Wer kontrolliert den Untergang von Nervenzellen?

Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2023 in der Kategorie molekulare Medizin veranschaulichte Maike Hartlehnert, was sie für ihre Promotion erforscht hat.
Unser Immunsystem verteidigt uns gegen Bakterien und Viren. Kämpfen unsere Immunzellen jedoch am falschen Ort, können sie gesunde Zellen zerstören – zum Beispiel Nervenzellen in unserem Gehirn. Wer begrenzt den Schadensumfang?
Spätestens der letzte Herbst hat uns daran erinnert, wie wichtig eine gute Immunabwehr ist. Reagiert unser Immunsystem zu schwach oder zu spät auf Krankheitserreger, die uns bei dem nasskalten Wetter vermehrt begegnen, machen Erkältungen und grippale Infekte unseren Alltag ungemütlich. Um das möglichst zu vermeiden, arbeitet eine Vielfalt an Immunzellen mit verschiedenen Aufgaben Hand in Hand.
Wichtig sind regulierende Faktoren, die wie ein Regler am Gasherd die Immunreaktion nach Bedarf anpassen können. Während sich eine zu schwache Immunantwort häufig in ständigen Infekten zeigt, kann eine zu starke und zugleich fehl gerichtete Immunreaktion körpereigene Zellen angreifen. Das passiert zum Beispiel bei Multipler Sklerose (MS): Bei dieser Krankheit bilden Immunzellen oft Entzündungsherde im Gehirn und Rückenmark, also im zentralen Nervensystem (ZNS), und können den Untergang von Nervenzellen fördern. Unsere Nervenzellen empfangen, verarbeiten und versenden Signale und ermöglichen eine Reihe von Muskelbewegungen wie beim Laufen, Stehen, Greifen, Sehen. Je nachdem, welche Nervenzellen angegriffen werden, können Symptome bei MS stark variieren. Sichtbare Symptome sind zum Beispiel Muskelschwäche und Koordinationsprobleme.
Unser Forschungsteam von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster wollte wissen, wie sich eine Fehlregulation des Immunsystems auf die Funktionalität von Halte- und Gangmuskulatur samt Koordination bei MS Patient:innen auswirkt. Wir haben untersucht, ob ein bestimmter Immunsystem-Regulator das Gangbild verändert.
Wir haben den Regulator „Bcl6“ ausgewählt: Das ist ein Protein, das den Charakter von bestimmten Immunzellen –dem Typ T– gezielt beeinflussen kann. Unseren Regulator Bcl6 nennen wir hier „X“ und die von ihm beeinflussten Zellen bekommen den Zusatz „X-Charakter“. X wird von der T Immunzelle selbst hergestellt. Wofür brauchen wir T Immunzellen mit X-Charakter? Sie sind wichtig, damit sich andere Immunzellen entwickeln können: die B Immunzellen. Unsere beiden Immunzelltypen T und B arbeiten eng zusammen: In unseren Lymphknoten bilden die Abwehrzellen Gruppen. Sie unterstützen sich auf engem Raum – eine wichtige Voraussetzung für eine gesunde Abwehr.

Was passiert, wenn Immunzellen am „falschen“ Ort kämpfen? Bei MS Patient:innen findet man oft Entzündungsherde mit vielen Immunzellen im ZNS und in den Hirnhäuten. Hirnhäute umhüllen das Nervengewebe in Gehirn und Rückenmark. Studien haben gezeigt: je größer und häufiger die Entzündungsherde, desto ausgeprägter sind Muskelschwäche und -lähmungen bei MS Patient:innen. Die Zusammensetzung dieser Immunzell-Gruppen erinnert an jene in den Lymphknoten: Neben Immunzellen vom Typ T finden wir auch hier zahlreiche Immunzellen vom Typ B. Spannend ist: Therapien, die Immunzellen vom Typ T oder B eindämmen, können das Fortschreiten von MS deutlich verlangsamen. Ein Indiz, dass B und T Immunzellen eine große Rolle bei MS spielen. Wie und wo genau die B und T Immunzellen bei MS interagieren, ist nicht vollständig geklärt. Weil unser Regulator X das Zusammenspiel von B und T Immunzellen in der gesunden Abwehr fördert, war er der perfekte Kandidat für unsere Studie.
Mit Tierversuchen in Mäusen wollten wir Interaktionen von T und B Immunzellen im ZNS und in den Hirnhäuten nachstellen: Wir haben gesunden Mäusen Immunzellen vom Typ T gespritzt. Das besondere an diesen T Immunzellen: Sie sind hoch reaktiv und können gezielt Nervenzellen angreifen. Diese „angriffslustigen“ T Immunzellen wandern ins ZNS und bilden gemeinsam mit anderen Immunzellen, unter anderem vom Typ B, Entzündungsherde im ZNS und in den Hirnhäuten. Die Mäuse entwickeln Muskelschwäche und Koordinationsprobleme. Diese Symptome nehmen zu – mit der Anzahl und Größe der Immunzell-Gruppen im ZNS und den Hirnhäuten.
Wir wollten wissen: Welche Rolle spielt unser Regulator X in diesen Tierversuchen? Unsere Idee: T Immunzellen mit X-Charakter wandern ins ZNS und arbeiten mit B Immunzellen zusammen. Entzündungsherde bilden sich im ZNS und in den Hirnhäuten. Nervenzellen werden zerstört und Muskelbewegungen gestört. Wir haben uns gefragt: Befeuert X das Zusammenspiel zwischen T und B Immunzellen in unseren Tierversuchen – wirkt X also wie ein Regler am Gasherd und verstärkt das Entzündungs-„Feuer“ im ZNS und in den Hirnhäuten? Und können wir die Folgen im Gangbild der Mäuse beobachten?
Unsere Fragen bauen aufeinander auf – ein Schritt für Schritt Plan musste her. Bevor wir in die Tiefen der Immunzell-Interaktionen abtauchten, waren wir neugierig, ob unser Regulator X überhaupt das Gangbild der Mäuse beeinflussen kann. Dafür haben wir mit zwei Maustypen gearbeitet: Während bei der Mausgruppe „AN“ der Regulator X vorhanden war, wurde dieser spezifisch aus dem Erbgut der angriffslustigen T Immunzellen in der Mausgruppe „AUS“ gelöscht. Das kann man sich so vorstellen, dass die Erbinformation für die Herstellung des Regulators mit einer Schere ausgeschnitten wird. Die angriffslustigen T Immunzellen der Mausgruppe „AUS“ bilden dann kein X.
Unsere Versuchsmäuse durften über einen Laufsteg krabbeln – in unserem Fall ein Tisch im Tierstall. Wir haben sie dabei beobachtet. Lähmungen zeigten sich zuerst in den Hinterläufen: statt ihre Tatzen sauber aufzusetzen, schleiften die Mäuse ihre Hinterläufe über den Boden. Tatsächlich beeinflusste X das Gangbild: Bei den kranken Mäusen der Gruppe „AN“ beobachteten wir stärkere Muskellähmungen als bei der Gruppe „AUS“.
Aus ähnlichen Tierversuchen wussten wir: Starke Lähmungen gehen meist einher mit vielen Entzündungen im ZNS. War das bei unseren Mäusen auch so? Sehr dünne „Scheiben“ von Gehirn und Rückenmark der kranken Mäuse waren unser abgestecktes Terrain: hier gingen wir auf Immunzell-Suche. Um Zellen unter dem Mikroskop sichtbar zu machen, kann man sie anfärben. Die Farbstoffe passen jeweils nur zu einem Zelltyp – so wie ein Schlüssel nur zu einem Schloss passt. Somit erscheinen zum Beispiel T Immunzellen unter dem Mikroskop weiß und B Immunzellen grün.

Wir fanden häufiger große Immunzell-Gruppen im ZNS der Mäuse der Gruppe „AN“ (mit den stärkeren Lähmungen). Auffällig waren große Immunzell-Gruppen in den Hirnhäuten mit vielen Immunzellen vom Typ B.
Nur ein kleiner Teil von allen T Immunzellen in den kranken Mäusen waren unsere angriffslustigen T Immunzellen mit X-Charakter. Befanden sie sich in der Nähe von B Immunzellen? Unter dem Mikroskop haben wir gesehen: Unsere T Immunzellen mit X-Charakter waren umringt von B Immunzellen – und zwar in den Hirnhäuten.
„Sprachen“ die T und B Immunzellen in den Hirnhäuten miteinander und welche Rolle spielte der Regulator X dabei? Immunzellen senden Proteine aus, die an Rezeptoren anderer Zellen binden und so Signale übertragen können. Bestimmte Protein-Rezeptor-Paare deuten auf Interaktionen zwischen T und B Immunzellen hin. Konnten wir einige davon in den Hirnhäuten finden? Ja, und es gab mehr „Gespräche“ zwischen B und T Immunzellen, wenn unser Regulator X vorhanden war.
Am Ende waren wir neugierig, warum der rege Austausch zwischen T und B Immunzellen gerade in den Hirnhäuten der kranken Mäuse stattfand. Mikroskop-Bilder der Hirnhäute zeigten Faserstrukturen, die umso dichter werden, je mehr Immunzellen sich dort ansiedelten. Als wir zusätzlich T und B Immunzellen anfärbten, entdeckten wir große Immunzellgruppen vom Typ B zwischen den Fasern, gemeinsam mit angriffslustigen T Immunzellen.
Immunzellen vom Typ T und B inmitten verwobener Faserstrukturen fanden wir in vielen kranken Mäusen der Gruppe „AN“. Die Kombination erinnert an Immunzell-Gruppen in den Lymphknoten: hier geben enge Faserstrukturen den Immunzellen Halt – als Teil einer gesunden Immunabwehr.
Diese Parallelen zu den Lymphknoten lassen uns vermuten, dass sich Immunzell-Gruppen gerne innerhalb der faserreichen Hirnhäute bilden. Hier kann unser Regulator X Gespräche zwischen angriffslustigen T Immunzellen und B Immunzellen vermutlich besonders gut unterstützen – und so den Untergang von Nervenzellen beeinflussen.
Maike Hartlehnert studierte Molekulare Medizin an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg. Neugierig auf die großen Zusammenhänge im menschlichen Körper und die Wirkweise des Immunsystems führte ihr Weg sie zu ihrer Promotion an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster. Parallel absolvierte sie eine Ausbildung in Akupunktur und Chinesischer Medizin. Seit März 2023 unterstützt sie als Heilpraktikerin in Erlangen Menschen auf ihrem Weg zu einem gesünderen Leben.