Gesundheitskur für die Natur
Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2020 in der Kategorie Biologie veranschaulichte Andrea Perino, was sie in ihrer Promotion erforscht hat.
Durch Rewilding könnten ehemalige Agrarflächen zu Lebensräumen für bedrohte Arten werden.
Ist er das? Zeigt das überbelichtete Foto aus der Wildtierkamera tatsächlich den Wolf, der gestern mutmaßlich das neugeborene Lamm gefressen und auch vom Mutterschaf nur noch ein paar übel zugerichtete sterbliche Überreste übriggelassen hat? Karsten Eifert, Schafhalter in der Nähe von Leipzig, ist sich sicher: „Ein Hund war das nicht!“ Was Eifert Anfang 2016 erlebte, kennen viele Tierhalter in Deutschland mittlerweile aus eigener Erfahrung: Besonders in den dünn besiedelten Regionen im Nordosten des Landes kehren große Wildtiere in unsere Wälder, Felder und Siedlungen zurück; immer wieder greifen Wölfe Schafherden an oder zerstören Wildschweine Felder. Schäfer, Bauern und Dorfbewohner fürchten um ihre Tiere, Ernte und Kinder. Die Märchen von Rotkäppchen und den sieben Geißlein scheinen plötzlich lebendig und vor der eigenen Haustür bedrohliche Wirklichkeit zu werden. Das ist die eine Version der Geschichte.
Doch man kann sie auch anders erzählen: Bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten sind vom Aussterben bedroht. Das hat der globale Bericht zum Zustand der Ökosysteme gezeigt, der im Frühsommer 2019 vom Weltbiodiversitätsrat IPBES vorgelegt wurde. Der Hauptgrund für diese Bedrohung ist die Zerstörung von Lebensräumen durch den Menschen. Große Tiere sind wegen ihres großen Platzanspruchs besonders betroffen. In Deutschland beispielsweise haben der Verlust von Lebensräumen und Bejagung dazu geführt, dass Wölfe bis zu ihrer Rückkehr im Jahr 1990 als ausgestorben galten.
Dabei sind die Möglichkeiten, bedrohten Tier- und Pflanzenarten mehr Platz einzuräumen, gar nicht so schlecht: Immer mehr Menschen ziehen vom Land in die Stadt; die Landwirtschaft wird immer intensiver und effizienter, mit der Folge, dass Agrarflächen schrumpfen. Experten gehen davon aus, dass allein in Europa in den nächsten zehn Jahren bis zu 29 Millionen Hektar aus der landwirtschaftlichen Nutzung entlassen werden, eine Fläche fast so groß wie Italien. Für den Schutz der Biodiversität ist das eine große Chance. Aber wie können diese Flächen für Naturschutz genutzt werden? Und wie können Konflikte mit Menschen vermieden werden, oder besser noch, positive Effekte für alle erreicht werden?
Ein Ansatz, der seit einigen Jahren von Wissenschaftlern und Naturschützern diskutiert wird, ist das sogenannte Rewilding. Aus der ursprünglichen Idee, große, unzerschnittene Lebensräume für große Raubtiere zu schützen, entwickelten sich in den letzten 20 Jahren eine Vielzahl von Rewildingstrategien. Diese reichen vom passiven „Zulassen“ ökologischer Prozesse, wie zum Beispiel Waldregeneration oder natürliche Flussdynamiken, bis zur Rückzüchtung und Auswilderung von längst ausgestorbenen Arten. Ein Ziel haben all diese Ideen jedoch gemeinsam: Ökosysteme sollen sich weitgehend ohne menschliche Hilfe selbst gesund erhalten können. Gesund zu sein bedeutet für ein Ökosystem zum Beispiel, flexibel auf Umweltveränderungen reagieren zu können, ohne dabei wichtige Funktionen zu verlieren. Rewilding hat den Vorteil, dass große Ökosysteme nach anfänglichen „Heilungsmaßnahmen“ (zum Beispiel der Wiederansiedlung von wichtigen Arten), weitgehend sich selbst überlassen werden können. Der Nachteil dabei: Große Tiere oder natürliche Prozesse, wie Überflutungen, können für den Menschen nachteilig oder sogar gefährlich werden, wenn sie nicht kontrolliert werden. Und das Problem: Es gibt bis heute kaum Untersuchungen, ob Rewilding überhaupt funktioniert. Das liegt auch daran, dass solche Studien aufwändig sind. Viele Prozesse in Ökosystemen laufen sehr langsam ab und Veränderungen lassen sich nur über lange Zeiträume erkennen. Dazu kommt die Vielzahl der Einflüsse auf die Funktionsfähigkeit eines Ökosystems. Im Freiland, wo diese Einflüsse nicht einfach experimentell ein- und ausgeschaltet werden können, ist es extrem schwierig, Ursachen (Rewilding-Maßnahmen) und Wirkungen (Regeneration der Ökosysteme) nachzuweisen. Die erwähnte Vielzahl von Konzepten macht es außerdem nahezu unmöglich, verschiedene Rewildingprojekte zu vergleichen.
Wir haben deshalb zunächst versucht, Ordnung in die Sache zu bringen und herauszuzuarbeiten, welche Eigenschaften ein Ökosystem braucht, um resilient zu sein, das heißt, gesund zu bleiben und auf langfristige Veränderungen wie zum Beispiel den Klimawandel reagieren zu können. Wir haben uns dabei auf anerkannte Theorien der Ökologie gestützt und drei zentrale Voraussetzungen für die Resilienz von Ökosystemen identifiziert: Erstens, eine intakte, gut vernetzte Artengemeinschaft – in dieser übernehmen verschiedene Tiere und Pflanzen wichtige Funktionen wie beispielsweise die Ausbreitung von Samen. Zweitens, eine gute Vernetzung zwischen Ökosystemen – diese ermöglicht es Tieren und Pflanzen, sich zwischen Lebensräumen zu bewegen und auch neue zu besiedeln. Und drittens natürliche Störereignisse – diese mischen die Karten im ewigen Wettkampf um Licht, Nahrung und Platz gelegentlich neu. Sind diese drei Voraussetzungen gegeben, kann ein Ökosystem eine Vielzahl von Tier- und Pflanzenarten beherbergen und dynamisch auf kurzzeitige und längerfristige Veränderungen reagieren.
Mit Rewilding kann der Mensch durch gezielte Maßnahmen, beispielsweise das Errichten von Grünbrücken oder die Entfernung von Dämmen, intakte Nahrungsnetze, Verbindungen zwischen Ökosystemen und natürliche Störereignisse wiederherstellen. Sind diese erst mal da, können sie sich gegenseitig unterstützen und ohne menschliches Zutun erhalten. Neuangesiedelte Tiere können zum Beispiel Pflanzensamen über weite Strecken transportieren. Kleinere Brände können Schneisen schlagen, in denen lichtliebende Pflanzen wachsen und zu einer neuen Verbindung im Nahrungsnetz werden können.
Soweit die Theorie. Aber da war ja noch das Problem mit der Datenlage…
Szenenwechsel: Es regnet nicht, es schüttet. Ich stehe bis auf die Knochen durchnässt im portugiesischen Nationalpark Peneda-Gerês, auf dem Rücken den schweren Rucksack mit den Wildtierkameras, die Haut zerkratzt von den Dornen des Stechginsters, und hinterfrage mit klappernden Zähnen meine Berufswahl. Hier, in den Bergen um das kleine Örtchen Castro Laboreiro, wo nur die Alten geblieben sind und kaum noch jemand die steinigen Felder bestellt, wollen wir prüfen, ob unsere theoretischen Überlegungen der Realität standhalten. Außerdem wollen wir die Praxistauglichkeit von Rewilding testen. Die Bedingungen für unsere Studie sind ideal: Die traditionelle, extensive Landwirtschaft ist seit Jahren im Rückgang, dafür haben sich Bestände der hier seltenen Rehe und Wildschweine sowie des bedrohten iberischen Wolfs erholt. Die wenigen Nutztiere, die hier gehalten werden, das portugiesische Cachena-Rind und die urtümlichen Garranopferde, dürfen sich im gesamten Gebiet frei bewegen. Mit den Wildtierkameras untersuchen wir wie sich Haus- und Wildtiere im Ökosystem bewegen. Wie reagieren sie auf Störereignisse in ihrer Umgebung? Können sie problemlos zusammenleben oder konkurrieren die Haustiere mit Rehen und Wildschweinen um die nahrhaften Flächen? Bedroht die tierische Wohngemeinschaft die landwirtschaftliche Rentabilität oder die Erholung von Wildtierbeständen? Und haben die jährlich auftretenden Buschbrände Einfluss auf das Raumnutzungs- oder Konkurrenzverhalten der Tiere?
Vier Jahre später und eine Million Fotos später wissen wir, dass sowohl Brände als auch die Anwesenheit anderer Tierarten das Raumnutzungsverhalten der Tiere in Peneda-Gerês beeinflussen. Pferde grasen beispielsweise besonders dann gerne auf kürzlich abgebrannten Flächen, wenn diese auch von Rehen besucht werden. Möglicherweise verbessert die gemeinsame Nutzung die Qualität des Futters: Rehe fressen die jungen Baumtriebe und halten dadurch die Flächen offen; im Licht sprießt das Gras besser, das die Pferde bevorzugt fressen. Diese Ergebnisse unterstützen unsere Annahme, dass verschiedene ökologische Prozesse miteinander wechselwirken. Unsere Erkenntnisse untermauern damit nicht nur die These, dass es sinnvoll sein kann, solche Wechselwirkungen bei der Entwicklung von Rewildingmaßnahmen zu berücksichtigen. Sie zeigen auch, dass sich Naturschutz und extensive Landwirtschaft sogar positiv beeinflussen können. Damit geben sie Grund zur Hoffnung, dass Rewilding auch in der Praxis umsetzbar sein kann.
Natürlich lassen sich Beobachtungen aus einem portugiesischen Nationalpark nur bedingt auf die Lebenswirklichkeit eines Leipziger Schafhalters übertragen. Während die ehemaligen Bauern in Peneda-Gerês mittlerweile von „Wolfstouristen“ profitieren, hat Karsten Eifert sich einen Herdenschutzhund angeschafft. So unterschiedlich Ökosysteme sind, so unterschiedlich sind auch die Bedürfnisse und Wünsche der dort lebenden Menschen. Daraus können sich verschiedenste Wege für Rewilding ergeben, die immer im Dialog mit allen Beteiligten entwickelt werden sollten. So können Mensch und Natur gleichermaßen von der neugewonnenen Wildheit profitieren.
Andrea Perino hat von 2006 bis 2013 in Freiburg Biologie studiert. Nach einem Ausflug in die Welt des praktischen Naturschutzes und einer Anstellung als Umweltgutachterin und Fledermausexpertin untersuchte sie am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) in Leipzig wie Rewilding zur Wiederherstellung gesunder und widerstandsfähiger Ökosysteme beitragen kann. Inzwischen arbeitet sie, ebenfalls am iDiv, als Koordinatorin für die Schnittstelle von Wissenschaft und Politik.
Ja, grosse zusammenhängende landwirtschaftlich wenig genutzte Flächen würden die Artenvielfalt erhöhen und diese Gebiete auch für Menschen, für Besucher aus der Stadt, wieder interessanter machen.
Man erinnere sich: im Jahr 2017 und danach war das Insektensterben in Deutschland ein prominentes Thema in den deutschen Medien. Der Artikel Das große Insektensterben: Warum verschwinden die Insekten? nennt als Gründe
die Verarmung der Landschaft (Agrarwüste), Überdüngung, intensive Forstwirtschaft, Lichtverschmutzung (in der Nacht) und Pestizideinsatz.
Es gibt wohl zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze um dem zu begegnen:
1) mehr biologisch/organische Landwirtschaft
2) Intensivierte Landwirtschaft auf weniger Landfläche und Rewilding des ganzen Rests.
Ich bevorzuge eindeutig die zweite Lösung, weil ich die Vielfalt der Natur liebe. Doch damit bin ich scheinbar in der Minderheit, denn die meisten scheinen Kulturlandschaften vorzuziehen. Die meisten, mindestens aber viele bevorzugen vom Menschen geschaffene Landschaften. Sie lieben wenn schon Parklandschaften und nicht die Wildnis. Nun, denke ich, das eine schliesst das andere nicht aus.
Ich denke, es würde wohl schon genügen, wenn nur schon 10% der Gesamtfläche Deutschland einem Rewilding zugeführt würden. Am besten wären das zusammenhängende Gebiete, die netzartig ganz Deutschland durchziehen.
Doch wie gesagt, wer Rewilding will und nicht die Vorherrschaft von Kulturlandschaften, der ist in der Minderheit. Man kann den Beitrag von Andrea Perino zusammen mit meinem Kommentar deshalb als eine Art Minority Report betrachten.