Der Zufall liegt im Auge des Fischs

Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2021 in der Kategorie Physik veranschaulichte Anne Materne, was sie in ihrer Promotion erforscht hat.


Was hat das Auge eines Fischs mit Physik zu tun? Sogar ziemlich viel! Und das geht weit über die offensichtlichen Themen wie Strahlengang des Lichts und dreidimensionales Sehen hinaus. Die Analyse eines Zufallsprozesses in Zellen führt zu neuen Erkenntnissen in sowohl Biologie als auch Physik

Die Biologie steckt voller Fragen, bei deren Beantwortung die Physik eine zentrale Rolle spielt. Um ihnen auf den Grund zu gehen ist also die Beteiligung von Physikern manchmal unerlässlich. Doch der Nutzen einer solchen Zusammenarbeit ist nicht allein auf das Lösen eines spezifischen biologischen Problems beschränkt. Auch Physiker – und die Physik als Ganzes – können außerordentlich von der Beschäftigung mit scheinbar rein biologischen Themen profitieren. Deshalb forsche ich als Physikerin an biologischen Fragestellungen.

Doch zurück zum Fischauge – oder genauer gesagt: zur Netzhaut. Die Netzhaut ist ein Gewebe im hinteren Teil des Auges. Hier trifft das einfallende Licht auf und wird von Sinneszellen wahrgenommen. Die Informationen der Sinneszellen werden dann als Nervenimpulse an das Gehirn weitergeleitet und dort zu dem Bild, das wir sehen, verarbeitet.

Aus biologischer Sicht sind viele Fragen zur Entwicklung der Netzhaut im Embryo ungeklärt. Diese Fragen sind unter anderem deshalb so relevant, weil die Netzhaut genau genommen einen Teil des Gehirns darstellt. Somit könnte ein detailliertes Verständnis der Netzhautentwicklung auch einen Schlüssel zum Verständnis der Entwicklung des Gehirns darstellen. Insbesondere, wie sich aus sogenannten Stammzellen die finalen Zelltypen der Netzhaut bilden, ist hierbei von Interesse. Stammzellen sind dabei Zellen, die recht weit vorne im Entwicklungsprozess stehen, sich teilen und so neue Zellen bilden und sich zu verschiedenen Zelltypen des Gewebes spezialisieren können. Die Embryonalentwicklung von Fischen zu untersuchen ist praktikabel, da sie außerhalb des mütterlichen Körpers abläuft und sich deshalb leicht beobachten lässt.

 

Mittels eines speziellen Mikroskopaufbaus, der Lichtscheibenmikroskopie (oder light sheet microscopy im Englischen), kann die Entwicklung der Netzhaut im Auge eines Fisch-Embryos direkt im lebenden Tier beobachtet werden. ©Afnan Azizi, Anne Materne

Doch wie kommt bei alldem nun die Physik ins Spiel?

Biologen untersuchen schon seit geraumer Zeit einen speziellen Vorgang innerhalb der Netzhaut-Stammzellen, welcher potentiell eine zentrale Rolle für die Entwicklung spielt. Dieser Vorgang nennt sich im Englischen interkinetic nuclear migration. Das beschreibt, dass sich die Zellkerne jeder Stammzelle zwischen den einzelnen Zellteilungen deutlich hin- und herbewegen. Biologen vermuteten, es könne sich dabei um sogenannte Zufallsbewegungen handeln, bei denen Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit zu jeder Zeit unabhängig vom bereits abgelaufenen Bewegungsprozess und zudem völlig unvorhersagbar sind. Und genau solche Zufallsbewegungen sind in der Physik extrem gut untersucht.

Anhand neuer Experimente meines Kollegen Afnan Azizi, eines Biologen, konnte ich analysieren, ob es sich bei den Zellkern-Bewegungen in der sich entwickelnden Netzhaut tatsächlich um Zufallsbewegungen handelt.

Zunächst fragten wir uns, warum die Bewegungen der einzelnen Zellkerne überhaupt wie Zufallsbewegungen aussehen. In Raum standen zwei frühere Vermutungen anderer Wissenschaftler. Beide basierten auf der Beobachtung, dass sich die Zellkerne für jede Zellteilung an einer bestimmten Seite des Gewebes befinden müssen. In der Netzhaut entspricht das der Außenseite, die von der Linse weg zeigt. Jeweils kurz vor der Teilung bewegen sich die Zellkerne dorthin. Eine Idee besagte, sie würden dabei andere Zellkerne quasi aus dem Weg schubsen. Die andere Vermutung war, dass die Positionierung der Zellkerne an der Gewebeaußenseite dort eine überhöhte Dichte von Kernen hervorruft und andere Zellkerne schlicht aus Platzgründen wegbewegt werden müssen. Beides könnte die Zellkern-Bewegungen während eines Großteils der Zeit wie Zufallsbewegungen erscheinen lassen. Wir zeigten jedoch, dass unsere Daten nur Hinweise auf den zweiten Mechanismus liefern. Die vorhergesagte hohe Dichte der Zellkerne an der Gewebeaußenseite existiert und wird im Laufe der Entwicklung sogar größer. Stoppt man die Zellteilungen im Experiment allerdings künstlich, nimmt die Dichte der Zellkerne an der Gewebeaußenseite ab und sie verteilen sich gleichmäßig. Diese Beobachtung passt gut zur Hypothese der Zufallsbewegungen.

Ein mit dieser Methode aufgenommenes Bild der Netzhaut, welche um die Linse in der Mitte herum gekrümmt ist. Zu sehen sind jeweils die Zellkerne der einzelnen Zellen in grün, jedoch nicht die Zellen selbst. Aus einer großen Menge solcher Bilder, aufgenommen zu verschiedenen Zeitpunkten der Entwicklung und in verschiedenen Ebenen des Fisch-Auges, konnte mein Kollege Afnan Azizi ein 3D-Video der Zellkernbewegungen im eingerahmten Bildausschnitt erstellen. ©Afnan Azizi, Anne Materne

Ich bemerkte zudem die Relevanz der Form des Auges. Die Netzhaut ist um die Linse herum gekrümmt und diese Krümmung muss berücksichtigt werden, wenn man die Anordnung und Bewegungen der Zellkerne im Gewebe korrekt beschreiben will. Das war in vorangegangenen biologischen Arbeiten meist nicht beachtet worden.

Basierend auf diesen Erkenntnissen begann ich nun, die Verteilung der Zellkerne in der Netzhaut als Funktion der Zeit mathematisch zu modellieren. Denn aus der Physik ist bekannt: Wenn Einzelteilchen eine Zufallsbewegung vollführen, so kann man zwar deren individuelle Bewegungen nicht vorhersagen, für die Verteilung aller Teilchen als Funktion der Zeit gibt es aber eine relativ einfache Formel. Ich betrachtete zunächst die Rolle der Zellkernposition während der Zellteilung sowie die Krümmung der Netzhaut. Dieses erste Modell passte jedoch nur zu einem Teil der Daten. Was fehlte? Wie bereits angedeutet, nimmt die Dichte der Zellkerne an der Gewebeaußenseite über die Zeit zu. Ich vermutete, dass es eine maximal mögliche Zellkern-Dichte im Gewebe geben könnte. Als ich diese explizit in mein Modell einfügte, passte es plötzlich zu allen Daten. Damit hatten wir ein wichtiges Ziel erreicht: Mein Modell hatte gezeigt, dass sich die Verteilung der Zellkerne in der Netzhaut basierend auf der Idee von Zufallsbewegungen erklären lässt; man muss dafür nur einige wenige biologische Beobachtungen berücksichtigen. Wahrscheinlich positionieren sich die Zellkerne zu einem bestimmten Zweck während der Zellteilung an der Außenseite des Gewebes. Mein Modell unterstützt nun die Vermutung, dass sie sich einfach aus Platzgründen nach der Zellteilung wieder von hier wegbewegen und zwar auf zufällige Art und Weise.

Doch auch bezüglich der Bewegungen einzelner Zellkerne konnte die Physik uns zu Fortschritten verhelfen. Denn auch wenn Zufallsbewegungen unvorhersagbar sind, so ist dennoch genau bekannt, wie man sie mithilfe eines Computers simulieren kann. Dafür berechnete ich zunächst aus meinen vorherigen Ergebnissen die Kräfte, die auf die Zellkerne wirken. Aus biologischer Sicht konnte es verschiedene denkbare Quellen für diese Kräfte geben. Ich führte also mehrere Simulationen der Zellkern-Bewegungen durch und berücksichtigte jeweils eine der möglichen Quellen. Im Vergleich mit den experimentellen Daten spiegelte nur ein zellinterner, nicht aber ein gewebeweiter Mechanismus die Eigenschaften der tatsächlich beobachteten Bewegungen wider. Nach diesem zellinternen Mechanismus ist bisher nicht eingehend experimentell gesucht worden – somit liefert das Ergebnis meiner physikalischen Modelle und Simulationen eine wichtige Ausgangsbasis für zukünftige biologische Forschungsarbeiten.

Zuletzt untersuchte ich die Auswirkung der Zellkern-Bewegungen auf die Form der äußeren Zellhülle, der Zellmembran. Hier nutzte ich ein bereits bekanntes physikalisches Zellmembranen-Modell, das ich auf den speziellen Fall der sich entwickelnden Netzhautzellen anwendete. Weil diese Zellen einen kleineren Durchmesser als ihre Zellkerne haben, beult jede Bewegung eines Zellkerns seine Zelle an der entsprechenden Stelle aus. Dies hatte schon in meinen Kraftberechnungen eine wichtige Rolle gespielt. Doch die genauere Analyse der Formveränderungen lieferte auch für sich genommen bedeutende Erkenntnisse. Insbesondere Unterschiede zwischen der Netzhaut- und Gehirnentwicklung lassen sich möglicherweise hierauf zurückführen, denn das Verhältnis der Größen von Zellkern und Zelle ist im Gehirn noch extremer als in der Netzhaut.

Bezüglich der Fragestellung, ob sich interkinetic nuclear migration als Zufallsbewegung beschreiben lässt, haben meine Arbeiten also wesentliche Beiträge geleistet. Unsere Datenanalyse und mein mathematisches Modell haben gezeigt, dass die Idee des Zufallsprozesses die Verteilung der Zellkerne im Gewebe erklärt. Zusätzlich haben meine Simulationen Hinweise geliefert, nach welchem Mechanismus für die Bewegung einzelner Zellkerne es sich in zukünftigen biologischen Experimenten zu suchen lohnt. Und schließlich könnten meine Ergebnisse bezüglich der Zellverformungen dazu beitragen, ähnliche Entwicklungsprozesse, beispielsweise den des Gehirns, besser anhand der Erkenntnisse aus der Netzhaut zu erklären.

Alle Pfade der Zellkernbewegungen in diesem Bildausschnitt. Zum Zeitpunkt einer Zellteilung befindet sich der entsprechende Zellkern immer an der äußeren, hier der “apikalen”, Oberfläche der Netzhaut. Zwischen den Zellteilungen werden die Zellkerne in scheinbar zufälliger Art und Weise von dieser Oberfläche wegbewegt. Da die Bewegung scheinbar zufällig abläuft, sind die Pfade der Zellkerne nicht geradlinig, sondern verlaufen zick-zack-förmig zwischen den beiden Oberflächen der Netzhaut. ©Afnan Azizi, Anne Materne

Und was springt hierbei für die Physik heraus? Um dies zu beantworten, möchte ich herausstellen, dass sich biologische und physikalische Systeme in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Probleme der Biologie zu bearbeiten, bietet uns Physikern also die Möglichkeit, unsere altbekannten Theorien neuen Tests zu unterziehen. Wir können dann sehen, ob Anpassungen notwendig sind und ob sich neue Resultate ergeben. Das geschah beispielsweise, als ich die Zufallsbewegungen einzelner Zellkerne im Computer simulierte. Zum Vergleich mit den Experimenten nutze ich eine Eigenschaft der Bewegungen, die sich mittlere quadratische Verschiebung nennt. Im Fall der Zellkerne erhielt ich eine mittlere quadratische Verschiebung, die exakt wie die der simpelsten physikalischen Zufallsbewegung aussah. Nur war mein Modell sehr viel komplexer, unter anderem aufgrund der maximalen Zellkern-Dichte. Entscheidend war also, die mittlere quadratische Verschiebung korrekt zu interpretieren. Auf diese Weise ergaben sich aus der anfangs biologischen Fragestellung auch neue physikalische Erkenntnisse.


Anne Materne begeistert sich für alle Zweige der Naturwissenschaften. Daher studierte sie von 2009 bis 2015 Physik und parallel dazu von 2009 bis 2013 Molekulare Biotechnologie an der Technischen Universität Dresden – eine Kombination, die ihr Grundlagenwissen in Physik, Mathematik, Biologie und Chemie ermöglichte. In ihrer Forschungsarbeit möchte Frau Materne nun Brücken zwischen den einzelnen naturwissenschaftlichen Disziplinen schlagen. Nach einem einjährigen Studienaufenthalt in den USA arbeitete die Physikerin während ihrer Promotion in Angewandter Mathematik und Theoretischer Physik an der University of Cambridge, GB, entsprechend eng mit Biologen zusammen. Inzwischen ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden und auch hier im Bereich der Biologischen Physik interdisziplinär tätig.

5 Kommentare

  1. Wird in der Natur bei der Beobachtung von Entitäten großer Menge, besondere Komplexität ist mitgemeint, bestimmte Richtung von Entwicklung beobachtet, ist man mit dem Zufall für so gemeinte Beschreibung meist gut bedient.
    Statistisch, stochastisch gerade auch kann dann oft passend modelliert werden.
    Dies hängt auch damit zusammen, dass das erkennende Subjekt die Natur ausschnittsartig, näherungsweise und an Interessen (!) gebunden erfasst.

  2. Die hier vorgestellte Arbeit und Arbeitsweise erinnert mich etwas an die statistische Physik obwohl hier ja die Biologie der Hintergrund ist und nicht das (Zitat Wikipedia) physikalische Verhalten von Vielteilchensystemen wie Festkörpern, Flüssigkeiten und Gasen. Doch das ist wohl kein Zufall: während in der statistischen Physik die einzelnen Elemente (die kleinsten Dinge also) Atome sind, sind es in der Biologie die Zellen und diese Zellen übernehmen nun die Rolle der Atome aus der statistischen Physik.

    Interessant finde ich an dieser Betrachtungsweise auch, dass der heute in der Physik, Biologie und Philosophie so wichtige Begriff Emergenz, einen seiner Ursprünge ebenfalls in der statistischen Physik hat. So spielt die Temperatur in der Physik an vielen Stellen eine Rolle, doch eine bestimmte Temperatur entspricht keinem elementaren physikalischen Phänomen, sondern einem kollektiven Phänomen: Es entsteht also etwas Messbares, etwas recht Konkretes, aber dieses Konkrete hat keine direkte Entsprechung in einer einzelnen Komponente des Systems, in der es auftaucht, sondern es hat eine Entsprechung in einem Prozess des Systems, einem Prozess, der auf dem kollektiven Verhalten von „Atomen“ des Systems beruht.

    In der hier vorgestellten Arbeit ist das Fischauge das emergente Phänomen und die Augen-Zellen sind die „Atome“, deren kollektives Verhalten schliesslich auf fast magische Art und Weise etwas so „reines“ und klares wie ein Auge schaffen.

    Meta-Physik: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“

    • Es ist wohl so, dass das Auge Teil des Gehirns ist, als Prototyp des Gehirns sozusagen angefangen hat, denn Visuelles gilt es ja auch zu bearbeiten, ansonsten wäre so nutzlos.
      So ein Auge muss sich aber auch um seine Umgebung kümmern, es muss dann schauen, es kann in diesem Zusammenhang nicht “wirklich” immer zielgerichtet und gelenkt schauen, sondern es hat sich umzuschauen, die derart biologisch dann angeleiteten Prozesse könnten sinnhafterweise als zufällig (Vorsicht : Niemand weiß, was der Zufall ist!) betrachtet werden.
      Randbemerkung :
      Zellen sind in der Biologie nicht ‘die kleinsten Dinge’.
      Randbemerkung-2 :
      Die sog. Emergenz meint in der Naturwissenschaft die Menge von (interpretierbaren) Phänomenen.

      Mit freundlichen Grüßen
      Dr. Webbaer

      • @Dr. Webbaer (Zitat): „Zellen sind in der Biologie nicht ‘die kleinsten Dinge’.
        Das hängt von der Fragestellung und Betrachtungsweise ab. Analog könnte man auch sagen: Atome sind in der Physik nicht die kleinsten Dinge.

        Zitat 2: Die sog. Emergenz meint in der Naturwissenschaft die Menge von (interpretierbaren) Phänomenen.
        Das ist zu allgemein. Damit wäre fast alles emergent.

        Die deutschsprachige Wikipedia definiert Emergenz folgendermassen: „Emergenz (lateinisch emergere „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“) bezeichnet die Möglichkeit der Herausbildung von neuen Eigenschaften (Systemeigenschaften) oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente.
        Oder kürzer: Eine Eigenschaft eines Systems/Dings ist emergent, wenn sie nicht allein mit einer einzigen Komponente des Systems/Dings erklärt werden kann.

  3. Es sollte beides, ad 1, nicht gesagt werden.
    Ad 2 ist es so, dass die sog. Emergenz immer beim erkennenden Subjekt eine gewisse Überraschung meint, ein soz. soziologischer Begriff könnte vorliegen, ohne besonderes Hervorkommen keine sog. Emergenz. (Es darf auf diesen Begriff also verzichtet werden?!)
    MFG
    WB

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