Zählt Größe etwa doch?

Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2020 in der Kategorie Biologie veranschaulichte Christoph Koch, was er in seiner Promotion erforscht hat.


Flammschutzmittel sind oft schädlich für die Umwelt. Eine neue chemische Struktur verspricht Abhilfe.

Feuer. Mit wenigen Begriffen verbinden wir so gegensätzliche Gefühle wie mit dem Wort Feuer. Neben zahlreichen schönen Momenten – denken Sie nur an ein gemütliches Lagerfeuer oder ein Abendessen bei Kerzenschein – kann Feuer auch viel Leid mit sich bringen. Aus diesem Grund setzen wir Menschen viel daran, unkontrollierte Feuer zu bekämpfen oder soweit wie möglich direkt zu vermeiden. Doch was wiegt schwerer, wenn unser Streben nach Sicherheit gleichzeitig fast unbemerkt Mensch und Umwelt schadet?

Eine Gruppe von Stoffen, die uns vor Feuern bewahren sollen, sind die sogenannten Flammschutzmittel. Diese Stoffe werden vielen leicht brennbaren Produkten zugesetzt, um die unbeabsichtigte Entstehung von Feuern zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Derart behandelte Produkte sind beispielsweise elektronische Geräte, Textilien oder Mobiliar. Flammschutzmittel werden außerdem einigen Arten der Gebäudedämmung zugesetzt.

Eines der bekanntesten Dämmmaterialien ist expandiertes Polystyrol, besser bekannt unter dem Handelsnamen „Styropor“. Bis vor wenigen Jahren wurde dem zur Dämmung verwendeten Styropor ein Flammschutzmittel mit der Abkürzung „HBCD“ zugesetzt. Bereits 2011 wurde dieses Flammschutzmittel jedoch in der Europäischen Union als „besonders Besorgnis erregende Substanz“ eingestuft. Diese Einstufung basierte darauf, dass HBCD nicht nur äußerst langlebig ist – es wird also in der Umwelt nicht schnell abgebaut –, sondern sich auch in Lebewesen anreichert.

Hinzu kommt eine dritte Eigenschaft, die in verschiedenen Studien belegt wurde: HBCD wirkt toxisch. Einige der toxischen Effekte von HCBD lassen sich relativ leicht mit dessen chemischer Struktur erklären. HBCD steht für Hexabromcyclododecan; also einem Ring (cyclo) aus zwölf Kohlenstoffatomen (dodecan), an dem sechs (hexa) Bromatome hängen. Brom weist chemisch gesehen viele Ähnlichkeiten mit Iod auf, welches im menschlichen Körper insbesondere für die Produktion von Schilddrüsenhormonen benötigt wird. Aufgrund dieser chemischen Ähnlichkeit von Brom und Iod kann es vorkommen, dass HBCD in die natürliche Funktion der Schilddrüse eingreift und diese negativ beeinflusst. Dieser Mechanismus ist nicht nur für HBCD, sondern auch für viele weitere bromierte Stoffe belegt.

Leider können wir Menschen uns kaum davor schützen, dass Flammschutzmittel in unseren Körper gelangen. Dies geschieht nämlich über zwei für uns kaum vermeidbare Wege: über unserer Nahrung und durch die Aufnahme von Hausstaub. Letzteres mag zunächst verwundern, spielt tatsächlich aber eine sehr große Rolle – insbesondere für (Klein-)Kinder. Diese verbringen nämlich viel Zeit auf dem Boden und nehmen ihre Finger häufig in den Mund. Erschwerend kommt noch hinzu, dass bei ihnen die toxischen Effekte stärker ausgeprägt sind. Die im Hausstaub gefunden Konzentrationen an bromierten Flammschutzmitteln variieren von Haushalt zu Haushalt, können jedoch Konzentrationen von bis zu einem Prozent der Masse des Hausstaubes erreichen. Wie bereits erwähnt, stellen auch Lebensmittel eine bedeutende Quelle der unbeabsichtigten Aufnahme bromierter Flammschutzmittel dar. Insbesondere fettreiche tierische Produkte sind stark belastet.


Aufnahmen eines etwa 4mm großen Wasserflohs der Art Daphnia magna bei unterschiedlicher Belichtung. ©Christoph Koch

Die Tatsache, dass solch hohe Konzentrationen sowohl in einem Teil unserer Lebensmittel als auch in unseren Wohnungen und Häusern vorzufinden sind, hängt unter anderem damit zusammen, dass Flammschutzmittel sich verhältnismäßig leicht aus den Produkten lösen, in die sie ursprünglich eingebracht wurden. Die meisten Flammschutzmittel sind relativ kleine Stoffe, die zudem nicht fest an das zu schützende Material gebunden sind. So werden sie beispielsweise nur „lose“ der Polsterung eines Sofas oder eben den Dämmmaterialien zugegeben, anstatt mit diesen eine feste Bindung einzugehen.

Nachdem für HBCD in der Europäischen Union im Jahr 2014 ein Produktionsverbot in Kraft trat, musste dieser Stoff in Polystyrol-Dämmmaterialien durch ein neues Flammschutzmittel ersetzt werden, um auch weiterhin den Brandschutzanforderungen gerecht zu werden. Das Besondere an diesem neuen Flammschutzmittel ist, dass es sich hierbei nicht mehr um einen relativ kleinen Stoff handelt – wie es zuvor immer der Fall war –, sondern zum ersten Mal um ein sogenanntes Polymer. Polymere sind Stoffe, die aus einer langen Kette sich wiederholender Einheiten (den Monomeren) bestehen. Entsprechend wird dieses neue Flammschutzmittel auch als „Polymeric FR“ (FR von engl. flame retardant = Flammschutzmittel) bezeichnet.

Seit seiner Einführung ist die Produktionsmenge von Polymeric FR auf mittlerweile 26.000 Tonnen jährlich gestiegen. Mit etwa zwei Prozent der Masse kommt dieser Stoff in fast allen neu produzierten Polystyrol-Dämmplatten in Europa vor. Aufgrund der neuartigen polymeren Struktur gehen sowohl die Produzenten als auch die zuständigen Behörden davon aus, dass Polymeric FR zu groß ist, um einerseits aus den Polystyrol-Platten auszutreten und andererseits in den menschlichen Körper aufgenommen zu werden. Doch ist es wirklich so einfach?

Uns – die Umwelttoxikologen des Lehrstuhls für Aquatische Ökologie der Universität Duisburg-Essen – hat zu Beginn unserer Arbeit überrascht, dass zu einem solch intensiv verwendeten Stoff bisher nicht eine einzige wissenschaftliche Studie veröffentlicht wurde. Auch ist es wichtig zu wissen, dass die Vorschriften für Polymere in Europa zudem nicht so strikt sind wie für Monomere. Ein fast gar nicht beachteter Punkt ist unter anderem der Abbau dieser langen Kette und die daraus möglicherweise resultierenden Abbauprodukte. Styropor-Dämmplatten bleiben immerhin für etwa 50 Jahre an der Gebäudefassade – Zeit genug für einen Abbau des Polymers.

In unseren Versuchen haben wir verschiedene Szenarien betrachtet, unter denen Polymeric FR in kleinere Substanzen zerfallen kann. Wir haben den Stoff sowohl als Reinsubstanz als auch in Dämmplatten integriert mit UV-Strahlung – als Teil des Sonnenlichts – und Hitze (60 °C) behandelt. Zudem haben wir in unseren Versuchen überprüft, welchen Einfluss Wasser auf den Abbau des Polymers hat. Hinter der Fassade spielt Wasser zwar keine große Rolle, im gesamten Lebenszyklus dieses Polymers gibt es jedoch Momente, in denen es mit Wasser in Kontakt kommen kann. Beispielsweise, wenn Styropor nach der Nutzungszeit auf einer Deponie lagert.

Experimenteller Aufbau zur Überprüfung der chronischen Toxizität einiger Abbauprodukte von Polymeric FR auf den Großen Wasserfloh Daphnia magna. ©Christoph Koch

Unsere Versuche haben gezeigt, dass sowohl UV-Strahlung als auch Hitze einen Abbau des Polymers bewirken können – insbesondere in Kombination mit Wasser. Der Abbau durch Hitze ist dabei weniger stark, stellt jedoch ein alltägliches Szenario für Dämmplatten dar, die ja gerade der Wärmeisolation dienen. Bei unseren Analysen konnten wir bis zu 75 verschiedene Abbauprodukte von Polymeric FR entdecken, von denen einige ebenfalls bromiert waren. Von diesen haben wir uns wiederum vier ausgesucht, die wir in verschiedenen umwelttoxikologischen Untersuchungen getestet haben.

Hierbei nutzten wir Computersimulationen, bei denen aufgrund von Strukturähnlichkeiten der Abbauprodukte zu anderen Stoffen Vorhersagen in Bezug auf den Effekt auf Fische getroffen werden. Zusätzlich führten wir Laborexperimente mit Algen und Wasserflöhen durch. So konnten wir eine Nahrungskette nachbilden, wie sie auch in vielen Gewässern vorkommt. Dabei zeigte sich, dass die akute Toxizität, also die zeitnahe negative Wirkung auf die Organismen, eher vernachlässigbar ist. Eine chronische Toxizität, also der Effekt nach langanhaltender Aufnahme der Abbauprodukte, war jedoch bereits bei verhältnismäßig geringen Konzentrationen feststellbar. So stellte sich heraus, dass die Anzahl der Nachkommen von Wasserflöhen stark reduziert wurde.

Unsere Versuche zeigen, dass Polymeric FR, so lange es in Dämmplatten eingesetzt wird, offenbar kein großes Risiko für die Umwelt darstellt, insofern eine korrekte Entsorgung sichergestellt ist. Aber wir konnten auch zeigen, dass der Einsatz dieses oder anderer Polymere in weiteren Produkten wie Textilien wesentlich kritischer zu sehen wäre, da hier beispielsweise während des Waschvorgangs förderliche Bedingungen für einen schnellen Abbau der polymeren Kette gegeben sind. Auch konnten wir feststellen, dass die Abbauprodukte sich gegenseitig in ihrer negativen Wirkung verstärken können. Dieses Phänomen ist auch für andere Stoffe bekannt, wird jedoch bei der in der Europäischen Union vorgeschriebenen Bewertung häufig nicht beachtet. Unsere Arbeit stellt einen ersten Baustein für weitere Forschung an polymeren Flammschutzmitteln dar. Wir hoffen, so einen kleinen Beitrag dazu zu leisten, dass Abbauprozesse von Chemikalien insgesamt künftig auch in der Gesetzgebung mehr Beachtung finden – denn auch kleine Konzentrationen können große Wirkung haben.


Christoph Koch studierte von 2008 bis 2013 Biologie und Chemie für das Lehramt in Essen. Im Zuge seiner Dissertation hat er sich mit der Zersetzung von Polymeric FR und der Ökotoxizität der hierbei entstehenden Abbauprodukte beschäftigt. Bereits während seiner Promotionszeit hat er zudem angefangen bei der Deutschen ROCKWOOL GmbH & Co. KG zu arbeiten, wo er sich bis 2021 mit der Toxikologie von Mineralwolle-Fasern beschäftigte. Aktuell ist Herr Koch Professor im Bereich der technischen Chemie und Umweltchemie an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.

1 Kommentar

  1. Interessant, zeigt doch dieser Artikel, dass ein problematischer Stoff, nämlich HBCD durch einen anderen, nicht in alle Fällen unproblematischen Stoff, nämlich Polymeric FR, ersetzt wurde.
    Allerdings ist HBCD als Teil von Styropordämmplatten nicht unmittelbar gefährlich, denn Dämmplatten befinden sich ja aussen am Haus und Untersuchungen haben gezeigt, dass HBCD nicht daraus entweicht. Auch die normale Entsorgung bietet keine Problem, werden Dämmplatten doch zur Entsorgung verbrannt und beim Verbrennen wird HBCD zerstört und das dabei freigesetzte Brom vom Kaminfilter aufgefangen. Da HBCD jedoch generell verboten wurde gab es keine andere Möglichkeit als nach einer Alternative zu suchen. Und die wurde in Form von Polymeric FR gefunden und diese sind wie schon HBCD unproblematisch solange sie nur in Dämmplatten verwendet werden. So liest man hier dazu:

    Unsere Versuche zeigen, dass Polymeric FR, so lange es in Dämmplatten eingesetzt wird, offenbar kein großes Risiko für die Umwelt darstellt, insofern eine korrekte Entsorgung sichergestellt ist.

    Das gleiche gilt ja auch für HBCD als Teil von Dämmplatten.
    Wird Polymeric FR jedoch anderswo verwendet, beispielsweise als Teil von Textilien, dann ist auch Polymeric FR nicht völlig unproblematisch.

    Kurzum: Ein universell einsetzbares Flammschutzmittel, welches keinerlei Gesundheitsgefahren mit sich bringt, scheint es bisher nicht zu geben. Doch für Produkte wie Dämmschutzplatten scheinen die Probleme gelöst.

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