Sehr tief ins Glas geschaut

Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2023 in der Kategorie Chemie veranschaulichte Stefan Pieczonka, was er für seine Promotion erforscht hat.
Der tiefgreifende analytische Blick der ultrahochauflösenden Massenspektrometrie ermöglicht neue Konzepte, unsere Lebensmittel zu überwachen, ihre Sicherheit zu gewährleisten und Produktionsprozesse zu optimieren. Die umfangreichen molekularen Fingerabdrücke stehen dabei keineswegs im Widerspruch zur Unbelassenheit und Qualität unserer Nahrungsmittel. Am Beispiel des Bieres verdeutlichen wir, wie sie vielmehr versprechen, diese zu bewahren und weiterzuentwickeln.
Zutatenlisten, Nährwerttabellen, Nutri-Scores – sie begegnen uns bei jedem Einkauf. Doch unsere Lebensmittel beherbergen eine molekulare Welt, die noch weit über Kohlenhydrate, Proteine und Fette hinausgeht. Eine Technik mit dem schlichten Namen „Fourier-Transform Ionenzyklotronresonanz Massenspektrometrie“ (oder für Versierte: FT-ICR-MS) ermöglicht es, diese mannigfaltige molekulare Ebene unserer Lebensmittel zu betreten. Die Auswahl eines anschaulichen Probenmaterials fällt dabei nicht schwer: Nicht allein die Tradition oder der Genuss, sondern die Komplexität seiner Zusammensetzung macht das Bier zum bestgeeigneten Untersuchungsobjekt. Ausgehend von den Rohstoffen prägen biologische, biochemische und chemische Prozesse in vielfältiger Weise das komplexe molekulare Gemisch, das wir Bier nennen. Pünktlich zum 500-jährigen Jubiläum des Reinheitsgebots begann 2016 an der Technischen Universität München also unsere Mission, die molekularen Fingerabdrücke der Biere zu decodieren. Das dabei eingesetzte Massenspektrometer begnügt sich schon mit einem tausendstel Tropfen des Hopfengetränks!
Mithilfe des FT-ICR-MS ist es uns möglich, die Masse von Molekülen äußerst akkurat zu bestimmen. Das Prinzip ist simpel: je schneller die Moleküle sich auf einer Kreisbahn bewegen, desto leichter müssen sie sein. Der Messfehler ist dabei so klein, dass jedem Signal nur eine einzige Kombination aus Atomgewichten zugrunde liegen kann. Nur zehn Minuten dauert es, und wir kennen die atomare Zusammensetzung eines jeden Moleküls unseres Lebensmittels. Ging es der Forschung der letzten Jahrzehnte im Wesentlichen darum, vordefinierte Verbindungen zu quantifizieren („targeted analysis“), so gestattet unser Ansatz einen Blick auf die gesamte Diversität kleinster Moleküle („non-targeted analysis“). Noch unbekannte Inhaltsstoffe des köstlichen Molekülmixes sollen nicht länger vorschnell ignoriert werden. Die statistische Datenauswertung dieses Gesamtbildes weist uns schließlich auf spezifische Fingerabdrücke für bestimmte Zutaten und Produktionsweisen hin. Auch die ermittelte atomare Zusammensetzung der Moleküle nutzen wir geschickt. Ihre Summenformeln spiegeln biochemische Verwandtschaftsbeziehungen wider. Eine Oxidierung sorgt für „+O“, das Anfügen einer Glucoseeinheit für „+C6H10O5“. Auf diese Weise spannen sich molekulare Netzwerke verwandter Moleküle auf. Über diese Pfade führt uns die analytische Reise durch die molekulare Welt des Brauens von der modernen Überwachung des Reinheitsgebots bis zurück zur Brauweise der Deutschen Kaiserzeit.

Es lässt aufhorchen, es wirkt zunächst alarmierend: Wir konnten mehr als 10.000 unterschiedliche Moleküle im Bier nachweisen! Doch gerade diese Vielzahl hilft uns, die Brauweise eines Bieres nachzuvollziehen. Auf dem internationalen Markt wird zuhauf mit kostengünstigem Mais und Reis gebraut. Die traditionelle deutsche Brauweise lehnt diese Stärkequellen und den damit erforderlichen Einsatz von zugesetzten Enzymen ab. Unser analytischer Blick zeigt, dass sich Reinheitsgebot-konforme Biere auch molekular von denjenigen unterscheiden, die zusätzlich Mais oder Reis enthalten: Es sind die Verbindungen des Sekundärstoffwechsels der Pflanzen, die im fertigen Bier als spezifische Signatur wiedergefunden werden können. Diese reichen von antimikrobiellen pflanzlichen Abwehrstoffen über die Wachstumsregulatoren bis zu Phytohormonen. Die vollumfänglichen molekularen Signaturen versprechen also, Betrugsversuche aufdecken zu können.

Findet der Brauprozess nach dem Reinheitsgebot statt, belässt man es nebst Hopfen und Wasser bei der Gerste. Im ersten Schritt wird diese vermälzt. Die hohen Temperaturen beim Mälzen führen dabei zur sogenannten Maillard-Reaktion. Aus unserem Alltag nicht wegzudenken, sorgt diese auch für das betörende Aroma des Röstkaffees, gibt dem Grillfleisch Farbe und Geschmack und veredelt unseren Ofenkäse. Es handelt sich dabei nicht um eine einzelne definierte Reaktion, sondern um ein großes Reaktionsnetzwerk, das die chemische Interaktion von Aminosäuren mit Zuckern beschreibt. Die prinzipiellen Mechanismen sind gut erforscht. Die schiere Vielfalt an Molekülen hingegen, die während dieses Prozesses entstehen, verbirgt sich tief im molekularen Fingerabdruck der Lebensmittel. Selbst im Bier, das von natürlichen Zutaten und Prozessen geprägt ist, verstecken sich über 3.000 Moleküle, die diesem chemischen Reaktionsnetzwerk entspringen. Ihr atomarer Aufbau teilt sich eine intrinsische Natur, die den Regeln Maillards folgt: Viele bekannte Teilschritte der Maillard-Reaktion führen in ihrer Gesamtheit zu komplexen Veränderungen. Diesen Prozess, der den malzigen Charakter des Bieres prägt, können wir nun auf molekularer Ebene beschrieben. Die Grundlagenforschung dieser bedeutenden Reaktionskaskade profitiert von unserem holistischen analytischen Blick.
Zum besonderen Protagonisten unserer Studien sollte ein archäologischer Fund avancieren. Ein hopfiger Zeitzeuge der Deutschen Kaiserzeit, gefunden im westfälischen Lübbecke und auf das Jahr 1885 datiert, wird Einblicke in eine längst vergangene Zeit gewähren. Eng verknüpft mit der Brauforschung setzten damals die Pioniere Louis Pasteur und Carl v. Linde mit der Mikrobiologie und der Kältemaschine die ersten Grundbausteine für die moderne Lebensmittelhygiene und industrielle Lebensmittelproduktion.

Eine FT-ICR-MS Analyse des historischen Bieres und der forensische Abgleich mit molekularen Fingerabdrücken moderner Vergleichsbiere gibt Einblick in seine historische Brauweise. Das Bier wurde seinerzeit nach dem Reinheitsgebot gebraut, Spuren von anderen Getreidesorten als Gerste sind nicht erkennbar. Die Anwesenheit von Niacin (Vitamin B3) weist auf eine technologisch ungenügende Entfernung des Gerstenkeimlings hin. Unsere Maillard-Forschung sollte sich nur bedingt auszahlen: Die Braugerste wurde anschließend bei niedrigen Temperaturen gedarrt. Das Bier anzusäuern, um die Enzymaktivität zu optimieren, ist eine brautechnische Feinheit, die offenbar noch nicht erprobt war. Fortschrittlicher zeigte sich der Gärkeller, in dem die erst kürzlich erfundene Kältemaschine Lindes zum Einsatz kam. Von den untergärigen Brauhefen, die auf diesen Umstand hinweisen, verblieben lediglich molekulare Abdrücke; denn selbst für das mikroskopische Auge waren keinerlei Mikroorganismen mehr erkennbar. Wenngleich der verkorkte, verdrahtete und versiegelte Flascheninhalt unwahrscheinlich gut erhalten blieb, der Zahn der Zeit ist nicht spurlos an diesem „Jahrzehnte laufenden Minilabor“ vorbeigegangen: Die typischen Inhaltsstoffe des Hopfens wichen hunderten unerforschten, oxidierten Verbindungen. Seinem Alter zum Trotz hat das kaiserliche Bier den Connaisseur Dr. Martin Zarnkow von der Brau- und Lebensmittelqualität Weihenstephan überzeugt: Mit vollmundigen 4 Vol.-% Alkohol sei es „sehr ausgewogen und harmonisch, mit einer angenehmen Bittere, einem erfrischenden Säurecharakter und Sherry-artigen Dörrobstnoten“.
Auch in unserer heutigen Zeit und gerade mit dem stetig steigenden Maßstab der Lebensmittelproduktion ist die tiefgreifende molekulare Analyse unserer Nahrungsmittel von entscheidender Bedeutung. Einen Ausblick auf die Zukunft gibt der Wissenschaftsjournalist Lars Fischer: Die sich im Zuge des Klimawandels ändernden Versorgungsstrukturen und neue Ernährungsgewohnheiten bedürfen einer umfassenden analytischen Begleitung. Der molekulare Blick auf unsere Lebensmittel wird es ermöglichen, neue Prozesse zu entwickeln und die Qualität unserer Lebensmittel und der Agrikultur auch weiterhin zu gewährleisten.
Stefan Pieczonka studierte Lebensmittelchemie an der Technischen Universität München (TUM). Während seiner Promotionszeit am Lehrstuhl für Analytische Lebensmittelchemie spezialisierte er sich auf die Analyse kleiner Moleküle (Metabolomics). Mit dem Forschungsschwerpunkt seiner Thesis, die umfassende molekulare Charakterisierung von Bier, war er nicht nur ein gerne gesehenen Gast auf den gemeinsamen Sommerfeiern. Auch die deutsche Wissenschaftslandschaft machte er mit seiner innovativen Arbeit auf sich aufmerksam. Angetrieben von verschiedenen Auszeichnungen geht er seit 2022 als Post-Doktorand den nächsten Schritte einer möglichen akademischen Laufbahn nach.