Ole fehlt vor Ort? Leben an mehreren Orten
Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2021 in der Kategorie Geowissenschaften veranschaulichte Lena Greinke, was sie in ihrer Promotion erforscht hat.
Ole lebt in Hamburg und Diepholz. Er ist in der freiwilligen Feuerwehr und hat zwei Wohnungen, die er nur zeitweise benutzt. Das Leben an mehreren Orten kann sich auf das Zusammenleben und Orte auswirken. Was passiert, wenn Ole an seinem Zweitwohnsitz ist und es am Erstwohnsitz brennt? Wer löscht, wenn alle vor Ort fehlen?
Es ist wichtig, sich mit dem Leben an mehreren Orten zu beschäftigen, weil dieses Auswirkungen auf das Zusammenleben und die Orte in ländlichen Räumen haben kann. Probleme dieser Lebensweise sind zum Beispiel ein erhöhter Flächenverbrauch durch zwei Wohnungen oder phasenweise Abwesenheiten von Menschen. Die Wahrnehmung und das Bewusstsein für diese Lebensweise sollte geschaffen und geschärft werden, um auf Herausforderungen reagieren zu können. Viele Menschen leben wie Ole an mehreren Orten und haben zum Beispiel zwei Wohnsitze. Insbesondere größere Unternehmen und deren Arbeitsweisen können dafür sorgen, dass Menschen an mehreren Orten leben (müssen). Zum Beispiel entsenden die Unternehmen ihre Beschäftigten für Projektarbeiten an andere, teilweise auch internationale Standorte. Für einen befristeten Zeitraum müssen die Beschäftigten dann zumeist einen weiteren Wohnsitz beziehen, weil die Standorte zu weit auseinanderliegen, um täglich zu pendeln. Die Motive für ein Leben an mehreren Orten unterscheiden sich stark. Es gibt zum Beispiel Menschen, die regelmäßig das Sofa einer Freundin oder einen Campingwagen nutzen. Auch Kinder in Scheidungsfamilien oder Saisonarbeitskräfte übernachten zum Beispiel in mehreren Wohnungen.
Bislang wurden in der Forschung vor allem Städte und das Leben an mehreren Orten untersucht. In meiner Dissertation habe ich mich deshalb mit ländlichen Räumen beschäftigt. Ich gehe davon aus, dass die Lebensweise an mehreren Orten sich auch hier auswirken kann – insbesondere auf das Zusammenleben und die Orte selbst.
Die Untersuchung von berufsbedingtem Leben an mehreren Orten habe ich im niedersächsischen Landkreis Diepholz durchgeführt. Dabei wurden Menschen interviewt, die an mehreren Orten leben und sich deshalb nur zeitweise im Landkreis aufhalten. Viele der Interviewten wohnen woanders und übernachten wie Ole innerhalb der Woche in den ländlichen Räumen, um dort zu arbeiten. Im Landkreis Diepholz gibt es nämlich einige größere Unternehmen, die interessante Tätigkeiten anbieten und somit Beschäftigte anziehen.
Vielfach wird über das Leben an mehreren Orten eher negativ berichtet. Die Menschen fehlen zeitweise vor Ort und können sich zum Beispiel nicht freiwillig engagieren. Wenn es dann brennt, ist niemand vor Ort und kann löschen. Auch im Sportverein sind beispielweise Trainer:innen der Jugend nicht anwesend. Dadurch können Vereine und auch das Zusammenleben vor Ort beeinträchtigt werden. Darüber hinaus verbrauchen die Menschen mit mehreren Unterkünften mehr Wohnfläche. Sie haben zwei oder sogar mehr Wohnungen. Diese Wohnungen können dann zumeist nicht untervermietet werden. Dadurch stehen einige Unterkünfte phasenweise leer.
Ich denke aber, dass das Leben an mehreren Orten auch eine Chance sein kann. Ole könnte sich zum Beispiel als Feuerwehrmann an beiden Orten einbringen. Mit Hilfe einer Doppelmitgliedschaft könnte er im Landkreis Diepholz in der Woche bei Einsätzen unterstützen. Zudem kann er an den Wochenenden in Hamburg helfen. Dieses Potenzial wird oft unterschätzt und nicht genutzt. Hier können Unternehmen und die Kommunen ansetzen und die Chancen identifizieren, die bislang nicht ausgeschöpft werden.
Die Analyse hat gezeigt, dass Menschen, die an mehreren Orten leben, die Standortqualitäten wie Freizeitmöglichkeiten oder Dienstleistungen in ländlichen Räumen schätzen. Inga aus Sangerhausen erzählte mir zum Beispiel, dass sie immer im Landkreis Diepholz zur Kosmetik geht, weil diese günstiger und besser sei. Außerdem erläuterte Klaus aus der Nähe von Dortmund, dass er die Wochenenden gerne mit seiner Familie im Landkreis Diepholz verbringt. In den ländlichen Räumen können sie sich gut entspannen. Sie genießen die Natur und machen gemeinsam Ausflüge. Lediglich die eher kleine Wohnung von Klaus sei dann etwas eng für die ganze Familie. Für ein Wochenende ist das aber auszuhalten. Annette aus der Nähe von Bamberg hat sich deshalb sogar ein kleines Haus im Landkreis Diepholz gekauft, um mehr Platz für Besuch zu haben.
In den Gesprächen im Landkreis Diepholz wurde deutlich, dass sich Herausforderungen für die Menschen ergeben können. Die vielen Ortswechsel sind mitunter sehr stressig. Oftmals muss viel geplant werden, sodass wenig Zeit für Freizeit, Familie oder Freunde bleibt. Allerdings werden die Menschen mit mehreren Wohnungen von ihren Freunden oft beneidet. Inga ergänzte beispielsweise, dass ihre Freunde oft denken sie hätte ein Luxusleben. Jedoch hat sie oft wenig Zeit und bedauert sehr das Unterwegsein.
Von der Lebensweise an mehreren Orten können die Menschen aber auch profitieren. Sie knüpfen Kontakte. Klaus war zum Beispiel schon in der Vergangenheit an anderen Standorten beschäftigt. Dort hat er viele Kolleg:innen kennengelernt. Zu ihnen hat er noch immer Kontakt und tauscht sich regelmäßig beruflich und privat aus. Sein Netzwerk hat er damit erweitert.
Für die Kommunen können die Lebensweisen aber auch Chancen und Herausforderungen bedeuten. Ole ist nur in der Woche im Landkreis Diepholz und hat dort eine kleine Singlewohnung gesucht. Diese gibt es oft in ländlichen Räumen nicht, weil dort eher größere Wohnungen und Häuser gebaut wurden. Er lebt nun in einer viel zu großen 90 m² Wohnung. Der Landkreis könnte hier ansetzen und entsprechend kleinen Wohnraum schaffen. Denkbar sind zum Beispiel auch Servicewohnhäuser. In solchen Unterkünften können flexibel kleinere Wohnungen angemietet werden. Zudem können Services wie Internetzugang oder Putz- und Wachdienst zeitweise gebucht werden. Der Landkreis hätte zwar zunächst Kosten für den (Um-)Bau. Danach könnten sich solche Häuser durch Mieteinnahmen aber auch selbst tragen. Gleichzeitig werden dadurch die Kommunen attraktiver für die Beschäftigten und Touristen, weil ein Übernachtungsangebot geschaffen wird.
In Zukunft bleibt noch offen, wie viele Menschen weiterhin an mehreren Orten leben (müssen). Die Covid-19-Pandemie und auch die Digitalisierung haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen im Homeoffice arbeiten. Das wöchentliche Pendeln war nicht mehr nötig, weil Videokonferenzen den Kontakt aufrechterhalten haben. Allerdings haben die Interviews deutlich gemacht, dass viele Beschäftigte auch regelmäßig vor Ort sein müssen. Ole kann zum Beispiel viel im Homeoffice erledigen, muss aber regelmäßig in den Landkreis Diepholz fahren, um dort die Maschinen zu bedienen. Er wird also seine Lebensweise an mehreren Orten nicht so schnell aufgeben können.
Das Leben an mehreren Orten kann viele Herausforderungen mit sich bringen, aber auch eine Chance sein. Die Wahrnehmung und das Bewusstsein für diese Lebensweise sollte zukünftig geschaffen und geschärft werden, um darauf reagieren zu können. Kommunen und Unternehmen sollten gemeinsam Handlungsoptionen entwickeln und Synergien nutzen. Die Dissertation wurde als siebter Band der Reihe “Ländliche Räume Beiträge zur lokalen und regionalen Entwicklung” des LIT Verlag veröffentlicht: https://www.lit-verlag.de/isbn/978-3-643-14820-9?c=10
Lena Greinke studierte Umweltplanung an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover. Hier promovierte sie auch zu berufsbedingter Multilokalität in ländlichen Räumen Niedersachsens. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre. Zu ihren Schwerpunkten zählen zudem Untersuchungen zu Fragen der Regionalentwicklung, insbesondere der Partizipation sowie der Entwicklung urbaner und ländlicher Räume.