert.
Kurz darauf erlag der Präsident der Vereinigten Staaten einem Attentat. Der Täter entkam unerkannt und wurde niemals gefunden. Er war nach dem Angriff unter rätselhaften Umständen spurlos verschwunden.
Es gab noch weitere Vorfälle, die mir in jener Zeit auf fielen: Die wachsende Zahl der Atombombenexplosionen für Versuchszwecke, die trotz der Warnung bedeutender Wissenschaftler stattfanden, und die daraus resultierende fortschreitende Verseuchung unserer Atmosphäre und Verunsicherung der Öffentlichkeit, die Hitze – und Kältetewellen, die um den Erdball gingen und keine ersichtliche Ursache hatten, das ununterbrochene Wettrüsten der Supermächte bis zum Absurden; das statistische Ansteigen der Verbrechen in der ganzen Welt, steigende Unruhen in der Bevölkerung, die sich in häufigen Massenhysterien und Gewaltausbrüchen äußerten […]
Die Konfrontation mit diesen Tatsachen verschlug mir den Atem. Was bedeuteten all diese Vorfälle der letzten hundert Jahre? Waren sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Hatten sie etwas gemeinsam?
Der bloße Instinkt sagte mir in jenem Augenblick, daß es hier einen roten Faden geben mochte, der durch diese Tatsachen und Vorfälle hindurchführt.
(Puttkamer 1956)

 

Daidalos: Erster Flieger und Stammvater aller Ingenieure


Abb. 4: Das erste Sachbuch von Jesco von Puttkamer über den Flug zum Mond: “Columbia, hier spricht Adler” (c) 1969 bei Verlag Chemie, Weinheim 

Jesco von Puttkamer hat sich nicht nur im Rahmen seiner Arbeit für die NASA mit den praktisch-technischen Aspekten der Raumfahrt befasst. Von Anfang an begleitete er diese auch mit großem publizistischen Geschick in seinen Sachbüchern und Vorträgen, in denen sein zukunftsbewusster Enthusiasmus und Optimismus viele Menschen ansteckte und für die bemannte Raumfahrt begeisterte. Skeptiker mögen dies anders sehen – aber gerade die Vorstöße des Menschen in das Weltall sind nun einmal besser geeignet, so ein gewaltiges Forschungsabenteuer voranzutreiben als automatische, von Robotern bemannte Missionen. Das hat kaum jemand deutlicher gemacht als Jesco von Puttkamer – zunächst in seinen literarischen SF-Visionen, dann in seinen Sachbüchern, die ebenso von seiner erzählerischen Begabung Zeugnis ablegen.

In diesen Monaten (November 2012 bis Februar 2013) stellt das Bonner Haus der Geschichte die Entwicklung der “Science Fiction in Deutschland” vor. Anlässlich dieser Ausstellung wurde Jesco von Puttkamer für die Hauszeitschrift museums-magazin interviewt. Den Labyrinthologen freut zusätzlich, was der Raumfahrtingenieur dort als eine Art Credo und Selbstverständnis deutlich machte. Das Gespräch führte Ulrike Zander vom Museum mit ihm (Zander 2012):

museums-magazin:
Inwieweit sehen Sie in Ihrer Person Parallelen zu Daidalos, dem ersten Flieger und Stammvater aller Ingenieure?
Puttkamer:
Daidalos war den mythischen Überlieferungen zufolge ein genialer Ingenieur, der für sich und seinen Sohn Ikaros Flügel baute, um der Gefangenschaft auf der Insel Kreta zu entkommen. Trotz seinen Warnungen kam der übermütige Ikaros der Sonne zu nahe und stürzte ins Meer, als das Wachs der Flügel schmolz. Wer trägt die Schuld? Der Ingenieur, der die Flügel mit einer ihm wohlbekannten Konstruktionsschwäche schuf. So etwas gibt es auch in der Luft- und Raumfahrt: Bei den Shuttles Challenger und Columbia, die wir verloren haben, sehe ich deutliche Parallelen.
mm:
Haben Sie keine Angst, der Sonne zu nahe zu kommen?
Puttkamer:
Nein – aber Respekt. Angst haben unsere Daidalosse (Entwicklungsingenieure, Manager) und Ikarosse (Testpiloten, Flugpioniere) nicht – aber großen Respekt vor dem möglichen Schicksal. Unsere Ikaros-Abstürze haben niemals die Fliegerei im Luft- oder Weltraum zu längerem Stillstand gebracht oder gar beendet und werden es auch in Zukunft nicht tun. Mit Sicherheit hat Daidalos damals neue und bessere Flügel gebaut, nur hat Homer nicht darüber berichtet. Jeder durch Technikfehler begründete Absturz bringt neues Wissen und zeigt, wie es weitergeht. Wir haben solche Abstürze gehabt – und wir nehmen statt Wachs etwas anderes und steigen wieder auf. Man überschreitet neue Grenzen getrieben von Neugier, aber auch mit großem Respekt. Wenn man dabei Angst empfände, würde man nicht sogleich eine neue Grenze setzen, nur um auch diese wieder überschreiten zu können. Wovor man sich mehr fürchtet als vor zu großer Sonnennähe ist das Unbekannte. Man riskiert viel – oft die Sonnennähe und sein Leben -, um es in Bekanntes zu verwandeln. Das nennen wir Exploration.

 

Der doppelte Traum vom Flug ins All

Ursprünglich war es wohl sein größter Traum, einmal selbst ins All zu fliegen – ein Traum den ich mit ihm als Jugendlicher geteilt habe. Aber das Leben spielte dann anders. Er lebte den Traum auf dem Papier – in Geschichten und technischen Entwürfen. Aber damit machte er es anderen, den Astronauten der NASA, möglich, das große Abenteuer tatsächlich zu beginnen. Mit dem Flug zum Mond ging es los. Die Shuttle-Flüge zur Raumstation ISS führten es fort. Ob der Flug zum Mars jemals stattfinden wird, hängt sehr davon ab, was die Chinesen und die Japaner tun werden und ob es einen künftigen Kennedy geben wird, der auf ein neues Rennen einsteigen und seine Landsleute dafür begeistern wird – Mars ho! wird es dann heißen.

Jesco von Puttkamer hatte aber auch noch einen ganz anderen Traum, den er ebenfalls weitgehend verwirklichen konnte: Die politischen Gräben des Kalten Krieges einzuebnen, die ideologischen Mauern einzureißen. Schon vor dem Ende des Kalten Krieges bahnte er, nicht immer gern gesehen von den Kalten Kriegern der USA, die Zusammenarbeit mit den russischen Raumfahrtingenieuren an. Darauas entstanden lebenslange fruchtbare Freundschaften. Und dass die ständig wechselnden Besatzungen der Internationalen Raumstation aus Amerikanern, Russen, Franzosen, Italienern, Deutschen und sogar aus zahlenden Weltraumtouristen (!) freidlich zusammenarbeiten, statt sich misstrauisch zu bewachen und zu behindern, ist sicher in hohem Ausmaß seiner unerschütterlichen humanistischen Mission in dieser Hinsicht zu verdanken.

Es war dabei sicher kein Schaden, dass er politisch gesehen ein recht strammer Republikaner war (was mir manchmal Mühe machte). Aber diese Einstellung hat ihm bestimmt geholfen, seine versöhnlichen Pläne zu realisieren. Für ihn war ganz klar, dass der Weg ins All nur der Weg einer Gemeinschafter der Menschen jenseits politischere Couleur sein konnte. Darin ließ er sich von nichts und niemandem beirren. Dies war vielleicht seine eigentliche große Lebensleistung.

NASA: Daidalos und Ikaros – ESA: Ariane

Die NASA hat also gewissermaßen Daidalos und Ikaros als geschichtsträchtige Symbolfiguren in ihrer Heraldik. Gibt es bei der europäischen Raumfahrtorganisation ESA etwas Vergleichbares? Natürlich. Es mag an den frauenfreundlichen Franzosen gelegen haben, dass ihre Symbolfigur die Ariadne wurde – alle wichtigen Raketen dieses Raumfahrtprogramms tragen ihren Namen: in der französisierten Variante der Ariane. Ariane Espace heißt sogar das Unternehmen, das die europäische Raketentechnologie vorantreibt. So sind also drei Figuren der Labyrinthiade mit zwei ihrerer Themenstränge im wohl aufwändigsten technologischen Abenteuer der modernen Menschheit versammelt: der Weltraumfahrt. Diese beiden Handlungsstränge haben eigentlich kaum etwas miteinander zu tun – lässt man einmal außer Betracht, dass (und weshalb) Daidalos das Labyrinth erbaute, dessen Gefangener er selbst wurde und aus dem er mit seinem Sohn Ikaros mit Hilfe künstlicher Flügel fliehen konnte. Aber die Raumfahrt führt sie paradoxerweise ganz zwanglos zusammen:

° die liebende Prinzessin Ariadne/Ariane, die ihrem geliebten Helden Theseus hilft, den mörderischen Halbbruder Minotauros zu besiegen (was übrigens nur mit Hilfe jenes Roten Fadens gelingt, den Daidalos ebenfalls erfunden hat);
° das Erfindergienie Daidalos, der ebenfalls mit Hilfe einer eigenen Erfindung, der künstlichen Flügel, eben diesem Labyrinth entflieht.

 

Aufschlussreiche Publikationen von Jesco von Puttkamer

Es kann nicht Aufgabe eines Blogs sein, eine umfasssende Bibliographie zur Verfügung zu stellen. Deshalb beschränke ich mich vor allem auf ältere Texte und Bücher und solche, die in den üblichen Bibliographien meist nicht vorkommen – einfach deshalb, weil sie in und für Nischen geschrieben wurden, die den Rezensenten leicht entgehen – in Puttkamers Fall das Fandom der Science fiction mit seinen speziellen Medien.

Ich selbst hatte das Vergnügen, ihn mehrmals für den Bayrischen Rundfunk zu interviewen. Eines dieser Gespräche habe ich in der Sammlung Konzepte für die Zukunft abgedruckt: “Raumfahrt als Über-Blick” (Puttkamer 1990). Einige interessante Texte stellte er mir für meine Website zur Verfügung, wobei vor allem “Brunnenkresse und Raketen” viele autobiographsiche Hinweise enthält. Diese haben insbesondere seine Auswanderung in die Vereinigten Staaten zum Thema und die frühe Zeit in Alabama in dieser Kolonie deutschstämmiger Raumfahrtingenieure unter Wernher von Brauns visionärer Ägide:

Jesco von Puttkamer: “Brunnenkresse und Raketen”, Teil 1 

Jesco von Puttkamer: “Brunnenkresse und Raketen”, Teil 2

Einen Überblick üebr die technologischen Aspekte gibt er selbst in “Menschen im All”.

Anlässlich seines 75. Geburtstages habe ich hier im Blog schon einmal sein Leben gewürdigt, in seinen mehr offiziellen Aspekten: Congratulations, Jesco von Puttkamer! Dort findet man auch weitere Fotos.

 

Nachtrag vom 10. Januar 2013

Ein Asteroid als Gedenkstein

Soeben habe ich im E-Mail-Archiv diese letzte Mail von Jesco von Puttkamer entdeckt (Datum: 20. Okt 2011/21:45) . Ich denke, sie ist es wert, überliefert zu werden – enthält sie doch fast alles, was sein Leben ausmachte “in a nutshell”. Kraahk war eine Figur, mit der er in seinem Roman Der Unheimliche vom anmderen Stern und in vielen seiner Beiträge für das Fan-Magazin Munich Round Up gespielt hat. Und ist das nicht sogar so etwas wie ein selbst verfasster “Nachruf zu Lebzeiten”?

Hallo, Jürgen, ich hoffe, es geht Dir gut – Körper, Geist, Familie und Beruf. Wollte mich bei meinem letzten München-Besuch Ende Juli mal bei Dir melden, schaffte es dann aber zeitlich nicht, da ich nach Lech/Arlberg und Bayreuther Festspiele keinen Tag mehr erübrigen konnte, sondern gleich nach USA zurückfliegen mußte. Wahrscheinlich warst Du auch garnicht zuhause? Vielleicht klappt‘s beim nächsten Mal…
Bin gerade aus Aachen zurückgekehrt, wo ich bei der 40-Jahresfeier der Fachhochschule (bei der ich einst 17 Jahre lang Honorarprofessor war) als Ehrengast eingeladen war. Ein Bericht darüber erschien in der Aachener Zeitung vom 14.10 […]
In anderer Sache, die Dich vielleicht interessiert: Die für Astronomie und insbesondere Small Bodies (Asteroiden) zuständigen Stellen von ESA und NASA/JPL (Jet Propulsion Laboratory) haben mir zu meinem kürzlichen Geburtstag ein phantastisches Geschenk gemacht, indem sie einen relativ neuentdeckten Kleinplaneten nach mir benannt haben. Das war eine sehr schöne Überraschung für einen, der sein Leben lang den Blick nach oben gerichtet gehalten hat. Mein „Namensträger“ wird noch um die Sonne kreisen, wenn ich längst zu Staub zerfallen bin. So ist auch dieses Science-fiction-Szenario für den alten Kraahk wahr geworden. Du kannst den kleinen Himmelskörper im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter finden, rund 3,17 Grad zur Ekliptik geneigt und gegenwärtig 523 Millionen km von uns entfernt. Gehe einfach zur offiziellen NASA-Website
266725 Vonputtkamer.
Neben allen seinen Orbitelementen kannst Du dann durch Drücken des Links „Orbit Diagram“ eine animierte Darstellung des Körpers auf seinem Orbit erstellen. Wenn das Diagramm erschienen ist (dazu braucht der PC Java), änderst Du die Intervaleinstellung von „1 Day“ auf „3 Days“ und klicken dann auf die Vorlauftaste „>>“. Der hellblaue Teil des Orbits liegt oberhalb der Ekliptik, der dunklere unter ihr (Ekliptik = die Bahnebene der Erde um die Sonne). In der rechten unteren Ecke läuft dann auf der Kalenderuhr das Datum der jeweiligen Konstellation. Der JPL-Browser ermöglicht noch viele anderen interessanten Spiele mit „266725 Vonputtkamer“. Ich war von dieser Ehrerteilung enorm gerührt und finde sie, in aller Bescheidenheit, echt „cool“.
Mit herzlichen Grüssen,
Jesco „Kraahk“ v.P.

Quellen
Braun, Wernher von: “Lunetta” (1937). In: J. vom Scheidt, Das Monster im Park
Landfinder, Thomas (Hrsg.): Welt ohne Horizont. Würzburg 1975 (Arena)
Puttkamer, Jesco von: “Der Integrierende Faktor”. (1956 im Utopia-Magazin). In: JvP: Elektronengehirne, Wurmlöcher und Weltmodelle
Ders.: “Zu jung für die Ewigkeit”. (1956 im Utopia-Magazin). In: JvP: Elektronengehirne…
Ders,: Der Unheimliche vom anderen Stern, Düsseldorf 1957 (Dörner)
Ders.: Galaxis ahoi!, Balwe 1958 (Bewin)
Ders.: Die Reise des Schlafenden Gottes. München 1959 (Moewig Terra Großband) – Nachdruck: Der schlafende Gott. Rastatt 1981 (Pabel)
Ders.: “Columbia, hier spricht Adler”. Der Report der ersten Mondlandung. Weinheim 1969 (Verlag Chemie).
Ders.: Elektronengehirne, Wurmlöcher und Weltmodelle. Rastatt 1985 (Moewig)
Ders.: Bilanz der Raumfahrt nach der Challenger-Katastrophe von 1986
Ders.: Rückkehr zur Zukunft. Bilanz der Raumfahrt nach Challenger. Frankfurt a.M. 1989 (Umschau)
Ders.: “Brunnenkresse und Raketen”, Teil 1  (Washington 2006 – als Manuskript gedruckt) 
Ders.: “Brunnenkresse und Raketen”, Teil 2
(Washington 2006 – als Manuskript gedruckt)
Ders.: “Menschen im All” (Antworten auf 17 Fragen an Jesco v. Puttkamer). Washington, DC im November 2006 (Manuskript des Autors)
Ders.: Jahrtausendprojekt Mars. München 1996 (Langen Müller)
Ders.: “Raumfahrt als Über-Blick” (Interview für Bayrischen Rundfunk 1990) → Scheidt, J.v.: Konzepte für die Zukunft 
Scheidt, Jürgen vom (Hrsg.): Das Monster im Park. Erzählungen von Wernher von Braun bis Arthur C. Clarke. München 1970 (Nymphenburger Verl.hdl.)
ders.: Konzepte für die Zukunft (Hrsg.) München 1990 (bonn aktuell)
Upton, Munro R.: Das unlöschbare Feuer. Minden 1962 (Bewin)
Zander, Ulrike: “Man überschreitet neue Grenzen, getrieben von Neugier” (Interview mit Jesco von Puttkamer). In: museums-magazin des “Haus der Geschichte”, Bonn Dez 2012, S. 20/21

 

Schauen Sie bitte gelegentlich auch mal in die früheren Beiträge dieses Blogs rein! Hilfreich sein könnten vor allem Willkommen im Labyrinth des Schreibens und die Zeittafel. Die wichtigsten Personen und Begriffe werden erläutert in Fünf Kreise von Figuren sowie im Register dieses Blogs.

230 / #846 Jvs /1490 SciLogs / BloXikon: Selbsterfahrung,Science Fiction / Begonnen in der Virtuellen Schreib-Werkstatt #320 vom 29. Dez 2012 /  v06-6

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

3 Kommentare

  1. Žalkovice ahoi!

    Jürgen vom Scheidt schrieb (08. Januar 2013, 21:52):
    > Das Mars-Projekt war für ihn der nächste logische Schritt einer in seinen Augen geradezu zwangsläufigen technischen Evolution der Menschheit aus der “Wiege des Planeten Erde” (wie sein russisches Vorbild Zialkowski es nannte) zu den Sternen […]

    Gemeint ist sicherlich
    http://de.wikipedia.org/wiki/Konstantin_Ziolkowski

    (Allerdings wäre vielleicht interessant, wie die russische Aussprache dieses Namens wohl am besten mit http://de.wikipedia.org/wiki/Lautschrift wiederzugeben wäre.)

    > […] in seinem Roman Der Unheimliche vom anmderen Stern

    Gemeint ist vermutlich
    http://de.wikipedia.org/…sco_von_Puttkamer_(NASA)#Science_Fiction?Der_Unheimliche_vom_anderen_Stern

    (Allerdings ist dort keine Quelle angegeben …)

    > […] letzte Mail von Jesco von Puttkamer

    […] Wahrscheinlich warst Du auch garnicht […]

    “[sic]”?
    (Oder nicht “[sic]”?!?)

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