Großes Blutbild für die Landschaft
Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2023 in der Kategorie Geowissenschaften veranschaulichte Philipp Maurischat, was er für seine Promotion erforscht hat.
Das Blut, es durchströmt uns und verbindet alle wichtigen Organe, im Blutkreislauf versorgt es den Körper mit Sauerstoff. Ein Blutbild gibt den Ärztinnen und Ärzten Aufschluss über den Gesundheitszustand eines Menschen. Doch hier geht es nicht um menschliche Erkrankungen und auch nicht wirklich um Blut.
Es geht um die Gesundheit von Böden und Landschaften. Wir wechseln den Standort und begeben uns auf das Hochplateau von Tibet. Hier, im Reich des Dalai-Lama und der Yaks, scheint die Natur unberührt. Offene Landschaften, kein Baum weit und breit, – eine natürliche, intakte Umwelt? Wie in vielen anderen Regionen der Welt sind auch die Böden Tibets im Stress, und das sieht man der Landschaft immer mehr an. Seit tausenden von Jahren haben Menschen hier Weidetiere gehalten und tun dies auch heute noch. Der Yak wurde aus einer Wildform domestiziert und wird im jährlichen Wechsel von den Hochweiden in die tieferen Lagen getrieben. Das hat nicht nur die Tiere verändert und die Lebensweise der Bevölkerung geprägt, auch die Landschaft hat sich daran angepasst. Auf den tibetischen Hochweiden dominiert ein einziges Gras, eine Schuppensegge (botanisch Kobresia) mit dem Beinamen pygmaea, was so viel wie zwergenhaft bedeutet. Diese Pflanze wächst bei Bedingungen mittlerer Feuchte und bildet eine extrem dichte, geschlossene Pflanzendecke, die ein wenig an einen gepflegten Golfkurs erinnert. In der kargen Natur und dem rauen Klima, auf circa 5000 Metern Höhe, hat sich die Pflanze an die ständige Beweidung angepasst. Sie bildet nur kurze, sehr dichte Blätter aus, um den Yaks nicht zu viel Angriffsfläche zu bieten und lagert ihre Nährstoffe und Energiereserven in einem dichten Wurzelfilz. Dieser Wurzelfilz ist für das globale Klima bedeutsam, da enorm große Mengen Kohlenstoff hier gespeichert sind. Doch auch im abgelegenen Tibet verändert sich die Umwelt. Die immer trockeneren Bedingungen im August schädigen die eigentlich widerstandsfähigen Pflanzen, sodass bei Beweidung einzelne Pflanzen samt Wurzel ausgerissen werden. Die einstmals geschlossene Pflanzendecke wird geschädigt. Wer gerne in den Alpen wandert, der kennt außerdem die sogenannten „Viehgangeln“: Trampelpfade, die durch Beweidung entstehen. Diese Trampelpfade entstehen bei zu viel Tieren auf der Fläche auch in Tibet. Die Folgen: Der schmale Anschnitt reicht aus, um nach und nach ganze Hänge zu entkleiden. Der gesamte Boden wird abgetragen und mit ihm auch der dichte Wurzelfilz. Der gespeicherte Kohlenstoff wird frei und kann als CO2 in die Atmosphäre gelangen. Wie viele Flächen eigentlich geschädigt sind und die Geschwindigkeit, mit der die Schädigungen ablaufen, sind uns allerdings nicht bekannt.
Die Analyse des Blutes gibt Auskunft über den gesundheitlichen Zustand von Menschen. Bereits wenige Milliliter genügen. In den Geowissenschaften sind wir noch nicht so weit. Um den Gesundheitszustand einer Landschaft einschätzen zu können, müssen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich auf lange Reisen begeben oder auf Satellitenbilder verlassen. Beides ist nicht ideal: Untersuchungen vor Ort helfen den Forschenden zwar dabei, eine Landschaft wahrnehmen und verstehen zu können. Sie sind aber auch mit hohen Kosten, Flugreisen und somit oft einer schlechten CO2-Bilanz verbunden. Auch die Nutzung von Satellitenbildern bringt Herausforderungen mit sich. Oftmals sind die Aufnahmen nicht detailliert genug, um Prozesse im Boden frühzeitig erkennen zu können. In Tibet ist der Himmel im Sommer außerdem oft sehr stark bewölkt, sodass die Landschaft nicht immer gut erkennbar ist. Wichtig ist auch, dass in den Weiden bereits Schadprozesse ablaufen, auch wenn die grüne Blattmasse noch intakt ist, sodass wir von oben gar nicht sehen können, wie gesund ein Gebiet zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich ist. Wenn wir auf dem Bildschirm dann bräunliche Verfärbungen sehen, ist es eigentlich bereits zu spät.
Mein Ziel ist daher, chemische Indikatoren im Wasser der Flüsse Tibets zu identifizieren, die helfen, Schäden an Weideflächen frühzeitig zu erkennen. Die Idee ist, bestehende Methoden zu verknüpfen und zu einer Art Blutbild der Landschaft zusammenzufügen. Wir wollen das Flusswasser nutzen, um dann frühzeitig eine mögliche Therapie beginnen zu können. Hintergrund ist, dass die Flüsse im Uferbereich in engem Kontakt mit den Böden stehen. Über den versickernden Regen gelangen chemische Stoffe aus dem Boden in die Flüsse und Bäche. Es ist bekannt, dass die Schäden an der Landschaft auch Auswirkungen auf die chemische Zusammensetzung der Böden haben. Diese Veränderungen nicht direkt im Boden, sondern entfernter im Fluss zu messen, ist die eigentliche Herausforderung. Wenn die Prozesse an mehreren Stellen gleichzeitig stattfinden, dann sollten wir die Indikatoren dafür im Flusswasser finden können, also auch an Bereichen, die wir und unsere Projektpartner vor Ort deutlich leichter erreichen können. Eine Plastikflasche mit Wasser würde uns im Labor in Deutschland dann reichen, um etwas über die Fitness des Ökosystems sagen zu können. Das ist insbesondere dann vielversprechend, wenn wir Gebiete über einen längeren Zeitraum immer wieder untersuchen. Ein solches Monitoring ist dann finanziell und logistisch deutlich einfacher umsetzbar.
Es gibt allerdings ein großes Problem: Wir kennen noch nicht alle chemischen Parameter, die sich verändern, wenn Landschaften durch Schadprozesse betroffen sind. Mit anderen Worten, wir wissen noch nicht, wohin wir gucken müssen und ob unser Blick vollständig ist. Die Frage, welche der mehreren tausend chemischen Verbindungen in einer Wasserprobe die relevanten sind, ist Gegenstand aktuell laufender Arbeiten verschiedener Forschungsgruppen.
In Tibet habe ich daher erst einmal verschiedene Gebiete miteinander verglichen: solche mit viel Stress und solche mit weniger Stress. Welche chemischen Bestandteile sind im Wasser dieser Flüsse überhaupt enthalten? Hierzu nutzte ich ein Bündel an Methoden, denn jede Methode liefert nur einen gewissen Ausschnitt. Durch komplexere Untersuchungen zusammen mit Kolleginnen und Kollegen des Instituts für die Chemie und Biologie des Meeres (ICBM) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gelang es uns, die chemische Zusammensetzung der Proben tiefgehender aufzuschlüsseln. Von mehreren tausend chemischen Formeln sind insbesondere zehn als Indikatoren für die Zersetzung des Humus bekannt. Ich habe in meiner Arbeit festgestellt, dass diese zehn Indikatoren aus den Böden in die Flüsse übertragen werden. Durch Schäden betroffene Weiden zeigen eine entsprechende Veränderung der Indikatorwerte, die auch nach mehreren Kilometern noch nachweisbar ist.
In einem nächsten Schritt wollen wir versuchen, Alternativen zu den bisher nötigen komplexen Analysen zu finden. Es soll schneller gehen und einfacher sein. Ähnlich wie beim Bluttest wollen wir nicht Monate auf die Ergebnisse warten. Wir sind unserem Ziel, die Chemie der Gewässer als Informationsquelle für die Gesundheit der Böden und Landschaft zu nutzen, bereits einen Schritt nähergekommen. Das ermöglicht uns, abgelegenen und schwer erreichbare Gebiete besser zu beobachten und Veränderungen schneller verstehen zu können. Wichtige Informationen, die zum Schutz der sensibelsten Gebiete unserer Erde beitragen können.
Philipp Maurischat studierte Physische Geographie und Bodenkunde an den Universitäten Vechta und Osnabrück. Auslandsaufenthalte führten ihn unter anderem an die Selçuk University in Konya, Türkei. Seine Promotion an der Leibniz Universität Hannover führte er in einem Internationalen Graduiertenkolleg unter der Leitung der Technischen Universität Braunschweig durch. Seine Arbeit zu Kohlenstoffflüssen im tibetischen Hochgebirge entstand in Partnerschaft mit der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. Nach Abschluss seiner Promotion und einer PostDoc-Phase an der Leibniz Universität Hannover, wechselte Philipp Maurischat 2023 an die Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, wo er als Akademischer Rat gegenwärtig den Arbeitsbereich Bodenkunde vertritt. Er forscht insbesondere zur chemischen Zusammensetzung des Bodenwassers.