Zeig mir deine Zähne und ich sag dir wer du bist – Die Geschichte der Geisterschimpansen aus Liberia

Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2023 in der Kategorie Biologie veranschaulichte Julia Stuhlträger, was sie für ihre Promotion erforscht hat.
Zähne erzählen uns eine Geschichte über das Leben eines jeden Individuums. Die Zahnabnutzung ist dabei besonders interessant. Mittels dieser kann man herausfinden, was Tiere gefressen haben, aber auch, ob die Zähne als eine Art Werkzeug benutzt wurden, oder ob man bestimmten Umweltbedingungen, wie extremen Trockenzeiten, ausgesetzt war.
Während meiner Doktorarbeit widmete ich mich der Entschlüsselung der Ernährungsweisen einer ausgestorbenen und fast vergessenen Schimpansenpopulation aus Liberia in Westafrika, indem ich die Zähne dieser Skelette untersuchte. Ich nannte sie „Geisterpopulation“ und stellte mir unter anderem folgende Fragen: Was haben diese Schimpansen gefressen? Gibt es Hinweise für bestimmte Verhaltensweisen wie Werkzeuggebrauch? Gibt es Unterschiede zu anderen Schimpansenpopulationen? Durch die Beantwortung dieser Fragen wollte ich nicht nur etwas über die Geisterpopulation herausfinden. Das erworbene Wissen kann zukünftig zum Beispiel auch dazu verwendet werden, um den Lebensraum anderer Schimpansengruppen, die in ähnlichen Gebieten leben, zu schützen.
Um meine Forschungsfragen beantworten zu können, benötigte ich Vergleichsdaten. Glücklicherweise verfügt das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, wo ich während meiner Promotion arbeitete, über eine Skelettsammlung von Schimpansen aus dem sogenannten Taï-Nationalpark (Taï-Schimpansen). Dieser ist nur ca. 200 km vom ehemaligen Lebensraum der „Geisterpopulation“ entfernt. Die Tiere des Taï-Nationalparks wurden zu ihren Lebzeiten intensiv beobachtet, wodurch wir unter anderem wissen, was sie an welchen Tagen gefressen haben. Auch ist bekannt, wann genau die Tiere gestorben sind, nämlich zum Beispiel während der Trockenzeit, die für gewöhnlich am Anfang eines jeden Jahres im Taï-Nationalpark vorherrscht. In einer Vorstudie (Schulz-Kornas et al., 2019) analysierten wir die Nahrungsdaten der Taï-Schimpansen und fanden heraus, dass die Tiere das ganze Jahr über zu einem Großteil weiche Früchte und Nüsse konsumierten. Die restliche Nahrung setzte vor allem sich aus Blättern, Samen, Ameisen und Fleisch zusammen. Die Nüsse werden von den Taï-Schimpansen mit Werkzeugen, wie Steinen oder großen Ästen, aufgebrochen, wodurch sie die harte Schale nicht mit den Zähnen zerbeißen müssen. Ein solches zerbeißen würde sich sehr deutlich in der Zahnabnutzung widerspiegeln.

Zur Beurteilung der Zahnabnutzung der beiden Populationen nutzte ich 3 Methoden, bei denen ich unterschiedlich große Bereiche auf der Kaufläche der Backenzähne untersuchte. Damit ist es möglich, unterschiedliche Zeitpunkte (kurz-, mittel- und langzeitig) der Zahnabnutzung zu beleuchten.
Die Kaufläche eines Backenzahns eines Schimpansen oder auch Menschen besteht aus mehreren kegelförmigen Höckern. Beim Kauen greifen die Zahnhöcker der Ober- und Unterkieferzähne wie Zahnräder ineinander und zerkleinern die Nahrung. Dadurch entstehen viele einzelne und kleine Abnutzungsbereiche, sogenannte Abnutzungsfacetten, die sich mit zunehmender Zahnabnutzung in Größe und Form verändern.
Mit der 1. Methode, der 3D-Oberflächentextur-Analyse, wurden mittels eines Konfokalmikroskops mikrometerkleine Bereiche dieser Abnutzungsfacetten analysiert. Diese verändern sich sehr schnell und können bereits nach ein paar Wochen durch komplett neue Spuren überprägt worden sein (kurzzeitiges Signal). Man kann also hier die Ernährungsweisen der letzten paar Tage bis Wochen zurückverfolgen.
Ausgehend von der Ernährungsweise der Taï-Schimpansen gingen wir davon aus, dass sich, egal wann im Jahr die Tiere starben, diese mikrometerkleinen Abnutzungen ähneln. Doch es kam anders.
Die Abnutzungsmuster der meisten Tiere zeigten wie erwartet einen Mix aus mikrometerkleinen Unebenheiten auf der Zahnoberfläche, durchzogen von unterschiedlich großen Kratzern. Hingegen sahen die Zähne der Tiere, die während der Trockenzeit starben, so aus, als wären sie mit Schleifpapier bearbeitet worden. Es schien so, als ob Sand und Staub mit der Nahrung konsumiert wurde und alle anderen Spuren „ausradiert“ hatte.
Als wir die Zahnabnutzungsspuren der „Geisterpopulation“, zu der wir keine Nahrungsdaten hatten, mit den Ergebnissen der Taï-Schimpansen aus der Trockenzeit verglichen, stellten wir überrascht fest, dass diese genauso aussahen. Somit waren wir uns relativ sicher, dass zumindest sehr viele Tiere dieser „Geisterpopulation“ auch während einer staubreichen Trockenzeit starben.
Mit der 2. Methode untersuchten wir die Zähne beider Populationen mittels der sogenannten „okklusalen Fingerabdruck-Analyse“. Dazu werden die kompletten Abnutzungsfacetten auf der Kaufläche millimetergenau untersucht. Die sichtbare Veränderung am Zahn dauert im Millimeterbereich meist einige Monate bis hin zu einem Jahr (mittelzeitiges Signal).
Hier zeigten die Ergebnisse, dass bei beiden Populationen die Größe und Lage der Abnutzungsfacetten ähnlich sind. Dies deutet darauf hin, dass die Nahrung beider Populationen über mehrere Monate hinweg ähnlich war und somit das Kauverhalten ähnlich ablief. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass auch die „Geisterpopulation“ einen Großteil an weichen Früchten konsumierte und lediglich ein geringerer Teil der Nahrung aus Blättern oder Samen bestand.
Mit der 3. und letzten Methode, wurden die Zähne mit Hilfe eines Mikro-CT-Scanners digitalisiert, um hochauflösende Zahnmodelle zu erhalten. Damit untersuchten wir die Abnutzungen der Zahnhöcker anhand geometrischer Variablen wie Höckerhöhe und -volumen. Somit wurden alle Abnutzungsbereiche abgedeckt, die mit den ersten beiden Methoden noch nicht untersucht wurden. Da ein Zahn in der Regel über Jahre hinweg funktionsfähig ist, spiegeln sich bestimmte Merkmale auch über einen solch langen Zeitraum auf der Zahnoberfläche wider (langzeitiges Signal).

Die Taï-Schimpansen zeigten ein für viele Primaten typisches Abnutzungsmuster der einzelnen Zahnhöcker, d.h. einige Höcker eines Zahnes nutzten sich stärker ab als andere. Bei den „Geisterschimpansen“ fiel auf, dass sich hier alle Zahnhöcker gleich stark abnutzten und sich vor allem die Höhe extrem reduzierte. Dies führt zu einer Art Plateaubildung an den einzelnen Höckern, wie als wenn man bei einem Kegel die Spitze abschneidet. Anhand dessen schlussfolgerten wir, dass hauptsächlich eine vertikale Bewegung des Unterkiefers erfolgte, wie beim einfachen Öffnen und Schließen des Mundes. Eine effektive Nahrungszerkleinerung ist allerdings mit dieser Bewegung nicht möglich. Folglich vermuteten wir, dass die „Geisterschimpansen“ ihre Zähne regelmäßig als Werkzeuge benutzten, um Nüsse oder andere Früchte mit einer harten Schale zu knacken.
Neben den gewonnenen Erkenntnissen zu den Schimpansen aus Liberia, die nun keine „Geisterpopulation“ mehr ist, zeigt die Ergebnisse auch, dass die 3 verwendeten Methoden die Möglichkeit bieten, die Zahnabnutzung auf verschiedenen zeitlichen Skalen abzubilden, was mit einer Methode allein nicht zu erkennen wäre. Letztlich kann man mit diesen Analysen nicht nur die Nahrung selbst, sondern auch andere ernährungsrelevante Faktoren (z.B. Staubaufnahme) sowie kulturelle Unterschiede im Verhalten (z.B. Werkzeuggebrauch) rekonstruieren und dies alles innerhalb einer einzigen Art.
Julia Stuhlträger studierte Biologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und der Universität Leipzig. Ihre Promotion absolvierte sie am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Leipzig und der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dabei beschäftigte sie sich mit der Ernährungsökologie von Schimpansen. Für ihre finale Schreibphase während der Promotion besuchte sie das Konrad-Lorenz-Institut für Evolutions- und Kognitionsforschung in Klosterneuburg (Österreich). 2022 kehrte Julia Stuhlträger an die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zurück, wo sie aktuell als Postdoc arbeitet.