Schrödingers Katze entkommt

Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2020 in der Kategorie Chemie veranschaulichte Tim Schleif, was er in seiner Promotion erforscht hat.


Den bizarren Gesetzen der Quantenmechanik müssen sich selbst schwere Atome beugen

Kaum ein anderes Konzept der naturwissenschaftlichen Forschung hat die Popkultur so durchdrungen wie Schrödingers Katze: So erzählte z. B. The Big Bang Theory, wie Erwin Schrödinger (als Gedankenexperiment!) seine Katze in eine Box sperrte und ihr Ableben darstellte als Überlagerung der zwei möglichen Zustände lebendig und tot. Welchen dieser beiden dramatisch unterschiedlichen Ausgänge das Experiment nimmt, wäre dabei abhängig vom vollkommen zufälligen quantenmechanischen Zerfall eines Atoms, das dann zur Freisetzung eines tödlichen Gases führen würde – ohne die Kiste zu öffnen, ist es unmöglich zu wissen, welches Ende der Versuch genommen hat. Viele witzelten auch bereits, dass, unabhängig vom ursprünglichen Ausgang dieses Gedankenexperiments, die Katze nach 70 Jahren im Exil ihrer Metallkiste nun aber definitiv verhungert sein müsse. Doch was ist, wenn dieselbe bizarre Logik der Quantenmechanik, die die berühmte Katze zu einem Leben im Schattenreich verdammt, ihr gleichzeitig auch die – zugegebenermaßen mikroskopisch kleine – Chance gibt, die hermetisch verschlossene Box zu verlassen?

Dies wäre dann das Resultat des sogenannten (quantenmechanischen) Tunneleffekts, bei dem Teilchen eine Barriere (hier z.B. aus Metall) wie von Geisterhand durchdringen können. Allerdings nimmt die Wahrscheinlichkeit für diesen Prozess mit zunehmender Masse rapide ab, was erklärt, warum wir im alltäglichen Leben nie mit teleportierenden Katzen konfrontiert werden. Das Tunneln sehr kleiner Partikel wie Elektronen oder Protonen wird in der Forschung und Technik längst gewinnbringend eingesetzt, zum Beispiel im Flashspeicher eines USB-Sticks. Jedoch konnte der Tunneleffekt für deutlich schwerere Partikel wie Kohlenstoff (circa zwölfmal schwerer als ein Proton) bisher nur in vereinzelten Fällen beobachtet werden. Dennoch sagen zahlreiche theoretische Studien vorher, dass der Tunneleffekt viele, wenn nicht gar alle chemischen Reaktionen beschleunigt, denn er ermöglicht es, die dabei zu überwindenden Energiebarrieren einfach zu durchstoßen, statt sie mühsam erklettern zu müssen.

Eine dieser Vorhersagen durch das Team von Weston Thatcher Borden aus Texas betraf das recht exotische Molekül Semibullvalen. Schon der Namensbestandteil „bull“, ungewöhnlich selbst für die ansonsten an merkwürdigen Namen nicht gerade arme Chemie, besitzt eine bizarre Entstehungsgeschichte. So soll er einer Anekdote zufolge auf den respektlosen Zwischenruf eines unbeeindruckten Doktoranden zurückgehen, als sein Doktorvater diese Substanz in einem Gruppenseminar vorstellte („Bulls***!“). Dieses nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff bestehende, ungefähr zeltförmige Molekül hat in den vergangenen fünf Jahrzehnten zahllose Chemiker fasziniert, denn es kann eine Reaktion eingehen, bei der es sich schnell in sein eigenes Spiegelbild überführt. Dass die Barriere, die das Molekül von seinem Spiegelbild trennt, dabei nur sehr niedrig und dünn ist, macht es zu einem exzellenten Kandidaten für den experimentellen Nachweis eines Kohlenstofftunnelprozesses.

 

 

Wie ein eingesperrter Maulwurf sieht auch Semibullvalen nur noch eine Möglichkeit zur Flucht aus dem Gefängnis: Tunneln!

 

Wie aber sperrt man nun ein organisches Molekül in eine Box und wie stellt man fest, dass es diese tunnelnd verlässt? Ähnlich zu dem Gedankenexperiment mit Schrödingers berühmten Haustier muss sichergestellt werden, dass die Höhe der Barriere (Metallkiste) genügt, um von unserem Molekül (Katze) nicht so einfach durch Wärmeenergie (einen beherzten Sprung) überwunden zu werden. Das kann sichergestellt werden, indem das Molekül bis auf -270 Grad Celsius abgekühlt wird, also 3 Grad oberhalb des absoluten Nullpunkts des Universums. Aufgrund der mangelnden thermischen Energie bei dieser Eiseskälte können die meisten Reaktionen die dazugehörigen Energiebarrieren nicht mehr erklimmen und müssen sie, wenn möglich, per Tunneln umgehen.

Auch wenn eine Abkühlung auf derart niedrige Temperaturen zunächst technisch anspruchsvoll klingen mag, gehört sie doch bereits seit Jahrzehnten zum routinemäßigen Repertoire physikalischer Chemiker wie der unserer Arbeitsgruppe um Professor Wolfram Sander. Die zweite Frage nach der Beobachtung des Tunnelprozesses in Semibullvalen hingegen erscheint selbst Experten auf diesem Fachgebiet wesentlich schwieriger. Wie oben erklärt wird das Molekül während der Reaktion zu seinem Spiegelbild umgesetzt, d. h. netto verändert es sich nicht. Um zu Schrödingers Metapher der eingesperrten Katze zurückzukehren, verhält es sich etwa so, als ob die Kiste für uns unsichtbar wäre und wir dennoch erkennen sollen, ob die Katze sich nun innerhalb oder außerhalb derselben befände.

 

Man sieht es ihr nicht an, aber im Inneren dieser Apparatur herrschen Bedingungen wie vor den Türen der International Space Station.

 

Doch Professor Borden empfahl für das Experiment einen genialen Trick: Was wäre, wenn wir das Molekül an einer bestimmten Stelle markieren würden, um diese Ununterscheidbarkeit von Ausgangs- und Endpunkt der Reaktion zu umgehen? Analog hieße das, der Katze die Pfote so einzufärben, dass z.B. in der Kiste die rechte Pfote blau erschiene, nach dem erfolgreichen Tunneln jedoch die linke. Natürlich beinhaltet dies in der Chemie weniger das Schwingen des Farbpinsels als wochenlange mühsame Synthese einer sogenannten isotopenmarkierten Variante des Moleküls, aber das Prinzip ist dennoch dasselbe.

Wenn wir nun das markierte Semibullvalen bei sehr tiefen Temperaturen eingefroren haben und feststellen möchten, ob die vorhergesagte Tunnelreaktion tatsächlich stattfindet, müssen wir eine Methode besitzen, das System gezielt nach dem Ablauf dieser Umlagerung zu befragen. Diese Möglichkeit bietet die Infrarotspektroskopie, ein Klassiker unter den physikalischen Analyseverfahren, der sich seit mehr als 100 Jahren in zahllosen Studien bewährt hat. Infrarotlicht begegnet uns im Alltag meist in Form von Wärmestrahlung, wie sie zur Behandlung von Rückenschmerzen oder aber zum Nachweis der mangelhaften Isolierung von Wohnhäusern eingesetzt wird. Diese Effekte beruhen darauf, dass ein Molekül Infrarotstrahlung aufnehmen und in Schwingungen zwischen den einzelnen Atomen investieren kann. Da bestimmte Atomgruppen innerhalb des Moleküls unterschiedliche Anteile des Infrarotlichts aufnehmen, kann ein Chemiker sich dies zur Charakterisierung von Molekülen zu Nutze machen. Er bestrahlt dazu schlicht mit einem Infrarot-Laser die zu untersuchenden Moleküle und misst dann, welche Teile des eingestrahlten Lichts nun fehlen und somit von der Probe zur Anregung spezieller Schwingungen verwendet wurden. 

Wir können nun also per Infrarot unser Semibullvalen befragen, wo sich die von uns eingeführte Markierung gerade befindet, und daraus ableiten, ob die vorhergesagte Tunnelreaktion eingetroffen ist. In der Tat können wir so feststellen, dass mit der Zeit Schwingungen, die wir dem ursprünglich ausgefrorenen Molekül zuordnen, abnehmen, während die entsprechenden Schwingungen des Spiegelbilds zunehmen. Dies entspricht der Vorhersage von Professor Borden und stellt somit ein erstes Indiz für diese von ihm prophezeite Tunnelreaktion dar. Ein weiterer Beweis ergibt sich daraus, dass die Reaktion selbst bei einer drastischen Erhöhung der Temperatur nicht merklich schneller wird. Würde bei dieser Umwandlung hingegen die Energiebarriere tatsächlich durch Wärmeenergie erklommen werden, sollte die Reaktionsgeschwindigkeit bei solch einem Temperaturanstieg durch die Decke gehen.

Alles in allem ist es uns also gelungen, mit dem genialen Trick von Professor Borden eine ansonsten unsichtbare Reaktion sichtbar zu machen und nachzuweisen, dass diese bei sehr niedrigen Temperaturen durch den Tunneleffekt erst ermöglicht wird. Natürlich konnten wir so zunächst einmal unsere allgemeine wissenschaftliche Neugierde befriedigen und einer bisher noch sehr kurzen Liste von gerade einmal einem Dutzend Beispielen für Kohlenstofftunneln einen weiteren Eintrag hinzufügen. Allerdings haben diese fundamentalen Forschungsergebnisse durchaus auch eine größere Signalwirkung: Chemiker werden durch Studien wie diese immer stärker dafür sensibilisiert, selbst in vermeintlich trivialen Reaktionen die exotischen Phänomene der Quantenmechanik nicht zu vernachlässigen. Denn immer mehr deutet daraufhin, dass tatsächlich jede chemische Reaktion zu einem gewissen Maß vom Tunneleffekt beschleunigt wird. Damit entkommt der Tunneleffekt wie Schrödingers berühmtes Haustier dem Gefängnis rein akademischer Forschung und sollte von jedem Chemiker beim Planen seiner Reaktionspfade im Hinterkopf behalten werden.

 


Tim Schleif, 1989 im münsterländischen Vreden geboren, studierte Chemie an der Ruhr-Universität Bochum. Dort promovierte er auch 2019 am Lehrstuhl für Organische Chemie mit dem Thema „Investigating quantum mechanical tunneling in semibullvalenes and reactive intermediates by matrix isolation“. Derzeit arbeitet er als Postdoktorand an der Yale University.

 

15 Kommentare

  1. Hallo
    Die von der Infrarotstrahlung eingebrachte Wärme hat keinen Einfluss auf die eingefrorenen Moleküle?
    Vor diesem Gesichtspunkt schiene es nicht verwunderlich, dass die Temperatur der Moleküle vor der Messung nur eine kleine Rolle spielt. Wenn doch ein Großteil der Energie zum “Tunneln” aus der Infrarotstrahlung stammt?
    Freundliche Grüße

    • Hallo Jonas,

      die Infrarotstrahlung des Lasers ist vernachlässigbar klein, der Durchmesser der bestrahlten Fläche ist kleiner als ein Stecknadelkopf. Man kann tatsächlich auch während des Experiments beobachten, dass die Temperatur während des Messens mit dem Laser minimal ansteigt, allerdings weniger als 0.1°C.
      Du hast allerdings Recht, dass die Messung selbst natürlich nicht störungsfrei ist: Um das Molekül zu beobachten, wird es bestrahlt, daher kann ein Einfluss der Strahlung nur schwer ausgeschlossen werden. Meine Kollegen und ich haben dieses Problem adressiert, indem wir die Probe in der Apparatur über Nacht vollkommen abgedunkelt haben stehen lassen und nach etlichen Stunden nur sehr kurze Messungen von wenigen Minuten durchgeführt haben. Auch die Verwendung von Filtern, die oberhalb gewisser Energien (Wellenlängen/Frequenzen) jegliche Bestrahlung unterbinden, hat die Beobachtung des Ablaufs der Reaktion und ihrer Geschwindigkeit nicht verändert. Insgesamt sind wir daher relativ sicher, dass die Messung ohne Einfluss von Licht und Wärme, eben ausschließlich durch Tunneln verläuft.
      Mit freundlichen Grüßen,

      Tim

      • Hallo Tim,

        vielen Dank. Das wurde in dem Artikel nicht ganz klar. Damit bekommt der Tunneleffekt tatsächlich eine hervorgehobene Stellung.
        Freundliche Grüße

  2. Zitat:

    Damit entkommt der Tunneleffekt wie Schrödingers berühmtes Haustier dem Gefängnis rein akademischer Forschung und sollte von jedem Chemiker beim Planen seiner Reaktionspfade im Hinterkopf behalten werden.

    Ja. Der Quantentunneleffekt bei extrem tiefen Temperaturen spielt natürlich eine grosse Rolle bei chemischen Reaktionen im Weltraum, beispielsweise in Gasaansammlungen dort – also in sogenannten „astronomischen Nebeln“.

    Im Artikel Quantum Tunneling Allows “Impossible” Chemical Reactions to Occur in Space liest man dazu (übersetzt von google translate):

    Ein Team der University of Leeds, Großbritannien, stellte die kalte Umgebung des Weltraums im Labor nach und beobachtete eine Reaktion des Alkohols Methanol und einer oxidierenden Chemikalie namens „Hydroxylradikal“ bei minus 210 Grad Celsius. Sie fanden heraus, dass diese Gase bei solch einer unglaublich kalten Temperatur nicht nur zu Methoxyradikalen reagieren, sondern dass die Reaktionsgeschwindigkeit 50-mal schneller ist als bei Raumtemperatur.

    Sie fanden auch heraus, dass diese schneller als erwartete Reaktion nur in der Gasphase im Weltraum ablaufen kann, dass ein Produkt gebildet wird (CH3O) – und dass es sich nur über ein Phänomen bilden kann, das sie „Quantentunneln“ nennen.

    (rhetorische) Frage: Kann ein Chemiker Quantentunneleffekte beim Planen seiner Reaktionspfade im Hinterkopf behalten oder werden künftig Reaktionspfade von darauf spezialisierten KI-Programmen oder gar von Quantencomputern berechnet?

    • Hallo Herr Holzherr,

      vielen Dank für Ihr Interesse und den Link zu dem informativen Pressebericht, den Sie geteilt haben! Ein Kollege von mir an der Yale University arbeitet tatsächlich grad an einem ähnlichen Projekt, das sich mit der Beschleunigung interstellarer Reaktionen durch Tunneln beschäftigt.
      Zu Ihrer (gar nicht so rhetorischen) Frage: Viele experimentelle und theoretische Chemiker setzen sich grad dafür ein, das Bewusstsein synthetischer Chemiker fürs Tunneln zu stärken. Es ist ein Nischeneffekt, der unter Laborbedingungen oft vernachlässigt werden kann, jedoch deshalb umso unerwarteter zuschlägt! Ein befreundeter Wissenschaftler aus Israel z. B. hat zig Moleküle gefunden, für die bereits Syntheseversuche unternommen wurden, die aber aufgrund des Tunneleffekts niemals gelingen werden: Die gewünschten Moleküle sind von so dünnen Barrieren umgeben, dass sie selbst bei “0 Kelvin” stets per Tunneln zerfallen!
      (Für den interessierten Leser: Viele der Größen dieses kleinen Forschungsfelds wurden für einen allgemein verständlichen Artikel zur Bedeutung des Tunnelns interviewt, zu finden unter https://www.chemistryworld.com/news/call-for-chemists-to-stop-ignoring-quantum-tunnelling/3008527.article)
      Mit freundlichen Grüßen,

      Tim

  3. Frage :

    Hat das sogenannte Doppelspaltexperiment erstmals Hinweis auf den sogenannten Tunneleffekt gegeben?

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

    • Hallo Dr. Webbaer,

      die mathematisch/physikalische exakte Analyse des Doppelspaltexperiments können Sie der Antwort von Herrn Wappler unten entnehmen, ich möchte hier nur eine allgemeinere Perspektive dazu ergänzen:
      Die Entwicklung der Quantenmechanik hat sich aus vielen einzelnen, in ihrer Methodik auch sehr verschiedenen Experimenten gespeist. Das von Ihnen erwähnte Experiment wurde ursprünglich von Thomas Young 1801 durchgeführt (und betrifft das Tunneln eigentlich eher am Rande), während die Quantenmechanik sich erst gegen 1925 als zusammenhängende Theorie herauskristallisierte. Der Tunneleffekt selbst wurde in den 1920ern von Friedrich Hundt und George Gamow theoretisch hergeleitet und erklärte so im Nachhinein einige experimentelle Ergebnisse zum Alpha-Zerfall von Atomkernen.
      Kurz gesagt: Die Entdeckung naturwissenschaftlicher Phänomene lässt sich selten an einzelnen Experimenten, Ereignissen oder Personen festmachen, da viele Forscher und Ideen sich gegenseitig inspirieren und zu neuen Experimenten und deren theoretischer Betrachtung anstacheln. Und in kaum einem anderen Feld wird das so deutlich wie der Quantenmechanik, in der zahllose berühmte Physiker (und Chemiker) mitgewirkt haben und es nach wie vor tun.
      Mit freundlichen Grüßen,

      Tim Schleif

  4. Tim Schleif schrieb (09. Sep 2021):
    > […] wie Erwin Schrödinger (als Gedankenexperiment!) seine Katze in eine Box sperrte und ihr Ableben darstellte als Überlagerung der zwei möglichen Zustände lebendig und tot.

    Dem ist entgegenzusetzen, wie Erwin Schrödinger (als Gedankenexperiment!) seine Katze in eine Box sperrte und ihr darin-eingesperrt-Sein darstellte als Überlagerung der zwei möglichen Zustände: lebendig und tot.

    Ergänzend ist zu bemerken, dass sich der zum dauerhaften in-der-Box-eingesperrt-Sein orthogonale Zustand der Katze, nämlich ihr dauerhaftes aus-der-Box-ausgesperrt-Bleiben, ebenfalls als Überlagerung (Linearkombination mit i.A. komplexen Koeffizienten) ihrer zwei orthogonalen möglichen Zustände lebendig und tot darstellen lässt.

    Der dauerhafte lebendige-Katzen-Zustand lässt sich wiederum als Überlagerung der Zustände in-der-Box-befindlich und außerhalb-der-Box auffassen (eine lebendige Katze würde z.B. die Box bzw. das Zuhause ihres Personals mehr oder weniger regelmäßig zur Nahrungsaufnahme aufsuchen, aber aus reiner Katzen-Lebens-Lust auch regelmäßig wieder verlassen);

    und der dazu orthogonale dauerhafte tote-Katzen-Zustand lässt sich ebenfalls als Überlagerung der Zustände in-der-Box-befindlich und außerhalb-der-Box auffassen (die Katze ließe sich z.B. widerstandslos neben die Mülltonne legen, aber auch durch den Breifkastenschlitz zurück ins Haus stopfen).

    > […] der Tunneleffekt […] ermöglicht es, die dabei [bei chemischen Reaktionen] zu überwindenden Energiebarrieren einfach zu durchstoßen, statt sie mühsam erklettern zu müssen.

    Der Tunneleffekt (s. z.B. WP:Tunneleffekt#Tunneleffekt_am_Beispiel_des_Kastenpotentials) besagt, dass daraus, welche Zustände mit welcher Wahrscheinlichkeit bzw. mit welchen Übergangsraten “eingenommen werden”, die Verteilung von potentieller Energie bzw. “des Potentials bestimmter Zustände” ermittelt werden kann; und zwar insbesondere sogar von solchen Zuständen, die gar nicht eigentlich/dauerhaft “eingenommen werden”.

  5. Dr. Webbaer fragte (09.09.2021, 17:59 Uhr):
    > Hat das sogenannte Doppelspaltexperiment erstmals Hinweis auf den sogenannten Tunneleffekt gegeben?

    Das sogenannte Doppelspaltexperiment ist ja eigentlich ein Experiment zur Feststellung der Anzahl, Größe, Form und Verteilung von eventuell “vonhandenen” Potential-“SChlitzen” (-“Öffnungen”, -“Kanälen”, o.Ä.) zwischen einer (i.A. punktförmigen, nur “an”-oder-“aus” analysierenden) Signalquelle und einem Empfänger, der geeignet strukturiert bzw. segmentiert bzw. ausgedehnt ist, um den Signal-Transfer detailreich zu analysieren.

    Weil (bzw. sofern) sich der Tunneleffekt mit der Feststellung der Verteilung von Potential-“Bergen” (-“Wänden”, -“Hüllen”, …) befasst, kann man das Doppelspaltexperiment und den Tunneleffekt als sich ergänzende Extremfälle von Resultaten der selben Messmethodik auffassen.

    In diesem Sinne kurz: Ja.

  6. Martin Holzherr schrieb (09.09.2021, 15:29 Uhr):
    > […] Im Artikel Quantum Tunneling Allows “Impossible” Chemical Reactions to Occur in Space [ https://scitechdaily.com/quantum-tunneling-allows-impossible-chemical-reactions-occur-space/ ] liest man dazu (übersetzt von google translate):

    Ein Team der University of Leeds, Großbritannien, stellte die kalte Umgebung des Weltraums im Labor nach und beobachtete eine Reaktion des Alkohols Methanol und einer oxidierenden Chemikalie namens „Hydroxylradikal“ bei minus 210 Grad Celsius. Sie fanden heraus, dass diese Gase bei solch einer unglaublich kalten Temperatur nicht nur zu Methoxyradikalen reagieren, sondern dass die Reaktionsgeschwindigkeit 50-mal schneller ist als bei Raumtemperatur. […]

    Dieser Textabschnitt ist zwar ganz ordentlich übersetzt (von google translate), aber dennoch mehr oder weniger auffällig schlecht lektoriert (von google translate und/oder von Martin Holzherr), denn:

    Im Abstract des im o.g. Artikel wiederum verlinkten Forschungsberichtes Accelerated chemistry in the reaction between the hydroxyl radical and methanol at interstellar temperatures facilitated by tunnelling liest man ja stattdessen:

    […] Here we show that, despite the presence of a barrier, the rate coefficient for the reaction between the hydroxyl radical (OH) and methanol — one of the most abundant organic molecules in space — is almost two orders of magnitude larger at 63 K than previously measured at approx. 200 K. [ Hervorhebung FW. ]

  7. Vielen Dank für Ihre Antwort, Herr Dr. Frank Wappler, fällt Ihnen vielleicht noch etwas zur nun folgenden Bonusfrage des Schreibers dieser Zeilen ein, die lautet :

    Sind die physikalischen Versuche inklusive Theoretisierungen des hier gemeinten Hominiden grundsätzlich als Näherungen zu verstehen derart, dass das “Weltsystem”, wie die Natur genannt werden könnte, auch auf Anforderungen – die gezielte nähere Beobachtungen sein könnten, wenn bspw. genau geguckt wird vom Beobachter, wie bspw. Teilchen, die Photonen sein könnten, ihren Weg finden – reagiert?

    Variante :

    Welche Meinung haben Sie zur Rolle des Beobachters, die ja zumindest in Teilen eine Art “Anforderungs-Universum” bedeutet?

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

  8. @Jonas
    Die von der Infrarotstrahlung eingebrachte Wärme hat keinen Einfluss auf die eingefrorenen Moleküle?

    Physikalisch gibt es keine “Wärme”, es gibt nur eine durch Absorption der elektromagnetischen Strahlung erhöhte Schwingungsenergie der Moleküle, was denselben Effekt hätte. Bei der (aktiven) Messung mit IR geht es um nachträgliche Einbringung von Energie, also erst nach erfolgter Reaktion bzw. chemischem Prozess, so dass die Energie der Messung auf den Prozess selber keinen Einfluss haben kann.

    • Hallo Herr Reutlinger,

      Wärme gibt es durchaus als physikalische Größe (s. erster Hauptsatz der Thermodynamik), aber Sie haben natürlich vollkommen Recht, dass es für ein einzelnes Molekül umgeben von festem Argon ein schwer greifbares Konzept ist. Der Grund, warum IR-Strahlung selbst eine so gut thermisch isolierte Apparatur wie unsere erwärmen kann, ist folgender: Wie Sie ja schon festgehalten haben, regt IR-Licht Schwingungen im Molekül an. Diese Schwingungen koppeln mit den Schwingungen des Gitters aus Argonatomen, bildlich gesprochen stupst das Molekül die Atome also an. Wir erhöhen so letztlich die (Wärme-)Energie unseres Systems, was der Temperatursensor in der Apparatur als (sehr kleinen) Temperaturanstieg interpretiert.
      Beim Konzept der “nachträglichen” Messung wäre ich vorsichtig, wie ich Jonas oben erklärte: Messungen sind nie störungsfrei, daher muss man sich sehr genau überlegen, wie auszuschließen ist, dass die eigene Messung das System beeinflusst – insbesondere wenn man z. B. WÄHREND der Reaktion nonstop mit dem Spektrometer bestrahlt. Es ist tatsächlich auch bekannt, dass man manche Tunnelprozesse oder auch chemische Reaktionen mit IR-Bestrahlung beschleunigen kann. Die exakte physikalische Begründung, warum das funktioniert, ist jedoch vom Einzelfall abhängig und recht komplex, weshalb ich das hier nicht näher ausführen möchte.
      Vielen Dank aber für Ihre Diskussionsanregung! Jonas und Sie haben ziemlich genau die Fragen aufgeworfen, die meine Kollegen und mich auch während des Experiments intensiv beschäftigt haben!
      Mit freundlichen Grüßen,

      Tim Schleif

  9. Allerdings haben diese fundamentalen Forschungsergebnisse durchaus auch eine größere Signalwirkung: Chemiker werden durch Studien wie diese immer stärker dafür sensibilisiert, selbst in vermeintlich trivialen Reaktionen die exotischen Phänomene der Quantenmechanik nicht zu vernachlässigen. Denn immer mehr deutet daraufhin, dass tatsächlich jede chemische Reaktion zu einem gewissen Maß vom Tunneleffekt beschleunigt wird.

    Eine solche Aussage wird manche Leute dazu anregen, das Problem des Bewusstseins und anderer rätselhafter Phänomene damit zu erklären. Die Quantenphysik ist selbstverständlich schon immer vorhanden und allgegenwärtig, deshalb ist sie in den bekannten Naturgesetzen implizit schon enthalten.

    Die beschriebenen Experimente machen es möglich, die Effekte der klassischen Physik von Effekten der Quantenphysik zu unterscheiden oder zu trennen und die Naturgesetze zu präzisieren, z.B. indem der Einfluss der Temperatur auf (bio)chemische Reaktionen deutlicher wird.

    • Hallo Herr Reutlinger,

      auch hier treffen Sie wieder einen wunden Punkt, mit dem ich mich auch viel beschäftigt habe: Das Potenzial der bewusst oder unbewusst falsch interpretierten Quantenmechanik zur Schwurbelei (salopp gesagt). Ich habe versucht, bewusst die Chemiker (und natürlich auch Physiker) als Adressaten solcher experimenteller Studien zu nennen. Das breite Publikum ist, wie auch schön in diesem Blog zu sehen, häufig von der bizarren Natur der Quantenmechanik fasziniert (vielen Dank hier deshalb auch allen, die Diskussionbeiträge geliefert haben und liefern!).
      Aber die Diskussion dieser durch Laien (zu denen ich mich ehrlich gesagt auch nach Jahren des Studiums noch zählen würde) kann oft zu sehr schwammigen Interpretationen, pseudowissenschaftlichen Anwendungen etc führen. Natürlich sollte bei Erklärungen für z. B. das Bewusstsein NICHT die Quantenmechanik als erstes Erklärungsmodell herangezogen werden, wenn es in dem Zusammenhang überhaupt jemals angemessen wäre. Ich habe selbst so eine Fehlverwendung meiner Studienergebnisse erlebt, als das oben beschriebene Experiment in einem Managementbuch zitiert wurde. Ich mache dem Autor/der Autorin des Buches (das hier daher ungenannt werden soll) keine Vorwürfe: Die Quantenmechanik ist zugleich faszinierend, aber auch sehr mathematisch und komplex. Daher wäre mein allgemeiner Rat (analog zu Ihrem Beitrag), jegliche Interpretation ihrer Effekte im Alltag, in der Psychologie etc mit Vorsicht zu genießen.
      Mit freundlichen Grüßen,

      Tim Schleif

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