Albtraum einer Haschischraucherin
BLOG: Labyrinth des Schreibens
In den 1970-er Jahren erzählte mir eine junge Haschischraucherin einen Traum, der sie sehr quälte.
Ich war damals als Psychologe in der Drogenberatung tätig und begleitete diese Schülerin etwa ein Jahr lang. Die Therapie war offensichtlich erfolgreich, denn viele Jahre später las ich einem Bericht des Spiegel über einen prominenten Musiker, dass sie eine Weile mit ihm verheiratet und in ihrem eigenen Metier sehr erfolgreich geworden sei (mehr will ich aus Gründen der Diskretion nicht verraten).
Doch nun zu ihrem Traum, der eine Art Schlüssel zum Verständnis ihrer damals sehr prekären Situation wurde: in der Schule und überhaupt in ihrem Leben befand sie sich auf der sehr abschüssig werdenden Bahn einer Drogenkarriere. So schrieb sie mir ihren Traum auf:
Es ist kalt und dunkel. Ich laufe ziellos herum. Da sehe ich in der Ferne einen Lichtschein. Nach einiger Zeit, die mir endlos vorkommt, erreiche ich eine Art Burgruine. Am Eingang stehen einige Beduinen. Einer von ihnen begrüßt mich mit einer Verbeugung und führt mich ins Innere des Gebäudes. Ich merke, daß es sich um eine Art Labyrinth handelt, mit Mauern, die gerade bis zu den Augen reichen, so daß ich nur ahnen kann, was in den benachbarten Gängen los ist. Überall scheinen da Menschen zu wimmeln. Am meisten fällt mir auf, daß es zunehmend wärmer wird. Schließlich erreiche ich mit meinem Führer das Zentrum der Ruine. Dort steht um eine dröhnende Musikbox ein malerisches Völkchen versammelt, das bei meinem Auftritt in lautes »Hallo!« ausbricht.
Es ist hier nicht der Platz, näher auf die Funktion der Musik im Traum einzugehen. Wahrscheinlich hat sie für die User (wie auch für Nicht-User, wenngleich in geringerem Ausmaß) eine rauschähnliche Funktion – vielleicht indem sie in tieferen seelischen Schichten (kurzfristig) eine Ich-Spaltung überbrückt? Auch die Sehnsucht nach fernen Ländern, wie sie im zitierten Traum durch die begrüßenden Beduinen und das malerische Völkchen ausgedrückt wird, könnte eine verwandte Rolle spielen; man denke nur an das intensive Fernweh der jungen Generation, das Zehntausende von jungen Leuten vor allem nach Indien, Nepal und Nordafrika gelockt hat (mehr in meiner Dissertation Der falsche Weg zum Selbst, S. 111).
Jedenfalls ist das Labyrinth-Motiv für die Existenz von Drogenkonsumenten ein sehr passendes Symbol und zugleich eine Metapher für ihr oft auswegloses Herumirren in einer psychischen und sozialen AnderWelt, in welche die Drogenerfahrungen immer tiefer hineinziehen. In einer überarbeiteten Neuauflage des Buches habe ich 1984 dann nachgetragen (Anmerkung 49):
Es erscheint mir [ . . . ] hochbedeutsam, daß in diesen Tagen das uralte Symbol des Labyrinths wieder in seiner heilsamen Funktion für die Psyche wie auch als literarische und künstlerische Metapher für den Prozeß der Selbsterfahrung/Selbstfindung entdeckt wird. Es ist das Verdienst von Hermann Kern (1982), in einem prächtigen Bildband dieses Symbol nicht nur wiederentdeckt und interpretiert zu haben, sondern auch darauf hinzuweisen, daß wichtige Unterschiede bestehen zwischen einem echten Labyrinth (etwa kretischer Herkunft) und dem Irrgarten.
Während man sich im Irrgarten – wie ja schon die Bezeichnung andeutet – leicht verliert, kann man aufgrund der klaren Geometrie des Labyrinths gar nicht in die Irre gehen, sondern kommt unbeirrbar zum Zentrum der Anlage, begegnet dort (sich selbst? der Gottheit? dem schrecklichen Minotauros?), wird verwandelt und kehrt – nach einer Wendung um 180 Grad – als neuer Mensch wieder ins Freie zurück. Einweihungsritual und Metamorphose haben dabei offensichtlich die Funktion (dies jetzt meine psychologische Interpretation), dem Initianden durch die führende materielle Struktur der Labyrinthgänge (vermutlich weniger ein Gebäude als eine auf einem Tanzboden aufgezeichnete, oder als Mosaik ausgelegte, Choreographie für einen Gruppentanz: den Ariadnefaden) beim Aufbau innerer psychischer Strukturen zu helfen.
Schon damals, in den frühen 1970-er Jahren und dann wieder ein Jahrzehnt später, hat mich also das Labyrinth-Thema sehr angesprochen – warum sonst hätte ich gerade diesen Traum der Schülerin in meine Studie aufnehmen sollen?
Quellen
Kern, Hermann: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen – 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. München 1982 (Prestel)
Scheidt, Jürgen vom: Der falsche Weg zum Selbst. Die Drogenkarriere als gescheiterter Versuch einer Selbstheilung. (München 1976). Frankfurt am Main 1984 (Fischer TB)
“… mehr will ich aus Gründen der Diskretion nicht verraten …”
Schade, es wurde gerade so interessant. 😉