Molekulare Heinzelmännchen unter der Lupe

Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2022 in der Kategorie Chemie veranschaulichte Niko Lindlar, was er in seiner Promotion erforscht hat.


Enzyme sind die Heinzelmännchen der Lebewesen: Nahezu jeder Prozess in biologischen Systemen wird von einem Enzym durchgeführt. Daher sind Enzyme ein wichtiger Gegenstand biochemischer Forschung. Doch was macht man, wenn die Enzyme zu instabil sind? Man baut sich ein Modell!

Die Kinderserie „Es war einmal… das Leben“ war prägend für meine Kindheit. Hier wurden alle möglichen biologischen Prozesse anhand von kleinen Männchen, die für rote Blutkörperchen, Zuckermoleküle oder DNA-Bestandteile stehen, erklärt. Nun ja, im Chemiestudium lernte ich dann, dass das zwar alles etwas anders ist, aber trotzdem blieb mir hier ein ähnliches Bild erhalten: Enzyme sind so etwas sind wie die Heinzelmännchen der Lebewesen. Eben wie die Kölner Sagenwesen verrichten Enzyme alle Arbeiten, die für das Überleben notwendig sind, völlig ungesehen und im Hintergrund. So spaltet das Enzym Invertase sein Substrat, den gewöhnlichen Haushaltszucker, in die Bestandteile Glucose und Fructose, das Enzym Cytochrom P450 ist für den Abbau vieler Arzneimittel verantwortlich und RuBisCO ist für die Aufnahme von CO2 in Pflanzen zuständig. Diese kleinen Helferchen sind also sehr wichtig für jedes biologische System, daher sind sie auch wichtig für BiologInnen und BiochemikerInnen, die durch Untersuchung der Enzyme die Natur besser verstehen wollen!

Hierzu werden die entsprechenden Enzyme oft isoliert, um dann ihre Struktur oder Funktionsweise zu untersuchen. Nun kommt es aber vor, dass Enzyme so kurzlebig oder in Reinform so instabil sind, dass eine solche Untersuchung kaum möglich ist. An dieser Stelle setzt die bioanorganische Chemie an: Um natürliche Enzyme besser zu verstehen werden molekulare, synthetische Modelle, die diesen Enzymen sehr ähnlich sind, genutzt.

Das kann man sich folgendermaßen vorstellen: Ein Enzym ist so etwas wie eine große Fabrikhalle. Außen steht der Name der Fabrik in großen Lettern, damit zum Beispiel Lieferdienste diese sofort identifizieren können, es gibt einen Bereich für Anlieferung und Abholung, etc. In der Fabrikhalle steht jedoch nur eine einzige Werkbank, die im Vergleich zum Rest der Fabrikhalle sehr klein ist. Das ist das aktive Zentrum des Enzyms. Hier findet nun der eigentliche „Arbeitsschritt“, die enzymatische Reaktion, statt. Dazu ist die Werkbank perfekt ausgestattet: Es gibt eine Vorrichtung zum Einspannen des Werkstücks, die passenden Werkzeuge liegen bereit, alle Scharniere sind gut geölt, kurz: Der Prozess ist optimiert. Doch hier entsteht auch schon das Problem in der Untersuchung dieses Enzyms: Der Prozess ist oft so weit optimiert, dass er für unsere Messmethoden zu schnell abläuft. Im konkreten Fall meiner Forschung besteht die aktive Spezies, also der spannendste Zustand des Enzyms, beispielsweise nur für wenige Nanosekunden!

Hier kommt nun ein Teilgebiet der Bioanorganik ins Spiel: Die Untersuchung funktionaler Modelle. Dabei wird versucht, ein synthetisches Modell zu konstruieren, das dem natürlichen Enzym soweit ähnelt, dass die beiden strukturell vergleichbar sind – gleichzeitig muss sich das synthetische Modell vom natürlichen Vorbild auch unterscheiden, es muss schließlich über einen deutlich längeren Zeitraum stabil sein, sonst wäre ja nichts gewonnen! Ist dies alles gegeben, eröffnen sich Möglichkeiten zur (bio)chemischen Untersuchung dieses Modells.

Eine chemische Lavalampe – denn manchmal geht es im Labor nicht nur wissenschaftlich, sondern auch hübsch zu.

Man könnte an dieser Stelle argumentieren, dass das synthetische Modell offensichtlich nicht identisch zum natürlichen Enzym ist und die Messergebnisse daher nicht vergleichbar sind. Nun, da uns die strukturellen Unterschiede zwischen synthetischem Modell und natürlichem Enzym bekannt sind, können wir dennoch vergleichende Analysen anstellen und etwas über das Enzym lernen – aber natürlich ist keine Methode perfekt und es bedarf immer auch weiterer Untersuchungen.

Wenn wir zu unserem Bild Werkbank in der Fabrikhalle zurückkommen, dann ist das korrespondierende synthetische Modell ein einfacher Tisch. Grundsätzlich sehr ähnlich zu einer Werkbank, so kann man auf beiden Dinge abstellen, beide haben vier Beine, etc. Allerdings gibt es auch signifikanten Unterschiede, wie z.B. keine Einspannvorrichtung.

Jetzt zu einer konkreten Anwendung dieses Prinzips in einem von zwei Teilprojekten meiner Doktorarbeit: TET Enzyme spielen eine wichtige Rolle in der Epigenetik, sie helfen hier beispielsweise den Bienen, aus ein und derselben Larve Königinnen oder Arbeiterbienen zu züchten. Diese TET Enzyme sind Gegenstand unserer Forschung. BiochemikerInnen haben festgestellt, dass drei aufeinanderfolgende Reaktionsschritte von TET katalysiert werden. Das ist eher unüblich und führte zu weiteren Studien, in denen man die Geschwindigkeit dieser drei Reaktionsschritte maß. Man stellte fest, dass der erste Schritt deutlich schneller abläuft als der Zweite, der dritte Schritt ist dann nochmal ein Stück langsamer. Diese Abfolge der Reaktionsgeschwindigkeiten korreliert gut mit den biologischen Notwendigkeiten (es gibt viel vom ersten Substrat, mittelmäßig viel vom zweiten Substrat und wenig vom dritten Substrat). Allerdings haben theoretische Berechnungen des Reaktionsmechanismus gezeigt, dass eigentlich der zweite Schritt der schnellste sein sollte. Genau an dieser Diskrepanz zwischen theoretischer Berechnung und biochemischer Beobachtung setzte nun meine Dissertation an: Durch die Verwendung eines funktionalen Modells wollten wir genau bestimmen, welche Faktoren im Enzym für die Steuerung der Reaktion verantwortlich sind.

Dieses funktionale Modell ist dann eben wie eine primitive Werkbank: Es gibt zwar keine Einspannvorrichtungen, passende Werkzeuge sind allerdings vorhanden. Auch benutzten wir für das natürliche Substrat ein Modell – in der Natur handelt es sich um DNA, diese ist jedoch für unser einfaches Setup zu kompliziert. Daher verwendeten wir als Substrat-Modell nur Bausteine von DNA.

Unter dieser Prämisse führten wir also unsere Studien, bestehend aus funktionalem Enzym-Modell und Substrat-Modell, durch. Und siehe da, unsere Messungen stehen im Gegensatz zu dem natürlichen Trend. Wie auch schon bei den theoretischen Berechnungen ist der zweite Schritt schneller als der Erste!

Diese Beobachtung fügt sich allerdings perfekt in das bisherige Verständnis der untersuchten Enzyme, denn wir können nun sagen: Die Einspannvorrichtung der Enzyme ist verantwortlich für die Steuerung der Reaktionsgeschwindigkeit! Das war zuvor schon vermutet worden und konnte nun durch unsere Experimente bestätigt werden – das verwendete funktionale Modell verfügt eben über keine solche Vorrichtung und hält sich damit ausschließlich an den theoretisch berechneten Trend! So konnte die bioanorganische Chemie einen wesentlichen Aspekt dazu beitragen, die Funktionsweise der TET Enzyme besser zu verstehen.

Was nach Chaos aussieht, ist die Vorbereitung für eine Messung der Reaktionsgeschwindigkeit einer nachgeahmten Enzym Reaktion: Jede Minute muss eine neue Probe genommen, filtriert und der Filter nachgewaschen werden. So kann die Veränderung verschiedener Reaktionsprodukte über die Zeit verfolgt werden.

Warum genau haben wir das alles gemacht? Nun, ich könnte sagen, dass das Fehlen von TET Enzymen in Mäusen zu einem erhöhten Auftreten von Krebs geführt hat. Die Wissenschaft und Medizin möchte diese Enzyme daher besser verstehen, das ist klar. Aber Hand aufs Herz: „Einfach nur“ Heinzelmännchen bei der Arbeit beobachten, das kann doch genug sein? In der Grundlagenforschung, wie wir in der Arbeitsgruppe Daumann sie betreiben, möchten wir einfach verstehen, wie Leben funktioniert. Ich finde, das ist genug.

Im zweiten Projekt meiner Dissertation beschäftigte ich mich mit einem Enzym, HPDL, dessen Funktion und Funktionsweise gänzlich unbekannt sind. Bisher war nur bekannt, dass das Fehlen des Enzyms mit einer neurologischen Erkrankung (Erbliche Spastische Paraplegie) einhergeht.

Bei HPDL gestaltet sich die Isolation des Enzyms sehr schwierig. Daher begann ich parallel zu den biochemischen Arbeiten meiner Kollegen an dem natürlichen Enzym auch mit der Untersuchung eines Modellsystems. Wir waren erstmal nicht an dem genauen Mechanismus interessiert, sondern wollten zunächst eine Vermutung, eine Hypothese, klären: Ist HPDL wirklich daran beteiligt ein bestimmtes Molekül für die zelluläre Atemkette herzustellen? Diese Vermutung tat sich aufgrund der strukturellen und funktionalen Ähnlichkeit zwischen HPDL und HPPD auf: HPPD ist an der Herstellung von Plastochinon beteiligt, einem wichtigen Molekül in der Atemkette von Pflanzen.

Wieder benutzten wir ein funktionales Modell, um der Sache auf den Grund zu gehen: HPDL besitzt einen Eisenkern im aktiven Zentrum, ebenso verwendeten auch wir ein Eisen-basiertes funktionales Modell. Wir beobachteten nun die Reaktion dieses Modells mit dem vermuteten Substrat und siehe da: Die Ergebnisse waren nahezu identisch mit den biochemischen Messungen unserer Kooperationspartner! Das lässt uns hoffen, auf Basis der Untersuchung der HPDL-Heinzelmännchen, die wir mithilfe bioanorganischer Methoden unter die Lupe nahmen, eine Therapie für die beschriebene neurologische Erkrankung entwickeln zu können.


Niko Lindlar studierte Chemie an den Universitäten Heidelberg, Innsbruck, Harvard und München. In seiner Doktorarbeit ging er der Frage nach, wie Enzyme funktionieren. Anstatt diese Biomoleküle jedoch direkt zu untersuchen, stellte er synthetische Modelle davon im Chemielabor her. Die Stabilität solcher künstlicher Nachbauten lässt sich gut steuern, das macht die Untersuchung oft einfacher als bei natürlichen Enzymen. Obwohl nur eine Nachahmung, lassen sich dann trotzdem Rückschlüsse auf die echten Enzyme ziehen. Seit August 2022 ist Niko Lindlar Postdoc in der Gruppe von Roland Sigel an der Universität Zürich und beschäftigt sich mit der Herstellung von modifizierter RNA.

2 Kommentare

  1. Niko Lindlar schrieb (09. Jun 2023):
    > […] TET Enzyme spielen eine wichtige Rolle in der Epigenetik […]

    Sieh an.
    In der deutsch-sprachigen Ausprägung der Wikipedia ist die Wichtigkeit dieser “TET Enzyme” aber so gut wie gar nicht erkennbar;
    sie tauchen (jedenfalls unter diesem Namen) gegenwärtig offenbar überhaupt nur ein einziges Mal auf,
    und zwar hier.

    (Man vergleiche insbesondere damit.)

  2. Habe Ihren Beitrag, obwohl ich in Chemie nur mehr vage Schulkenntnisse habe, mit Interesse gelesen.

    Das grundsätzliche Prozessgeschehen fand ich insofern interessant, weil es mich, besonders was die kurze Lebensdauer von „chemischen Objekten“ betrifft, an die Informatik erinnert. Es könnte zwar in der theoretischen Chemie „ein alter Hut“ sein, aber interessant könnten die systematischen „Prozessmuster“ sein.

    Es könnte eine größere Zahl verschiedener grundsätzlicher „Muster“ geben, die bei chemischen Prozessen immer wieder in verschiedenen Variationen auftreten.

    Viele Forscher könnten ihre Erkenntnisse über derartige „Muster“ in einer Art „Musterbibliothek“ zusammenführen um bei weiteren neuen Forschungen systematisch und konkret nach diesen „Mustern“ zu suchen.

    Das dürfte sozusagen „unterbewusst“ ohnehin erfolgen. Aber es könnte sozusagen mehr „Power“ in die Forschung bringen, wenn man dies „bewusst systematisch und absichtlich“ macht.

    In der Informatik (KI) sind derartige Konzepte üblich.

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