Bloomsday 2012: Labyrinth und Schreiben vereint
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Jedes Jahr feiern die Fans von James Joyce (1882-1941) den Tag, an dem sein Roman “Ulysses” spielt: Der Annoncenaquisiteur Leopold Bloom bewegt sich an diesem 16. Juni (1904) auf mannigfache Weise durch Dublin – eine wahrhaft labyrinthische Stadt.
Dieser legendäre Bloomsday ist der einzige Gedenktag, der sogar im offiziellen Kalender eines Staates gefeiert wird: Irland hat einem seiner berühmtesten Söhne diese Ehre erwiesen. Wenn man Google konsultiert, findet man dort in diesen Tagen (Stand: 16. Juni 2012)
° den “Bloomsday” mit beachtlichen 1,560 000 Hits verzeichnet,
° “Ulysses+Joyce” 14.400 000 mal,
° den Autorennamen “James Joyce” für sich sogar 18.500 000 mal.
Das ist schon etwas als posthume Ehrung im Weltnetz! Und das für jemanden, der nie den Nobelpreis bekam, obgleich er ihn sicher mehr verdient hätte als so mancher andere Autor, unsere nationalen Literaturdenkmäler Günter Grass und Heinrich Böll eingeschlossen, von dem blassen Paul Heyse mal ganz abgesehen. Mehr verdient hätte Joyce diese Ehrung deshalb, weil er ein Erneuerer der (englischen) Sprache war und schon allein die Idee äußerst innovativ ist, in einem Roman auf rund 800 Seiten einen einzigen Tag dem Leben eines einzigen Menschen zu widmen.
Ich feiere da gerne mit, habe es in diesem Blog schon in den Jahren 2008, 2009 und 2011 in entsprechenden Beiträgen getan. Diesmal passt es noch besser: Denn ließe sich die Veränderung in diesem Blog, seine Erweiterung des Labyrinth-Themas durch das weit umfassendere Thema Schreiben, besser dokumentieren als durch einen weltberühmten Autor und das Jubiläum seines Hauptwerks, das sowohl von der Erneuerung des literarischen Schreibens handelt – als auch viel Labyrinthisches zelebriert?
Im Roman “Ulysses” geht es zwar vor allem um die moderne* Adaption der Irrfahrten des Odysseus durchs Mittelmeer, als Weg des Leopold Bloom durch die irische Hauptstadt im Jahr 1904.
° Doch zum einen hat die Odyssee mit ihren verwinkelten Wegen schon in sich etwas sehr Labyrinthisches – nicht umsonst ist ja die Rede von den “Irrfahrten” des Heldens;
° und zum anderen wird eines der 18 Kapitel des Romans, das zehnte, von Joyce ausdrücklich dem Thema Labyrinth gewidmet.
° Darüberhinaus verweist der Name der zweiten Hauptfigur des “Ulysses”, Stephen Dedalus, nicht zufällig auf eine der wichtigsten Figuren der Labyrinthiade – nämlich auf den genialen Erfinder Daidalos.
* Modern” ist der Roman auch heute noch, im Jahr 2012, obwohl schon 1914-1921 geschrieben und 1922 veröffentlicht, also bald ein Jahrhundert alt.
Dieser Stephen Dedalus ist seinerseits die zentrale Figur in einem anderen berühmten Roman von Joyce, der sehr autobiographisch die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich auf den schwierigen Weg macht, ein Künstler zu werden: “Portrait of the Artist as a Young Man”. Anders als der schwer verdauliche und enorm anstrengend zu lesende, weil sehr experimentelle und literarisch anspruchsvolle “Ulysses”, ist das “Portrait” leicht zu lesen, auf seine Art aber ebenso innovativ und zeitlos zugleich in seinem Sujet, ähnlich wie der “Törless” von Robert Musil: Weil da die Irrungen und Wirrungen (!) eines jungen Menschen erzählt und verständlich gemacht werden, der auf der Suche nach seiner Bestimmung und dem Sinn seines Lebens ist. Ganz sicher hat Joyce auch in diesem Künstler-Roman schon durch den Namen der Hauptfigur Bezüge zur Labyrinth-Thematik herstellen wollen.
Dass Dublin, wie jede größere Stadt, etwas ungemein Verwirrendes und im allgemeinsten Sinne Labyrinthisches an sich hat, dass die Metapher “Labyrinth” also ganz speziell exemplarisch für unsere moderne Welt ist, werde ich ein andermal genauer betrachten. Joyce hat das jedenfalls schon sehr früh erkannt und entsprechend literarisch umgesetzt. Wer ihn und seinen – heutigen – Bloomsday entsprechend würdigen möchte, sollte übrigens bei Gelegenheit auch den Vorläufer des “Ulysses” lesen, der ebenfalls leichter zu verdauen ist: die Novellen-Sammlung “Dubliners”. Wunderbare Geschichten! Genauso zeigt “Chambermusic” eine nochmals etwas andere Begabung des Autors: seine Gedichte, auch sie heute noch gut lesbar (was man von den Poemen des Jahrer 2012 eines deutschen Nobelpreisträgers für Literatur nicht gerade behaupten kann).
Nachtrag vom 22. Juni
Informativ und anregend der Beitrag über den Bloomsday hier in den SciLogs: Dierk Haasis mit dem hintersinnigen Titel “Re-Joyce” in “CON TEXT: Wörter brauchen Gesellschaft”.
Auch die Süddeutsche Zeitung feierte den Bloomsday mit einem ausführlichen Artikel. U.a. erfährt man, dass die alle zwei Jahre tagende internationale James-Joyce-Fangemeinde diesmal in Dublin tagte. Und vor allem: dass es sich um den 100. Bloomsday handelt! Einen ähnlichen Artikel von einem anderen Autor kann man online nachlesen. Der in der Printausgabe von Larissa Beham hat mir mehr Neues gebracht.
Bibliographie
Beham, Larissa: “Vater von Tausenden, wie Abraham”.: In: Süddeutsche Zeitung Nr. 137 vom 16. Juni 2012, S. 19 (Feuilleton)
Joyce, James: Ein Portrait des Künstlers als junger Mann (1916) München 2004 (SZ Bibliothek)
ders.: Joyce, James: Ulysses (Paris 1922) London 1960 (The Bodley Head). Dt. Übersetzung: Wollschläger, Hans. Frankfurter Joyce-Ausgabe Bd. 3.1+2. Frankfurt am Main 1975 (Suhrkamp)
ders.: Finnegan´s Wake (1939)
Müller, Lother: “Eine Odyssee in der Großstadt wird 100”. In: www.suedddeutsch-online
Musil, Robert: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906)
208/#718/143 – BloXikon: Bloomsday
Dubliners, Ulysses: blooming paralysis
Joyce’s Dublin (in den Dubliners) ist ein Ort von Stagnation, ja Lähmung.
Und der Ulysses war ja zuerst als Episode innerhalb der Dubliners geplant.
Doch der Ulysses zeigt, dass man 800 Seiten mit sehr vielen Erlebnissen, Gedanken und Beobachtungen füllen kann, die alle an einem Ort der Stagnation, ja Paralyse stattfinden.
Dieser Kontrast – die Fülle des Lebens eines einzigen Tages ausgebreitet auf 800 Seiten und die Aura der Paralyse, die der Ort ausstrahlt, an dem sich alles abspielt -, das scheint zuerst eine Verirrung des Autors, ein Widerspruch in sich selbst.
Doch dieser und viele andere Widersprüche muss sich der Leser selbst erschliessen oder als Epiphanie erleben, wenn Joyce’s phänomenologischer Ansatz der Dublin- und Weltbeschreibung seine Spätwirkung im Kopf des Lesers entfaltet.