Die Mischung macht´s!
Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2021 in der Kategorie Geowissenschaften veranschaulichte Svenja Brockmüller, was sie in ihrer Promotion erforscht hat.
Je besser Schüler*innen die komplexen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt durchschauen, umso genauer können sie abschätzen, wie sich unterschiedliche Eingriffe in dieses Mensch-Umwelt-System auf ihre Zukunft auswirken werden. Diese Fähigkeit, auch Systemkompetenz genannt, gilt daher als eine der Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts. Gute Systemdenker*innen können Verhaltensmuster von Mensch-Umwelt-Systemen analysieren. Sie spüren komplexe Wechselwirkungen oder unerwartete Rückkopplungen auf und richten ihren Blick auf das große Ganze. Indem sie sowohl beabsichtigte als auch unbeabsichtigte oder zeitverzögerte Konsequenzen von Eingriffen abschätzen, vermeiden sie zu kurz gedachte Lösungen.
Schauen wir uns das einmal am Themenbeispiel „Bodenerosion“ an: Bei Regen wird Erde von einer Ackerfläche in Hanglage abgespült – so geht tagtäglich fruchtbarer Ackerboden unwiederbringlich verloren! Und auf den ersten Blick scheint ein Zusammenhang offensichtlich: je mehr Regen, umso mehr Erosion, wie der Bodenabtrag auch bezeichnet wird. Aber Vorsicht: Natürlich spielt es eine Rolle, wie viel Regen fällt. Aber einen noch größeren Unterschied macht es, ob diese Regenmenge in zehn Minuten oder über den ganzen Tag verteilt auf die Ackerfläche trifft. Und während selbst starker Regen in feuchtem Ackerboden gut versickert, fließt er sowohl auf komplett ausgetrockneten als auch auf sehr nassen Böden oberflächlich ab und spült Erde mit – je mehr, umso länger und steiler der Hang ist. Die Körnung des Bodens, der Verdichtungsgrad, die Art des Bewuchses und die Bearbeitungsweise sind weitere Elemente, die das Phänomen Bodenerosion beeinflussen. Erst wer alle Elemente und Wechselwirkungen in diesem komplexen Mensch-Umwelt-System möglichst vollständig erschlossen hat, kann nachhaltige Strategien zum Schutz der wertvollen Ressource Boden vor Erosion ableiten.
Aber wie komme ich eigentlich ausgerechnet auf Bodenerosion? Nun, sie spielt eine wichtige Rolle in meiner Doktorarbeit, denn an diesem Thema habe ich beispielhaft untersucht, wie sich Systemkompetenz im Schulunterricht am besten fördern lässt. Schüler*innen der Klassenstufen zehn bis zwölf erarbeiten die Zusammenhänge und Wechselwirkungen rund um den Bodenabtrag mit Hilfe von Modellen, die das beschriebene System vereinfacht abbilden. Modelle unterstützen beim Strukturieren komplexer Systeme und ermöglichen dabei oft auch einen Blick in die Zukunft: „Was passiert, wenn …?“, denn die Lernenden können Veränderungen simulieren und Lösungsstrategien testen: Wie wird sich z. B. das Phänomen Bodenerosion verändern, wenn sich in der Zukunft noch häufiger lange Dürreperioden mit plötzlichen Starkniederschlagsereignissen abwechseln? Welche Maßnahmen zum Erosionsschutz sind besonders wirksam? Durch Ausprobieren wird für die Schüler*innen deutlich, wie einzelne Elemente direkt oder indirekt zusammenhängen und ein gemeinsames System bilden.
Es scheint also naheliegend, dass sich Systemkompetenz durch den Einsatz von Modellen im Schulunterricht vermitteln und fördern lässt – aber ist das tatsächlich so? Und welche Art von Modellen lässt bei begrenzter Zeit den größten Kompetenzzuwachs erwarten?
In meiner Studie wenden die Schüler*innen zwei Arten von Bodenerosionsmodellen an – analoge und digitale. Analoge Bodenerosionsmodelle sind hierbei kippbare Kästen mit unterschiedlichen Beregnungsaufsätzen, in welche die Lernenden verschiedene Bodenarten einfüllen und darauf unterschiedliche Bearbeitungsweisen simulieren können. Der vom Wasser jeweils abgetragene Boden wird aufgefangen und ausgewogen. Bei digitalen Bodenerosionsmodellen hingegen variieren die Schüler*innen die relevanten Einflussfaktoren, z.B. Hangneigung, Niederschlagsstärke, Bodenart oder -bearbeitung, per Mausklick in einer Online-Computeranwendung. Hinterlegte Rechengleichungen ermitteln den jeweils resultierenden Bodenabtrag.
In einer Vielzahl von Lernwirksamkeits-Studien wird der Einsatz analoger und digitaler Medien und Methoden gegenübergestellt, jedoch nur selten mit Blick auf die Systemkompetenz. In wenigen Studien wurde der Einsatz einzelner Medien auch mit einem kombinierten Einsatz verglichen. Der Unterricht mit den kombinierten Medien nahm in diesen wenigen Studien jedoch mehr Zeit in Anspruch, sodass Vergleiche in Bezug auf die Wirksamkeit schwierig sind. Hier gibt es also eine Forschungslücke – ein guter Startpunkt für eine eigene Studie!
Um messen zu können, wie sich durch die Arbeit mit verschiedenen Modellen das systemische Denken der Schüler*innen verändert, wird ein Kompetenztest benötigt, der alle Facetten von Systemdenken abdeckt. Diese Facetten werden auch Kompetenzdimensionen genannt. Die Kenntnis darüber, wie viele Dimensionen Systemdenken aufweist und welche das sind, ist die Basis für eine gezielte Kompetenzförderung und deshalb Gegenstand aktueller Arbeiten verschiedener Forschergruppen. Das „Freiburger Kompetenzstrukturmodell zum systemischen Denken“ geht aufgrund theoretischer Überlegungen von vier Dimensionen aus: „A: Systemtheoretisches Grundwissen“, „B: Systemmodellierungsfähigkeit“, „C: Prognose- und Strategiefähigkeit“ und „D: Systemmodellreflexion“.
Basierend auf diesem Freiburger Kompetenzstrukturmodell habe ich einen Systemkompetenztest in Form eines Fragebogens mit unterschiedlichen Aufgaben entworfen. Bei „Systemmodellierungsfähigkeit“ geht es beispielsweise darum, die Einflussfaktoren auf Bodenerosion und deren Wechselwirkungen benennen zu können („je höher x, desto höher/niedriger y“), während bei „Prognose- und Strategiefähigkeit“ verschiedene denkbare Maßnahmen zum Erosionsschutz vergleichend beurteilt werden.
Bis mit einem solchen Testentwurf jedoch tatsächlich getestet werden kann, muss einiges überprüft werden: Werden die Fragen richtig verstanden? Sind sie nicht zu leicht oder zu schwer? Misst der Test das, was er soll – und das auch noch genau genug? Hierzu sind eine ganze Reihe von Gütekriterien festgelegt. Einige Überarbeitungen sind nötig, bis mein Entwurf diesen Kriterien endlich standhält! Hierbei helfen mir neben den Rückmeldungen von Fachkolleg*innen vor allem die Antworten von rund 100 Schüler*innen, die den Test „testweise“ bearbeitet haben.
Im nächsten Schritt möchte ich prüfen, ob die theoretische Annahme, dass Systemkompetenz vier Dimensionen aufweist, statistisch haltbar ist. Hierzu verwende ich eine konfirmatorische (=bestätigende) Faktorenanalyse. Jetzt wird es spannend: Wie schneidet das vierdimensionale Modell im Vergleich mit anderen Modellen ab, die mehr oder weniger Dimensionen aufweisen? Der erwartungsvolle Blick ins Ausgabefenster der Statistiksoftware R bestätigt es, das vierdimensionale Modell kann beibehalten werden. Doch keine Zeit durchzuatmen, sofort geht es weiter: Dass vier Dimensionen grundsätzlich statistisch unterschieden werden können, beweist noch nicht, dass diese auch gemeinsam eine bestimmte Kompetenz abbilden. Daher untersuche ich zusätzlich mit einer sogenannten konfirmatorischen Faktorenanalyse zweiter Ordnung, ob die Korrelationen (=statistischen Zusammenhänge) zwischen den vier Kompetenzdimensionen auf ein übergeordnetes Gesamtkonstrukt, die Systemkompetenz, zurückgeführt werden können. Gespannt beobachte ich erneut das R-Ausgabefenster – und siehe da, die statistischen Kennwerte sprechen für die Zusammengehörigkeit der vier Dimensionen! Anhand meiner Forschungsdaten lässt sich die zunächst nur theoretisch angenommene vierdimensionale Struktur von Systemkompetenz erstmalig empirisch – also durch eine systematische Datenerhebung, Auswertung und Interpretation – bestätigen!
Im zweiten Teil meiner Studie kommt der aufwändig entwickelte Systemkompetenztest nun endlich zur Anwendung. Interessiert schauen mich die Schüler*innen der Klassenstufe 11 an, als ich den Test austeile, den sie heute vor (Prätest) und nach (Posttest) der Erarbeitung des Themas Bodenerosion ausfüllen werden. Sie nehmen freiwillig an der Studie teil, auch ihre Eltern haben vorab zugestimmt – schließlich geht es ja darum, Unterricht zu verbessern! Nach einer gemeinsamen Einführung werden die Teilnehmenden den drei Vergleichsgruppen zugelost: Gruppe 1 verwendet ausschließlich analoge und Gruppe 2 ausschließlich digitale Bodenerosionsmodelle. In Gruppe 3 werden beide Modelle kombiniert. Innerhalb der drei Gruppen arbeiten jeweils kleine Teams von zwei bis drei Lernenden an einem Modell. Hier können sie die Einflussfaktoren auf Bodenerosion analog und/oder digital variieren, Wechselwirkungen erkunden, verschiedene Anpassungsstrategien testen und reflektieren. Die Arbeitsphasen der drei Gruppen sind genau gleich lang, finden jedoch in getrennten Räumen statt. Zu gern würde der eine oder die andere wissen, was die beste Freundin in der anderen Gruppe gerade macht, doch fragen dürfen sie erst nach dem zweiten Test. Insgesamt nehmen so über 300 Oberstufenschüler*innen an meiner Studie teil.
Ein erster Blick in die Testergebnisse zeigt schnell: Jede Art von Modelleinsatz hat zu einem deutlichen Zuwachs der Systemkompetenz („Gesamtscore“) geführt. Am meisten haben die Lernenden anscheinend vom kombinierten Einsatz beider Modelle profitiert, doch die Unterschiede zwischen den drei Vergleichsgruppen sind gering. Schon durch die Stichprobenzusammensetzung können gewisse Kompetenzunterschiede rein zufällig zustande kommen. Nun muss ich doch noch einmal in die Methodenkiste der Statistik greifen: Mit Hilfe von Varianzanalysen prüfe ich, ob sich die Systemkompetenz-Mittelwerte der drei Vergleichsgruppen zu den beiden Messzeitpunkten tatsächlich statistisch bedeutsam (=signifikant) unterscheiden. Ich setze daher in der Statistiksoftware fest, dass die Wahrscheinlichkeit von rein zufallsbedingten Mittelwertunterschieden kleiner als 5 % sein muss. Und … in der Tat: Während alle drei Arten des Modelleinsatzes bei den Lernenden zu einem signifikanten Systemkompetenzzuwachs zwischen Prä- und Posttest geführt haben, gibt es innerhalb des zweiten Messzeitpunkts nur einen einzigen statistisch bedeutsamen Mittelwertunterschied. Lediglich im Vergleich mit den digitalen Modellen fällt der Systemkompetenzzuwachs beim kombinierten Modelleinsatz tatsächlich signifikant höher aus! Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Unterschied lediglich dem Zufall geschuldet ist, ist mit 2,4 % äußerst gering.
Neben dem „Gesamtscore“ lohnt auch ein Blick ins Detail: Während in den Dimensionen „Systemtheoretisches Grundwissen“ und „Systemreflexion“ im Vergleich der drei Testgruppen jeweils die Gruppe mit dem Einsatz analoger Modelle den höchsten Zuwachs an Systemkompetenz erreicht, liegt sowohl bei „Systemmodellierungsfähigkeit“ als auch bei „Prognose- und Strategiefähigkeit“ die Gruppe mit kombiniertem Modelleinsatz vorne. Insbesondere für diese beiden Dimensionen zeigt die Kombination digitaler und analoger Bodenerosionsmodelle also einen entscheidenden didaktischen Mehrwert.
Was bleibt? Mit meiner Studie habe ich einen weiteren Mosaikstein auf der Suche nach der „wahren“ Struktur von Systemkompetenz beigesteuert. Weiterführende Studien sind nötig, um sich einem Gesamtbild anzunähern. Für die Unterrichtspraxis allerdings kann ich am Themenbeispiel Bodenerosion eine konkrete Empfehlung aussprechen: Der Einsatz von Modellen eignet sich, um Systemkompetenz bei Schüler*innen zu fördern! Und wer im Unterricht analoge und digitale Modelle kombiniert, erreicht bei gleichem Zeitaufwand die beste Wirkung – die Mischung macht´s!
Svenja Brockmüller hat in Marburg Geographie studiert und war zunächst einige Jahre in der physisch-geographischen Forschung und Lehre tätig. Dann folgte sie ihrer besonderen Leidenschaft für Klimawandel-Bildung und entwickelte an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg innovative Lernsettings für Jugendliche und Erwachsene. Nach Abschluss ihrer geographiedidaktischen Promotion wechselte sie an die Universität Koblenz-Landau. Hier baut sie aktuell im Themenfeld Klimawandelanpassung ein Kooperationsprojekt zwischen Studierenden, Wissenschaftler*innen sowie Praxispartner*innen auf und erforscht Gelingensbedingungen von Klimakommunikation.
Weiterführende Informationen: Die vorgestellte Studie wurde mit dem HGD-Dissertationspreis ausgezeichnet.
Hier geht’s zum Profil von Svenja Brockmüller.
Sehr guter Ansatz, gute, selbstkritische Arbeitsweise, denn gemäss Richard Feynman gilt: „ Du kannst Dich selbst am leichtesten betrügen.“
Doch das wurde hier offensichtlich nicht gemacht, liest man doch: