Erdbebenwellen malen à la Courbet

Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2021 in der Kategorie Geowissenschaften veranschaulichte Marc Boxberg, was er in seiner Promotion erforscht hat.


Die von Erdbeben und anderen Erschütterungen ausgelösten Wellenbewegungen durch die Erde können im Computer berechnet werden, um damit den Boden und die Gesteine unter unseren Füßen zu untersuchen. Dabei sind die Computermodelle manchmal so detailliert wie ein Gemälde aus der Epoche des Realismus.

Woher wissen wir eigentlich, wie unser Planet tief unter unseren Füßen aufgebaut ist? Schließlich können wir nicht mit dem bloßen Auge hineinsehen, und die tiefste Bohrung der Welt reicht gerade einmal 12,3 Kilometer in den Untergrund. Das ist buchstäblich nur ein kleiner Piks in die äußerste Hülle der Erde, sind es doch 6378 km bis zum Erdmittelpunkt. Einen großen Teil unseres Wissens verdanken wir Erdbeben. Täglich finden überall auf der Welt unzählige davon statt. Dabei sind starke, zerstörerische Beben zum Glück selten. Wir Menschen spüren die allermeisten Erdbeben nicht. Sie können oft nur mit empfindlichen Messgeräten erfasst werden. Zur Erkundung der Erde helfen uns genau genommen die Wellenbewegungen, welche von jedem noch so kleinen Beben ausgelöst werden. Diese können quer durch die Erde laufen und von sogenannten Seismometern registriert werden. Stehen viele Registrierungen zur Verfügung, lässt dies Rückschlüsse auf die Struktur der Erde zu. Die Zeit, die diese Wellen vom Erdbebenherd bis zum Seismometer unterwegs sind, und das Aussehen des registrierten Signals werden dabei ausgewertet. Daher wissen wir zum Beispiel, dass die Erde einen Kern aus Eisen und Nickel hat, der aus einem festen inneren Teil und einem flüssigen äußeren Teil besteht.

Erdbebenwellen, sogenannte seismische Wellen, können aber auch in kleinerem Maßstab genutzt werden, um beispielsweise die Vulkane der Eifel besser zu verstehen. Inzwischen werden auch „künstliche Erdbeben“ durch kleine Explosionen, Hammerschläge oder Vibro-Trucks erzeugt, um den Untergrund zu untersuchen. Vibro-Trucks sind LKW, die eine große Platte auf den Boden pressen und in Vibration versetzen. Die Erzeugung und Messung der künstlichen Beben nennt man Seismik. Heute ist dies Grundlage für die Suche nach vielen Rohstoffen, wie Erdöl und Erdgas, aber auch, um geeignete Standorte für die Endlagerung von radioaktivem Abfall oder für die Tiefe Geothermie, also die regenerative Erzeugung von Strom und Wärme durch warmes Wasser aus wenigen Kilometern Tiefe, zu finden. So eine Messung ist vergleichsweise kostengünstig und liefert Informationen darüber, ob und wo es sinnvoll ist eine teurere Bohrung durchzuführen. Die Technologien und die theoretischen Grundlagen der Seismik werden immer weiter entwickelt. Unter anderem werden dazu Computersimulationen eingesetzt.

Vibro-Trucks können seismische Wellen erzeugen, die durch den Untergrund laufen und von Geophonen (das sind kleine Seismometer) registriert werden. Computersimulationen ermöglichen es, die Ausbreitung der Wellen im Untergrund zu untersuchen. © Marc Boxberg

Obwohl es sich jeweils um dieselbe seismische Welle handelt, gibt es unterschiedliche Arten, ihre Ausbreitung durch den Untergrund mithilfe des Computers zu simulieren. Man kann sich das in etwa so vorstellen: Drei Maler haben die Aufgabe ein Portrait zu zeichnen. Der Erste soll, so schnell wie er kann, eine Skizze mit einem Bleistift zeichnen, der Zweite bekommt etwas mehr Zeit und darf einige wenige Farben verwenden, und der Dritte bekommt so viel Zeit wie er will und soll mit allerlei bunten Aquarellfarben auf Leinwand malen. So in etwa sind auch die Unterschiede bei den Computersimulationen zu verstehen. Es gibt stark idealisierte, dafür aber schnelle Simulationen, für die der Computer sehr wenig Zeit braucht. Dabei wird die Theorie der elastischen Wellenausbreitung genutzt. Das bedeutet, dass die Wellen nicht gedämpft werden, also keine Energie der Welle verloren geht, indem sie in andere Energieformen, wie zum Beispiel Wärme, umgewandelt wird. Bereits etwas genauer, aber ebenfalls noch einigermaßen schnell, sind Simulationen, die sich der sogenannten anelastischen Wellenausbreitung bedienen. Das bedeutet, eine künstliche Dämpfung vorzugeben, die nicht unbedingt direkt auf physikalischen Phänomenen basiert, aber sehr ähnlich in der Realität zu beobachten ist. Sehr detailliert, aber leider auch sehr zeitaufwändig, sind zuletzt die sogenannten poroelastischen Simulationen. Dabei geht es darum zu berücksichtigen, wie sich kleine Poren im Gestein auf die Wellenausbreitung auswirken. Diese Poren können mit Flüssigkeiten, wie Wasser oder Erdöl, und Gasen, wie CO2 oder normaler Luft, gefüllt sein. Unter anderem führt dies zu einer Dämpfung der Welle, indem Energie in Fließbewegungen des Poreninhalts umgewandelt wird. Die seismischen Wellen in einem solchen Detailgrad zu simulieren kann man also durchaus mit der Malerei des Realismus, wie beim Franzosen Gustave Courbet, vergleichen.

Auch wenn der Computer für poroelastische Simulationen sehr lange braucht, kann dieser Detailgrad durchaus notwendig sein. Nehmen wir zum Beispiel die CCS-Technologie, welche ein Baustein zur Bekämpfung des Klimawandels sein könnte. CCS steht für Carbon Capture and Storage, was so viel bedeutet wie CO2 einfangen und speichern. Gemeint ist damit die dauerhafte Speicherung von CO2 in der Erde. Dafür kommen unter anderem salzwasserführende Sandsteinschichten in wenigen Kilometern Tiefe in Frage. Das CO2 stammt beispielsweise aus dem Abgas von Kohlekraftwerken oder CO2-intensiven Industrieprozessen, wie der Herstellung von Eisen und Stahl oder der Chemieindustrie. Dabei ist es essentiell wichtig Überwachungsmethoden einzusetzen, um die Ausbreitung des CO2 im Gestein zu verfolgen. Dass dies mit seismischen Wellen möglich ist, konnte erst durch poroelastische Simulationen schlussendlich bestätigt werden. Es musste dazu unter anderem geklärt werden, wie sich ein Leck im Bohrloch, durch welches das CO2 in den Untergrund geleitet wird, auf Messungen mit seismischen Wellen auswirkt. Praktische Experimente zur Erprobung dieser Überwachungsmethode bei Leckagen an einem echten CO2-Speicher verbieten sich selbstverständlich.

Es gibt viele Herausforderungen bei der Simulation von seismischen Wellen in porösen Gesteinen. Nehmen wir dazu als Beispiel die physikalische Beschreibung der mikroskopisch kleinen Prozesse, die in den Gesteinsporen ablaufen. Befinden sich zwei Flüssigkeiten, wie Wasser und Erdöl, in den Poren, beeinflussen sich diese gegenseitig in ihren Fließbewegungen. Ebenfalls werden die Bewegungen von der Form der Poren beeinflusst. Es macht einen Unterschied, ob eine Pore kugelrund ist oder eher die Form eines kleinen Röhrchens hat. Außerdem spielt es eine Rolle wie gut die Poren miteinander verbunden sind und wie gut die Flüssigkeiten so von einer Pore zur anderen fließen können. Viele Annahmen müssen dabei getroffen werden, da es praktisch unmöglich ist die Form einer jeden Pore genau zu berücksichtigen. Selbst beim Gemälde „Die Welle“ arbeitete Courbet mit verschiedenen Farbtönen, um Struktur in die Gischt der Welle zu bekommen, und malte nicht jeden Wassertropfen einzeln. So sind auch dem Perfektionisten des Realismus der Liebe zum Detail Grenzen gesetzt. Ähnlich verhält es sich bei der Beschreibung von porösen Gesteinen, wenn es darum geht, ein Volumen im Maßstab von einem kilometergroßen Erdölfeld zu erfassen. So spricht man von einem makroskopischen Ansatz, der hier zur Beschreibung des Gesteins genutzt wird, und mit welchem dann eine mathematische Gleichung, welche die Wellenausbreitung beschreibt, hergeleitet wird.

Und wie funktioniert nun die Computersimulation konkret? Stark vereinfacht lässt sich das so verstehen: Man unterteilt den Teil der Erde, für welchen man sich interessiert, in viele kleine Tetraeder. Ein Tetraeder ist eine Art Pyramide mit dreieckiger Grundfläche, bei der die Seiten unterschiedlich lang sein dürfen. Je kleiner diese Tetraeder sind, desto genauer wird die Simulation. Je feiner die Pinsel sind, mit denen der Maler zeichnet, desto detaillierter wird ja auch sein Bild. Innerhalb dieser Tetraeder wird nun die zuvor erwähnte makroskopische mathematische Gleichung der Wellenausbreitung gelöst. Es wird dabei ermittelt, wie sich eine seismische Welle in einer kleinen vorher bestimmten Zeitspanne weiterbewegt. Die Informationen darüber, wie sich die Welle weiterbewegt, wird den benachbarten Tetraedern mitgeteilt und in der nächsten Zeitspanne kann sich die Welle dann durch diese Tetraeder bewegen. Dieser Vorgang wird dann iterativ, also Zeitspanne für Zeitspanne, wiederholt bis eine vorab definierte Endzeit erreicht worden ist. Während der Simulation werden an denjenigen Stellen, an denen Seismometer stehen sollen, die im Computer berechneten Wellenbewegungen aufgezeichnet, so dass die Signale ausgewertet werden können. Die Auswertung selber geschieht so, wie man es auch mit echten Signalen machen würde.

Durch Simulationen ist es folglich möglich sich kilometergroße Regionen der Erde ins Computerlabor zu holen und damit kostengünstige und zeiteffiziente Experimente durchzuführen. Dies ist heute eine wichtige Ergänzung zur Datenerhebung im Gelände und lässt sich für viele verschiedene Anwendungsbereiche einsetzen. Immer dann, wenn reale Experimente sehr teuer oder überhaupt nicht möglich sind, können Computersimulationen vielleicht helfen, unsere Erde besser zu verstehen. Und das hilft dann auch dabei, neue Technologien, wie die CO2-Speicherung oder die Geothermie, zu entwickeln und zu optimieren. So können wir uns auf eine Zukunft vorbereiten, in welcher wir unseren Planeten und dessen Klima schonender behandeln können.

Gustave Courbet – La vague (dt.: Die Welle) – ca. 1870 – Nationalmuseum für westliche Kunst, Tokio, Japan
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Gustave_Courbet_-Waves-_Google_Art_Project.jpg

Marc S. Boxberg wurde 1988 in Dortmund geboren und studierte Geowissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Nach dem Master in der Vertiefungsrichtung Geophysik promovierte er 2019 am Lehrstuhl für Geophysik zum Thema “Simulation of seismic wave propagation in porous rocks considering the exploration and the monitoring of geological reservoirs”. Aktuell arbeitet er als Postdoktorand an der RWTH Aachen.


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