Alzheimer-Patientin mit “Labyrinth im Kopf “
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Tahar Ben Jelloun hat ein Buch über die zunehmende Verwirrung seiner Mutter durch die Alzheimersche Krankheit geschrieben.
Ich habe dieses Buch (noch) nicht selbst gelesen – kenne nur die Besprechung durch Christoph Schröder in der Süddeutschen Zeitung. Aber was ich dort fand, hat mich sehr berührt, und ich möchte den Anfang deshalb zitieren:
Die Mutter ist nah bei sich, aber nicht mehr bei den anderen. Sie hält ihren Sohn für ihren Vater, ihre Cousine für ihre Schwester, ihre Schwester für ihre Mutter . Sie glaubt, der Säugling ihrer Nachbarin sei ihr eigener, und beginnt danach im ihrem eigenen Haus zu suchen. Aber auch ihre Gewissheit, wo das Haus steht, ist schwankend – in Tanger? In Fés? Und dann wieder gibt es Momente der Klarheit: "Ich weiß doch, dass dein Vater vor zehn Jahren gestorben ist. Ich weiß, dass die Frau deines Vetters bei der Geburt ihres Kindes vor dreißig Jahren gestorben ist. All diese Toten schwirren mir um den Kopf!"
Jener Kopf ist ein Labyrinth, in dem die Biographien der Familien umherschwirren, ohne Ordnung, ohne Unterlass, ohne dass der Bezug zur Gegenwart noch dauerhaft herzustellen wäre. Rein medizinsich heißt das Alzheimer . . .
Man muss dieses Buch nicht unbedingt gelesen haben, um etwas von der Tragödie des darin behandelten Schicksals zu spüren. Die Tragödie schwingt in dem Wort Labyrinth unübertrefflich mit. Ich weiß nicht, ob der Buchautor Jelloun den Begriff überhaupt verwendet, ob er nicht dem Rezensenten Schröder eingefallen ist, um den Inhalt der Tragödie auf den Punkt zu bringen- was ihm jedenfalls bestens gelungen ist.
Mir jedoch kommen Zweifel, ob mein Vorschlag eines eigenen Begriffs Yrrinthos standhält angesichts dieser Schrecken der Alzheimerschen Krankheit. Transportiert denn nicht das uns abendländischen Bildungsbürgern seltsam vertraute Labyrinth viel besser gerade durch seine unklare Vermischung die Schrecken dieser Krankheit:
° die Bedrohung durch ein Ungeheuer (Minotauros) in einem undurchschaubaren Wirrwarr von Wegen tief unter der Erde
° und gleichzeitig die Hoffnung, da möge wie im Märchen eine Prinzessin (Ariadne) einen roten Faden reichen und den Weg aus der Verwirrung heraus zeigen?
Dennoch. Ich bleibe bei meinem Vorschlag des neuen Begriffs. Gerade weil er mehr Klarheit schafft: Im Kopf einer an Alzheimer erkrankten Frau befindet sich kein Irrgarten – aber sehr wohl eine verwirrende Struktur (bzw. der Mangel anStruktur), für die der Neologismus Yrrinthos ja gedacht ist. Und das trifft auch auf all jene Gebilde zu, die Labyrinth genannt werden, als Irrgarten gedacht sind – und überhaupt nichts mit einem richtigen Garten zu tun haben.
Quelle:
Schröder, Christoph: Nicht verrückt, nur verreist". In: Südd. Zeitung vom 8. Jan 2008 – Besprechung von:
Jelloun, Tahar Ben: Yeamm – Meine Mutter, mein Kind. Berlin 2007 (Berlin Verlag)