Spannende Langeweile – warum Eintönigkeit unserem Gehirn wehtut
Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2023 in der Kategorie Neurowissenschaften veranschaulichte Johannes Seiler, was er für seine Promotion erforscht hat.
Langeweile kennen wir alle, sie beeinflusst unser Denken und Handeln. Doch was genau lässt Langeweile entstehen? Und wie kann man sie verlässlich messen? Ein neuer Verhaltenstest soll erfassen, wie gelangweilt jemand gerade ist: ein Startpunkt zum Verstehen von Ursache und Sinn der Langeweile.
„Schon wieder nichts Neues. Sondern das Gleiche. Immer und immer wieder.“
Wir alle wissen, wie zäh und quälend sich Zeit anfühlen kann, wenn man gefangen ist in einer Situation ohne Abwechslung und die Möglichkeit, sich abzulenken. Wir wissen, wie unliebsam und schier endlos sich das Warten an einer unbelebten Bushaltestelle hinzieht, oder die Fahrt über den immergleichen Arbeitsweg oder das Anhören der hundertsten Wiederholung eines Popsongs im Radio. Diesen Zustand kennen wir als Langeweile, ein unangenehmes Gefühl, bei dem wir wünschten, dem aktuellen Moment zu entfliehen, um etwas Neues, Spannendes, Abwechslungsreicheres zu erleben – egal was, Hauptsache, es bietet einen Ausweg aus der Eintönigkeit. Trotz ihrer Allgegenwart ist Langeweile bisher kaum neurowissenschaftlich untersucht und ihre konkreten Auslöser bleiben unklar. Hierfür habe ich in meiner Promotionsarbeit einen Verhaltenstest zur Messung von Langeweile entwickelt, der zeigen konnte: So wie ein Mangel an Nahrung Hunger auslöst, führt ein Fehlen sensorischer Information zu Langeweile.
Bereits Philosophen wie Blaise Pascal, Voltaire und Arthur Schopenhauer bezeichneten die Langeweile als das vielleicht größte Unglück der Menschheit, doch stellte vorerst niemand die Frage, wie dieses „Unglück“ eigentlich exakt hervorgerufen und in unserem Gehirn verarbeitet wird. Dies änderte sich gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, als klinische Studien zeigten, dass Langeweile ein schwerwiegender Faktor bei vielen psychischen Erkrankungen ist. Von Depressionen über Aufmerksamkeitsstörungen bis hin zu Suchterkrankungen geben Patienten an, unter dauerhaft gesteigerter Langeweile zu leiden, einem Gefühl, das ihren Behandlungsverlauf maßgeblich beeinflussen und verkomplizieren kann. Auf Grundlage dieser neueren Beobachtungen wuchs das Interesse an Langeweile – auch in der neuropsychologischen Forschung. Folgestudien zeigten, dass Langeweile auch im gesunden Zustand eine entscheidende Rolle für das menschliche Verhalten spielt: In eintönigen, festgefahrenen Situationen tritt sie als unangenehmes Gefühl auf und bewegt Menschen dazu, kreativ zu werden und ihr aktuelles Verhalten so anzupassen, dass es mehr Belohnung und Abwechslung verspricht.
Diese Untersuchungen bedienten sich einer bunten Palette an Methoden, um Langeweile hervorzurufen; von simplen Rechenaufgaben bis hin zum Anstarren einer weißen Wand. Ungeklärt ist jedoch bis heute, welche Eigenschaft dieser Situationen eigentlich genau die Langeweile auslöst. Zudem stützten sich bisherige Studien nahezu ausschließlich auf Fragebögen, um das Langeweileempfinden von Probanden zu messen. Solche Fragebögen sind für viele psychologische Experimente gut geeignet, doch tragen sie auch einige unüberwindbare Schwächen mit sich: Erstens ist zum Beispiel die Glaubwürdigkeit der Antworten unklar, da Fragen zum Teil unwahr beantwortet werden, um besser den Erwartungen der Versuchsleiter zu entsprechen. Zweitens ist die Anwendbarkeit der Fragebögen auf Menschen mit ausreichendem Sprachverständnis beschränkt.
Zusammen hemmen diese methodischen Mängel bis heute die neurowissenschaftliche Erforschung von Langeweile. Denn genauso wie man ein Metermaß braucht, um Entfernungen zu messen, braucht es eben auch ein geeignetes Verfahren, um Langeweile verlässlich hervorzurufen und zu erfassen. Ein solches Verfahren sollte dabei unter vielfältigen Bedingungen und mit verschiedenen Versuchsspezies, von Maus bis Mensch, einsetzbar sein, um der Langeweile von verschiedenen Perspektiven aus auf den Grund zu gehen.
Um diese Probleme zu lösen und Langeweile für die Neurowissenschaft erfassbar zu machen, stellte ich in meiner Promotionsarbeit einen neuen Verhaltenstest vor. Dieser Test ruft Langeweile durch vielfach wiederholte Darbietung von Sinnesreizen hervor und erfasst dabei, wie stark Personen dieser eintönigen Reizquelle durch Vermeidungsverhalten entgegenwirken. Das Ausmaß dieser Vermeidung spiegelt dabei die empfundene Langeweile wider.
Für den Test wurden gesunde Probanden in einen stillen Raum vor einen Computer mit zwei Tasten gesetzt, zwischen denen sie sich in vielen hundert Durchgängen entscheiden mussten. Durch Betätigen der Tasten wurden für kurze Zeit jeweils einzelne Bilder auf einem Bildschirm gezeigt. Die Bilder zeigten neutrale Alltagsobjekte: z.B. einen Apfel, eine Waschmaschine oder einen Autoreifen. Eine Taste war nun so eingestellt, dass sie immer dasselbe wiederkehrende Bild zeigte (sog. „monotone Taste“), wohingegen die andere Taste bei Betätigung zufällige, abwechselnde Bilder zeigte (sog. „variable Taste“). Beim Drücken der beiden Tasten mussten sich die Probanden also immer wieder zwischen monotonen und abwechslungsreichen Sinnesreizen entscheiden, wobei ich ihr Wahlverhalten genau aufzeichnete.
Gemäß meinen Erwartungen, sollten die Probanden durch die monotone Taste stärker gelangweilt sein und daher häufiger die variable Alternative betätigen. Genau dies war zu beobachten: Im Mittel mehr als 80% aller Entscheidungen der Teilnehmer fielen so aus, dass die monotone Taste vermieden und die variable Taste betätigt wurde. Wenn jedoch beide Alternativen gleich monoton waren, zeigten die Probanden keine bestimmte Präferenz.
Die Vermeidung eintöniger Sinnesreize konnte sogar dann beobachtet werden, wenn derselbe Test mit kurzen Tonaufnahmen anstelle von Bildern durchgeführt wurde – ein Anzeichen für ein sinnesübergreifendes Maß des Empfindens der Versuchsteilnehmer.
Um zu überprüfen, ob das gemessene Vermeidungsverhalten auch tatsächlich die Langeweile der Probanden widerspiegelte fragte ich diese, wie gelangweilt sie während des Versuchs waren. Es zeigte sich: stärker gelangweilte Personen neigten dazu, die monotone Taste häufiger zu vermeiden. Somit hatten wir tatsächlich eine aussagekräftige Messmethode für Langeweile.
Mit diesem neuen Test konnte ich als nächstes untersuchen, welche genaue Eigenschaft der Sinnesreize Langeweile auslöst. Dafür veränderte ich in einer Reihe von Experimenten schrittweise den Grad an Eintönigkeit beider Knöpfe durch Variation der Menge an verfügbaren Bildern. Im Falle weniger durch den Knopf abrufbarer Bilder war die Monotonie hoch, im Falle vieler, unterschiedlicher Bilder war die Monotonie gering.
Was ich in diesen Versuchen beobachtete erstaunte mich: das Verhalten der Versuchsteilnehmer passte sich genau an die Monotonie beider Tasten an. Diese erlebte Eintönigkeit ließ sich durch mathematische Verfahren der Informationstheorie erstmals genau beschreiben und als Zahlenwert einfangen: So wie ein wiederkehrendes Wort in einem Satz mit jeder Wiederholung weniger neue Information bringt, berechnete ich für jeden erlebten Sinnesreiz – abwechslungsreich oder wiederkehrend – wie viel Information er bereitstellte. Den Informationsgehalt der erlebten Sinnesreize setzte ich letztlich in einem kognitiven Modell in Zusammenhang mit dem Verhalten der Studienteilnehmer. Die Analyse des Modells zeigte: Langeweile entsteht als direkte Folge eines Informationsmangels und hängt vom Ausmaß dieses Mangels ab.
Für das echte Leben, in dem wir uns in weitaus komplexeren Situationen als der Auswahl zwischen zwei Tasten wiederfinden, sichert sich unser Gehirn somit durch Langeweile einen kontinuierlichen Zufluss an Sinneseindrücken und Information. Genauso wie uns Hunger bei Nahrungsmangel veranlasst, neue Nahrung zu suchen, löst Langeweile in eintönigen Situationen die Suche nach neuer Information aus. Sie ermöglicht uns so ein ständiges Anpassen an unsere Umgebung und bewahrt uns vor dem schmerzhaften Zustand mangelnder Informationszufuhr, der nachhaltigen Schaden anrichten kann, wie uns pandemiebedingte Einschränkungen der letzten Jahre und Studien sozialer Isolation mit schweren Gesundheitsfolgen verdeutlichen.
Doch auch in Hinblick auf psychische Erkrankungen ist das Zusammenspiel von erlebter Information und Langeweile-gesteuertem Verhalten interessant, da die Wahrnehmung der Umwelt in diesem Fall krankheitsbedingt verzerrt sein kann. Der hier vorgestellte non-verbale Verhaltenstest für Langeweile ist so einfach gehalten, dass er leicht in klinischen Studien eingesetzt und eventuell sogar auf tierexperimentelle Untersuchungen übertragen werden kann. Zur weiteren Erforschung der Grundlage von Langeweile im Gehirn ist somit ein Grundstein gelegt.
Johannes Seiler studierte Humanmedizin an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Dort vertiefte er sein Interesse für klinische Neurowissenschaften und promovierte am Institut für Physiologie zu den neurokognitiven Ursachen der Langeweile. Nach einem einjährigen klinischen Einsatz in der universitären Klinik für Psychiatrie Mainz, kehrte er 2022 als Postdoktorand an das Institut für Physiologie zurück. Dort forscht er unter anderem zu den neuronalen Grundlagen auditorischer Wahrnehmung und deren Bezug zur Langeweile sowie zu den Grundlagen von Lern- und Vergessensprozessen in Maus und Mensch.
Absolut nachvollziehbar.
Jetzt ist interessant wie wiederholte andauernde kontinuierliche Langeweile und Demenz zusammenhängen. (Altersruhe, Rente)
Ist langfristige andauernde Unterforderung des Gehirns für die Leistungsreduzierung, das Zurückfahren, das Reduzieren auf das absolut Notwendige (Überleben) verantwortlich ?
Ganz normale Körperreaktion auf fehlende Bedarfsanreize, muskulär bestens bekannt, aber auch im kognitiven Bereich üblich.
Der Proteinquatsch ist vermtl. ein kapitalistisch motivierter Grund der Pharmabranche um an hochpreisige, bereitwillig, gezahlte Einnahmen zu kommen.
Es gibt zahlreiche Untersuchungen in denen hochgradig beta-amylierte Gehirne (altersbedingt ?) bis zuletzt hervorragend funktioniert haben.
Monotone kontinuierliche Reize sind langweilig, nachvollziehbar.
Reizlosigkeit selbst kann aber nicht zwingend mit Langeweile, obwohl monoton (?), gleichgesetzt werden.
In der Meditation wird bewußt und konzentriert die Reizlosigkeit aufgesucht und ist auch bei längerer Ausübung nie langweilig.
Anscheinend ist auch die Erwartungshaltung gravierend mit von der Partie bei der Situationsbewertung.