Erschöpfung – Ein Warnsignal des Gehirns?

Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2023 in der Kategorie Neurowissenschaften veranschaulichte Tanja Müller, was sie für ihre Promotion erforscht hat.


Nach einem langen Arbeitstag, einer Prüfung oder einer sportlichen Aktivität sind wir oft müde oder erschöpft. Jeder kennt wohl dieses Gefühl. Aber warum ist das eigentlich so? Wie wirkt sich Anstrengung auf unser Gehirn und Verhalten aus? Neue Methoden liefern neue Einblicke und Möglichkeiten.

„Viele Fragen sind noch zu beantworten, um die Mechanismen, die Erschöpfung zugrunde liegen, zu enträtseln. Dieser Herausforderung werden sich zukünftig sicher auch einige junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler stellen.“ An diese Botschaft der Abschlussrede eines wissenschaftlichen Meetings zur Neurobiologie von Erschöpfung, das ich zu Beginn meiner Dissertation besuchte, erinnere ich mich gut.

Mit der Frage, wie Erschöpfung zustande kommt, beschäftigen sich Forscher schon seit über hundert Jahren. Dennoch wird nach wie vor darüber spekuliert und diskutiert, welche Faktoren eine zentrale Rolle spielen, welche Prozesse in unserem Gehirn und ganzen Körper ablaufen und ob das Erschöpfungsgefühl einem bestimmten Zweck dient. Handelt es sich um ein Warnsignal, das es uns ermöglicht, unser Verhalten rechtzeitig anzupassen, um unser inneres Gleichgewicht wiederherzustellen und unsere Ressourcen zu schonen? Stellt es alternativ eine lästige Begleiterscheinung dar, die uns nur davon abhält, unsere Ziele zu erreichen? Oder liegt die Antwort dazwischen und variiert womöglich auch je nach Situation und Person? Erschöpfung zu erforschen ist kompliziert. Es gibt verschiedene Ausprägungen von Erschöpfung, im normalen und im krankhaften Bereich, wie es beim Chronischen Erschöpfungssyndrom, nach viraler Infektion zum Beispiel mit COVID-19 oder bei verschiedenen anderen Krankheiten der Fall sein kann. Zudem kann sich Erschöpfung unterschiedlich stark von einem Moment auf den anderen ändern. Hinzu kommt, dass einige Forschende annehmen, dass sich Erschöpfung auf unsere Motivation und somit auf unsere Entscheidungen und unser Verhalten auswirkt, und dass sie wiederum von unserem Verhalten und komplexen psychologischen und physiologischen Prozessen abhängt. Die stetige Entwicklung neuer Methoden ermöglicht jedoch ein immer genaueres und umfangreicheres Verständnis dieses facettenreichen Phänomens.

Zusammen mit Forschungsteams der Universität Oxford untersuchte ich, wie sich Erschöpfung von einem Moment zum nächsten entwickelt und wie sie Entscheidungen, sich anzustrengen, beeinflusst. Dafür verwendeten wir Aufgaben zur Entscheidungsfindung, Ratingskalen, mathematische Modellierung, bildgebende Verfahren sowie pharmakologische Methoden. Besonders interessiert waren wir an den Vorgängen im Gehirn, die immer noch ein faszinierendes Rätsel darstellen.

Basierend auf einer umfangreichen Literaturrecherche und theoretischen Überlegungen entwickelten wir ein mathematisches Rahmenmodell, das beschreibt, wie sich Erschöpfung von einem Moment zum nächsten ändert und wie Erschöpfung die Motivation und somit Entscheidungen, sich für mögliche Belohnung anzustrengen, beeinträchtigt. In einem Experiment variierten wir dann den Grad des Aufwands (physische Kraft) und den Grad der Belohnung (Punkte, die später in Geld umgerechnet wurden) von einem Versuchsdurchgang zum nächsten systematisch. Dadurch konnten wir zeigen, dass unser Modell individuelle Schwankungen sowohl in Entscheidungen sich anzustrengen („Ist mir eine bestimmte Belohnung ein bestimmter Aufwand wert?“) als auch in selbstberichteter Erschöpfung („Wie müde fühle ich mich momentan?“) vorhersagen kann und mögliche Zusammenhänge von Erschöpfung und Motivation aufzeigt. Im Speziellen zeigte das Modell, dass Erschöpfung zwei Komponenten zugrunde liegen: eine Komponente, die bei Arbeitsphasen zunimmt und sich bei Arbeitspausen erholt, sowie eine weitere Komponente, die bei kurzen Arbeitspausen unverändert bleibt.

Schematische Darstellung, wie subjektiver Wert vom Grad der erforderlichen Anstrengung, der Höhe der zu erwartenden Belohnung und Erschöpfung abhängt. Anstrengung vermindert tendenziell den subjektiven Wert von Belohnung. Dieser Effekt wird unter Erschöpfung (F = Fatigue; gestrichelte Linien) verstärkt, sodass man weniger dazu bereit ist, sich für Belohnung anzustrengen. Mithilfe von Experimenten können der subjektive Wert, den eine bestimmte Person einem Gut oder einer Tätigkeit zuschreibt, und Schwankungen darin berechnet werden. Auch können Rückschlüsse auf Schwankungen in Erschöpfung gezogen werden, die hier von der erbrachten Anstrengung und den eingelegten Pausen über das Experiment hinweg abhängt. Abbildung entnommen aus Müller et al. (2021), Nature Communications, unter Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Einen Teil dieser Studie führten knapp 40 gesunde Versuchspersonen unter Verwendung von funktioneller Magnetresonanztomographie durch. Dieses Verfahren ermöglichte es, bei jeder Versuchsperson über fast eine Stunde hinweg alle ein bis zwei Sekunden Aufnahmen ihres Gehirns zu machen. Die Aufnahmen lieferten uns Informationen darüber, wie sich die neuronale Aktivität in verschiedenen Gehirnbereichen über das Experiment hinweg änderte. Ganz schön viele Daten! Dabei konnten wir feststellen, dass neuronale Aktivität während der Entscheidungsfindung in separaten Subregionen frontaler Gehirnbereiche entsprechend der zwei zuvor genannten Erschöpfungs-Komponenten schwankte. Zudem signalisierte neuronale Aktivität im ventralen Striatum (eine Region ungefähr in der Mitte des Gehirns, die bereits zuvor mit Motivation und Entscheidungsfindung in Zusammenhang gebracht wurde) unter anderem Unterschiede zwischen den einzelnen Versuchspersonen in dem Ausmaß, in dem ihr Entscheidungsverhalten durch Erschöpfung beeinflusst wurde. Die Studie zeigte also fluktuierende Komponenten von Erschöpfung und ihrer Effekte auf. Gleichzeitig erweiterte sie unser Verständnis der Eigenschaften und Rolle bestimmter Gehirnbereiche.

 

Neuronale Aktivität während der Entscheidungsfindung schwankt in separaten Subregionen frontaler Gehirnbereiche entsprechend zweier Erschöpfungs-Komponenten, die durch mathematische Modellierung identifiziert wurden (hellblau: verändert sich bei Arbeitsphasen und erholt sich während Pausen; dunkelblau: verändert sich bei Arbeitsphasen und bleibt bei kurzen Pausen unverändert). Abbildung entnommen aus Müller et al. (2021), Nature Communications, unter Lizenz https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

In einer weiteren Studie untersuchten wir nun, ob Menschen eher Informationen dazu suchen, wie anstrengend eine Handlung sein wird oder ob sie eher dazu neigen, zuerst Informationen zur möglichen Belohnung einzuholen. Interessant war dabei auch, herauszufinden, ob diese mögliche Präferenz gegebenenfalls mit ihrer Arbeitsbereitschaft zusammenhängt. Die Versuchspersonen entschieden in jedem Durchgang zunächst, ob sie zuerst den Grad des Aufwands oder den Grad der Belohnung sehen möchten bevor sie jeweils entschieden, ob die ihnen angebotene Belohnung den erforderlichen Aufwand wert ist. Dabei waren diejenigen Personen, die sich öfters dafür entschieden, den Anstrengungsgrad zuerst zu sehen, weniger bereit dazu, sich für Geld anzustrengen, wenn dies relativ hohe Anstrengung erforderte. Einige Teilnehmende, die Informationen über die mit einer Handlung verbundene Anstrengung bevorzugten, anstatt zuerst Informationen zur möglichen Belohnung einzuholen, berichteten zudem von weniger anstrengender Aktivität und erhöhter Erschöpfung im Alltag. Die Ergebnisse zeigten einen bislang unbekannten Zusammenhang zwischen individuellen Tendenzen bei der Informationssuche, Motivation, körperlicher Aktivität und Erschöpfung auf. Inwiefern sich diese Faktoren gegenseitig beeinflussen, bleibt eine spannende Frage für zukünftige Forschung.

Die entwickelten Aufgaben-Paradigmen und mathematischen Modelle machen es möglich, verschiedene Komponenten der Entwicklung von Erschöpfung und ihrer Auswirkungen zu identifizieren und zu quantifizieren. Somit helfen sie dabei, die Mechanismen, die Erschöpfung und individuellen Abweichungen in der Verarbeitung von Anstrengung zugrunde liegen, besser zu verstehen. Und das nicht nur in gesunden Versuchspersonen, sondern auch in denjenigen Patienten, die sich typischerweise erschöpft fühlen. Ein Beispiel: In einer aktuellen Studie verwenden wir eine Version des Experiments und mathematischen Modells zur Erfassung von Schwankungen im subjektiven Erschöpfungsgefühl von Parkinson-Patienten. Dabei gehen wir der Frage nach, ob Parkinson-Patienten durch Anstrengung mehr ermüden oder ob sie sich während Pausen langsamer erholen als gesunde Probanden und welche Rolle der Neurotransmitter Dopamin dafür spielt. Insgesamt könnten die Ansätze und Ergebnisse eine wichtige Wissensbasis bereitstellen für verschiedene Maßnahmen, um übermäßige Erschöpfung und ihre Auswirkungen auf die Motivation und das Verhalten zu verhindern oder zu reduzieren.

Natürlich ist eine gewisse Anstrengung erforderlich, um unsere Ziele zu erreichen und neue Dinge zu erlernen. Sie kann teilweise Freude bereiten, und das richtige, persönliche Maß an Aktivität fördert die psychische und körperliche Gesundheit. Manche Studien anderer Forschungsgruppen legen sogar nahe, dass gewisse körperliche Aktivität längerfristig gesehen Erschöpfung entgegenwirken kann, zumindest bei einigen Personen und Erkrankungen. Entscheidend ist wohl, die individuelle Balance zu finden. Dabei kann es helfen, mögliche Warnsignale seines Gehirns wahrzunehmen und, falls nötig, seine Denkweise und sein Verhalten entsprechend anzupassen. Die Forschung ist den Grundlagen und dem potentiellen Zweck des Erschöpfungsgefühls auf der Spur, hat aber auch noch eine spannende Reise vor sich.


Tanja Müller ist derzeit als Postdoc im Fachbereich Neuroökonomie an der Universität Zürich tätig. Unterstützt durch ein Forschungsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds beschäftigt sie sich dort mit Erschöpfung und Entscheidungsfindung. Zuvor studierte sie Psychologie und Neuro-kognitive Psychologie an den Universitäten Freiburg (Breisgau) und München und verbrachte Studien- und Forschungsaufenthalte an der University of Oxford (England) und der Stanford University (USA). Für ihre Doktorarbeit an der Universität Oxford untersuchte sie Mechanismen, die Erschöpfung und deren Einfluss auf die Motivation zugrunde liegen, mit einem speziellen Fokus auf die Vorgänge im menschlichen Gehirn.

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