Unani, Medizin und Esoterik

BLOG: Indische Medizin im Wandel

Der Forschungsblog
Indische Medizin im Wandel

In unserem Blog begegneten wir schon öfter der Frage, ob die graeco-islamische Medizin (in ihrer modernen Form in Indien auch Unani Medicine genannt) nicht „esoterisch“ sei. Frühere Beiträge diskutierten bereits, wie Unani Medicine entstanden ist und warum wir sie im Kontext unseres Forschungsprojekts untersuchen. Heute möchte ich eine ethnologische Perspektive auf die Thematik über Medizin und Esoterik diskutieren. Am sinnvollsten erscheint es mir, mich zunächst mit den Definitionen zu befassen.

Was ist eigentlich Medizin? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, wie es im ersten Augenblick den Anschein erweckt. Medizin wird als etwas so Selbstverständliches betrachtet, dass viele Bücher, die sich mit Medizin befassen, keine Begriffserklärung liefern. Medizin ist viel mehr als die „Wissenschaft vom Gesunden und kranken Organismus des Menschen, von seinen Krankheiten, ihrer Verhütung und Heilung“ (http://www.duden.de/suchen/dudenonline/medizin). Für Medizinhistoriker und Medizinethnologen ist Medizin eine analytische Kategorie, die es ermöglichen soll, nicht nur das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung zu verstehen, sondern das  damit verknüpfte menschliche Denken und Handeln im Allgemeinen. Dabei ist zu beachten, dass das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung nicht nur regional variiert, sondern auch historisch stets im Wandeln war und ist. Man ist besser beraten, wenn man von Verständnissen redet, da wir es immer mit verschiedenen Interpretationen zu tun haben.

Heutzutage hat die Schulmedizin in Deutschland eine zweifellos hegemoniale Stellung in unserer Gesellschaft, da unser Gesundheitssystem überwiegend, aber nicht exklusiv, diese spezifische Form von medizinischem Verständnis und Praxis unterstützt. Wissenschaftlichkeit, d.h. die systematische Überprüfung der medizinischen Grundlagen und Vorgehensweisen, ist heute eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Anerkennung einer Medizinform. Einer der Gründe dafür ist unser leistungsorientiertes Gesundheitssystem, das nur für Behandlungen zahlt, deren Effektivität bewiesen ist. Daher wurde es wichtig, beispielsweise die Effektivität von bestimmten Behandlungen, insbesondere mit Blick auf Preis-Leistungsverhältnisse, zu überprüfen, damit sie vom System unterstützt werden. Aber was bestimmt diese Effektivität? Welche Rolle nehmen die subjektiven Wahrnehmungen des Patienten und die „objektiven“ Messungen des Gesundheitspersonals ein? Es ist nicht meine Absicht, hier die Wissenschaftlichkeit der Biomedizin in Frage zu stellen. Vielmehr versuche ich, durch diese Fragen zu verdeutlichen, dass das, was wir als wissenschaftlich begreifen, auch nur Ausdruck eines bestimmten Verständnisses von Gesundheit, Krankheit und Heilung ist, das in unserer Zeit eine dominierende Stellung eingenommen hat und das durch bestimmte Gegebenheiten (z.B. das wirtschaftliche System) geprägt ist.

Esoterik, auch Grenzwissenschaft genannt, deutet auf Weltanschauungen und Praktiken, die nicht wissenschaftlich überprüft werden können. Es wird leicht auf verschiedene Formen der Medizin übertragen, die von der dominanten Biomedizin abweichen. Aber in wie weit ist es legitim, eine Medizinform als Esoterik zu bezeichnen, wenn sie nicht in unsere Weltanschauung passt? Ist es nicht ethnozentrisch, andere Verständnisse von Gesundheit, Krankheit und Heilung als minderwertig zu betrachten, nur weil sie anders als die eigenen sind? Und welchen Anspruch haben Europäer (oder Menschen, die in einer post-industrialisierten säkularen gesellschaftlichen Ordnung verankert sind) die Wissenschaft, wie sie sie verstehen, auf andere Weltanschauungen zu übertragen?

Nicht umsonst heisst dieser Blog „Indische Medizin im Wandel“. Medizin bleibt wie jeder gesellschaftliche Aspekt nie statisch. Ebenso verändern sich auch Weltanschauungen. Es geht uns nicht darum, die Unani Medicine und alternative Medizinformen als richtig oder falsch zu bewerten, sondern darum zu verstehen, in wiefern sie eine Kultur (oder mehrere Kulturen) widerspiegeln und wie verschiedene Akteure durch Medizin und Wissenschaftsdiskurse ihre eigenen Weltanschauungen als wahr darzustellen versuchen. Mit anderen Worten: wir gehen nicht der Frage nach, ob Unani Medicine esoterisch oder wissenschaftlich ist, sondern untersuchen was hinter Darstellungen von Unani als wissenschaftlich steckt.

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Veröffentlicht von

Kira Schmidt Stiedenroth, MA, studierte Ethnologie und moderne Indologie (Urdu) mit Schwerpunkt Medizinethnologie am Südasien Institut der Universität Heidelberg. Sie hat, u.A., Feldforschung über Unfruchtbarkeit bei Baloch Frauen in Pakistan betrieben. Seit 2011 arbeitet sie an ihrer Promotion über gegenwärtige Institutionen und Praxen der Unani Medizin in Indien. Kira Schmidt Stiedenroth studied Cultural Anthropology and Modern South Asian Languages and Literatures (Urdu) with focus on Medical Anthropology at the South Asia Institute, Heidelberg University. She has, among others, conducted fieldwork on infertility among Baloch women in Pakistan. She is working since 2011 on her PhD thesis about contemporary institutions and practices of unani medicine in India.

94 Kommentare

  1. Zentrismen

    Ist es nicht ethnozentrisch, andere Verständnisse von Gesundheit, Krankheit und Heilung als minderwertig zu betrachten, nur weil sie anders als die eigenen sind?

    (Da stand mal ein vglw. zynischer Kommentar, der demzufolge nicht mehr da steht und somit nicht zur Publikation gelangte.)

    Mja, die Medizin ist eine Erfahrungswissenschaft mit Grenzen zur sog. Wellness, also, ja, da geht viel.

    ‘Ethnozentrisch’ war aber vielleicht doch ein wenig grell.

    MFG + GL
    Dr. W

  2. angewandte Wissenschaft

    Für mich ist Medizin angewandte Wissenschaft, die sich wie jede Wissenschaft durch Erkenntnis wandelt, von der es jedoch gar keinen Sinn macht von “Schulmedizin” oder von “Medizinform” zu sprechen, ebensowenig wie von Schulmathematik oder Mathematikform. Es gibt sicher kulturelle Besonderheiten, so dass Compliance (und dadurch z.B. auch Selbstheilung) sich anders gestaltet und sicher gibt es in Hinblick auf die genetische Konstitution einige wenige Besonderheiten. Doch dass rechtfertigt nicht die obige Unterscheidung.

    Natürlich ist deswegen Unani zu erforschen nicht gleich uninteressant. Ganz sicher nicht. Aber ist es dazu wirklich hilfreich Begriffe so zu dehnen? 

  3. In der Medizin zählt nicht dieOrthodoxie

    wie sie mit (Zitat)“.. die systematische Überprüfung der medizinischen Grundlagen und Vorgehensweisen, ist heute eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Anerkennung einer Medizinform “ andeuten, sondern letztlich der Heilerfolg und damit die Heilung von (Zitat Wikipedia) “Störungen der Funktion eines Organs, der Psyche oder des gesamten Organismus.”, was im Idealfall zur Gesundung oder gar zur Gesundheit als “„Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens” führt.

    Doch viele behaupten sie könnten heilen und nur wenige lassen sich in die Karten schauen, heisst: Überprüfen systematisch den Zusammenhang zwischen dem ärztlichen Handeln und dem Heilungserfolg. Genau das ist aber der Anspruch der evidenzbasierten Medizin. Diese beruht auf dem “aktuellen Stand der klinischen Medizin auf der Grundlage klinischer Studien und medizinischen Veröffentlichungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen.”

    Das ist genau das, was der Kommentator Markus A.Dahlem mit “Medizin als angewandte Wissenschaft” meint.

    Es erscheint seltsam und unbegründet abwertend von “Schulmedizin” zu sprechen, wenn man von einer Praxis spricht, die fundiertes Wissen benutzt und die nicht unwesenltich dazu beigetragen hat, dass die Lebenserwartung von Menschen von weniger als 40 Jahren in der Zeit und an den Orten, an denen es diese “Medizinform” nicht gab oder gibt auf deutlich über 70 Jahre dort wo sie praktiziert wird, gestiegen ist.

    Auch die Bezeichnung Biomedizin in ihrem Artikel irritiert. “Biomedizin ist eine Teildisziplin der Humanbiologie im Grenzbereich von Medizin und Biologie. Sie ist ein interdisziplinäres Fachgebiet, das Inhalte und Fragestellungen der experimentellen Medizin mit den Methoden der Molekularbiologie und der Zellbiologie verbindet. Im Mittelpunkt stehen die molekularen und zellbiologischen Grundlagen des Lebens und seiner krankhaften Veränderungen”

    Die heute auf den Patienten losgelassene Medizin ist nicht die Biomedizin, sondern die evidenzbasierte Medizin. Der Terminus “Biomedizin” kann im Zusammenhang ihres Artikels nur abwertend gemeint sein. Das passt dann auch gut zum Satz: “Ist es nicht ethnozentrisch, andere Verständnisse von Gesundheit, Krankheit und Heilung als minderwertig zu betrachten, nur weil sie anders als die eigenen sind?” Das kann man nicht als Ausweitung der Kampfzone, sondern nur als Schaffung einer Kampfzone bezeichnen, die die “Schulmedizin” nicht betreten will und auch gar nicht betreten muss. Denn nicht minderwertig sind viele alternative Formen der “Heilkunst”, sondern schlicht wirkungslos und falsche Erwartungen weckend.

  4. Aber in wie weit ist es legitim, eine Medizinform als Esoterik zu bezeichnen, wenn sie nicht in unsere Weltanschauung passt?

    Es ist eigentlich ganz einfach und unabhängig von der “Weltanschauung”. Medizin ist Medizin, wenn Sie nachgewiesenermaßen wirkt. Anekdotische Erzählungen und der Verweis auf Traditionen sind keine Nachweise. Was zählt, sind kontrollierte Studien.

  5. Vorsicht!

    Die durchaus zutreffende Beobachtung, daß Medizin (im weitesten Sinne: Die auf Erfahrungswissen basierende Praxis der Behandlung von Krankheit) sich stets verändert, darf bitte nicht zu einer Relativierung verschiedener medizinischer Standards führen. Allzu leicht wird sonst der Eindruck erweckt, als sei die oben als “Schulmedizin” bezeichnete Art und Weise der Krankheitsbehandlung nur eine zufällige, insgesamt beliebige Spielart – und folglich dürfe man von westlicher Position keine Kritik an anderen Praktiken üben, diese nicht als “Esoterik” kennzeichnen etc.

    Die Erforschung der in ihrem kulturellen, wie auch historischen Kontext sicherlich hochspannenden “indischen Medizin” halte ich für legitim und würde mich freuen, wenn darüber gebloggt würde. Dabei sollte man aber bei aller Faszination für seinen Forschungsgegenstand nicht vergessen, daß man natürlich andere Weltanschauungen und Kulturen respektieren kann und sollte, die Frage einer effizienten medizinischen Behandlung aber eben keine Sache der Weltanschauung ist.

  6. Um das mal gleich klarzustellen: Schulmedizin ist Bullshit, es gibt sie nicht. Das, was Sie meinen, heißt schlicht und ergreifend Medizin.

    Ich finde es immer wieder faszinierend, dass Menschen glauben, in der Medizin ginge es nur um physiologische Prozesse und nicht um den Menschen oder das Tier. Dem ist – das mag Sie jetzt überraschen – nicht so. Auch in der Tierhaltung, welche ich beurteilen kann, geht es um Stressfaktoren, die sich negativ und tatsächlich sehr real auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Tiere auswirken.

    Also ziehen Sie hier bitte keine merkwürdigen Trennlinien und versuchen Sie das dann auch nicht als wissenschaftlich zu verkaufen.

  7. Symptome eines Defizits

    Die historisch und kulturell unterschiedlichen Verständnisse von Krankheit und Heilung gehen darauf zurück, dass weder Ursachen noch Heilung systematisch greifbar waren und sich die Leute schlicht ihren eigenen Reim darauf gemacht haben, was mit ihnen passiert. Das als Medizin zu bezeichnen ist im historischen Kontext legitim, aber im Grunde nur Symptom eines Defizits.

    Inzwischen nämlich sind Mediziner sehr wohl in der Lage, Ursachen und Heilungsverfahren systematisch zu erforschen und auf dieser Basis Krankheiten zu heilen, die man vorher nicht behandeln konnte. Dieses streben nach Heilung ist der Kern aller bisherigen “medizinischen” Systeme, auch von Unani, und daran muss man jede Medizin messen.

    Und in dieser Hinsicht sind die historischen Systeme unserer modernen wissenschaftsbasierten Medizin in beispielloser Weise unterlegen. Deswegen sind sie im engeren medizinischen Kontext kaum mehr als eine Fußnote, ungeachtet ihrer kulturhistorischen Bedeutung.

    Um die Frage im Beitrag zu beantworten: Historische medizinische Praktiken, die im Wesentlichen medizinische Hilflosigkeit managen, mit moderner Medizin gleichzusetzen ist Esoterik.

  8. Medizin lehren und lernen

    Interessant, zu welcher Lektüre man hier (durch verschiedene Querverweise) kommen kann – da, in diesem früher mal als Soziotop bezeichneten Bereich üben sich wohl einige Kommentatoren “in Höflichkeit”.
    Ja, auch mir geht’s so: wenn ich das Wort “Schulmedizin” höre, höre ich auch merkwürdige Zwischentöne. Man sollte aber doch wohl als Menschheitsfortschritt festhalten, dass Medizin gelehrt wird und zu lernen ist. Dazu braucht’s “Schulen”, Universitäten. Und für alle, die da was lehren und lernen, die entsprechende Bewährung in der Praxis.
    Nun, was mir hier insgesamt fehlt:
    Greifbare Unterscheidungsmerkmale der hier genannten “Medizinformen”.
    Verlasse ich deshalb ein bisschen das eingangs genannte Üben:
    Habe ich was übersehen oder kommt’s noch? Jedenfalls mir kommt dieser Blogpost in Kombination mit dem letzten so vor, wie wenn jemand einen Ausstellungsstand mit verschiedensten Katalogen zu Arzneien und anderen schon zur Heilung eingesetzten Mitteln aufbaue – von verschreibungspflichtigen Dingen, über Homöopathisches, Wärmflaschen, Prothesen, Kräuter, Steine, Horoskope. (Heilige Bücher müsste gerade ich ja auch noch nennen.) Dann aber die Mittel selber gar nicht parat hat und ihre Wirkung nicht im Einzelnen erklärt und begründet sondern nur sagt: Ja, die verschiedenen genannten Dinge seien weltanschaulich unterschiedlich zu bewerten, aber bitte nicht mit unseren Vorurteilen zu belasten. Ein bisschen auch wie Musikunterricht, in dem über verschiedene Rhythmen und ihren kulturellen Hintergrund geredet wird, aber kein konkretes Beispiel vorgeführt wird…
    Wie gesagt: Habe ich was übersehen oder kommen die konkrten Beispiele und Begründungen noch?

  9. Alternativmedizin+Krankenkasse

    Die historische, an vielen Orten reaktivierte Medizinform Unani unterscheidet sich prima vista nicht von anderen Alternativtherapien was den Nachweis der Wirksamkeit betrifft – dieser ist nicht erbracht oder es gibt sogar schädliche Wirkungen aufgrund von dort verwendeten Phyto- oder anderen Therapien.

    Trotzdem sind alternativmedizinische Behandlungen in einigen Ländern schon fester Bestandteil des Gesundheitssystems. In der Schweiz werden entsprechende Therapien von der Krankenkasse vergütet, in Deutschland liest man davon, dass Krankenkassen für Homöopathie kämpfen.
    Es ist nicht zwingend, dass Patienten, die auf Alternativmedizin setzen, teurer sind für die Krankenkassen. In seltenene Fällen werden sie vielleicht ungenügend behandelt oder sterben gar in Folge einer alternativmedizinischen Fehldiagnose, die zu einer falschen Behandlung geführt.
    In den meisten Fällen leben solche Patienten jedoch gesünder: Sie rauchen seltener, es gibt nur wenig Alkoholiker und Kampftrinker unter den Alternativmedizin-Überzeugten.

    Meiner Ansicht fahren aber viele Menschen, die auf Alternativferfahren schwören, längerfristig dennoch schlechter. Die Medizin verbessert sich nämlich ständig. Vor allem die Diagnoseverfahren werden besser und potenter, allerdings auch teurer. Das Risiko, dass bei Personen, die nur Alternativmedizin in Betracht ziehen, etwas übersehen wird steigt meiner Ansicht nach mit dem Fortschritt der Medizin. Wenn solche Patienten aufgrund eines übersehenen Leidens früher sterben, mag das für die Krankenkassen sogar eine Entlastung sein, für die Patienten ist es aber in der Regel ein Verlust.

  10. Medizin ist in der Tat nicht statisch,

    was man ja an der enormen Entwicklung der Medizin sehen kann.
    Medizin hat aber nichts mit Weltanschuung zu tun, ebenso wenig wie ein Motor oder eine Kamera. Allerdings hat Krankheit und Heilung eben auch eine psychologische Seite – die wiederum kulturell geprägt ist – in dieser Reihenfolge. Also z.B. welche Placebos wie wirken, welche Verstärkungen funktionieren usw., aber auch was aus psychischen Gründen krank macht unterscheidet sich kulturell. In verscheidenen Kultzuren gibt es unterscheidliche Stressoren – auchkörperbezogene Gewohnheiten, die Wahrnehmung des eigenen Körpers und die Dinge, die als krank definiert werden. Aber Malaria bleibt nun mal Malaria und da entscheidet lediglich die Wirksamkeit einer Behandlung sowohl in der Prophylaxe als auch in der Behandlung.
    Wenn gemeint sein sollte, dass man Krankheit als schlechtes Karma o.ä. zu sehen, wird es dann doch eher problematisch – weder ‘gestörte’ Energiefelder noch falsches (als schuldhaftes Handeln gesehenes Tun) erzeugen Krankheit, Schuldgefühle (wegen kulturell definierter ‘Schuld) können sich krank machend auswirken.
    Und natürlich sollten die Kassen nur bezahlen, desssen Wirksamkeit nachgewiesen ist – schließlich sind sie weder Museum noch Biotop.

  11. Völlig falsch

    “In den meisten Fällen leben solche Patienten jedoch gesünder: Sie rauchen seltener, es gibt nur wenig Alkoholiker und Kampftrinker unter den Alternativmedizin-Überzeugten.”

    Das ist eine conditio sine qua non und keine Folgerung. 6, setzen.

    Ansonsten strotzt der Artikel nur von halbwissen, echt peinlich für ein “wissenschichen Log”.

  12. Erklärungen

    Ich möchte mich erst mal für die Kommentare und Kritik bedanken, wo Sie alle ein Problem unserer Arbeit angesprochen haben: die Begrifflichkeit von „Medizin“.

    Zunächst möchte ich ein paar Erklärungen liefen:

    1. Ich habe versucht, Medizin als Gegenstand ethnologischer Forschung zu diskutieren. Und aus solcher Sicht hat der Begriff „Medizin“ ein viel breiteres Verständnis als „angewandte Wissenschaft“ oder „evidenzbasierte Medizin“. Das Medizinverständnis von Dilger und Hadolt trifft es auf den Punkt: „“Medizin in ihrer Vielfalt: als Befindlichkeit, Substanz oder Technologie, Ideengefüge, Geflecht von Praktiken, symbolische Ordnung, Gegenstand sozialer und religiöser Beziehungen, gesellschaftliche Domäne und als Bestandteil ethnischer, nationaler und internationaler Politiken – und schließlich als teilweise spannungsgeladene Relationen und Überschneidungen derselben“ (2010: 17f.).

    2. Es war nicht meine Absicht, die Begriffe „Schulmedizin“ oder „Biomedizin“ abwertend zu benutzen. Aber eine Begriffsunterscheidung bleibt nötig, weil beispielsweise Unani Medicine aus ethnologischer Perspektive auch Medizin ist, ist aber anders als „Schulmedizin“. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Begriffe problematisch sind. Aber solange wir keine Alternative finden, müssen wir sie noch benutzen. Daran arbeiten wir.

    3. Ich hinterfrage die Erfolge der „modernen Medizin“ (es scheint keinen neutralen Begriff hierfür zu geben!) nicht und versuche auch nicht, Alternativmedizin als wissenschaftlich darzustellen, wie es mir vorgeworfen wird. Mir geht es darum, zu verdeutlichen, dass Medizin als „Großkonzept“, wie oben erklärt, im Gegensatz zur Mathematik, nicht universal ist. Als Beispiel hierfür dienen zahlreiche empirische Studien aus der Medizinethnologie (siehe unten). Ob die Universalität der Medizin erstrebenswert ist (was die meisten Kommentatoren als selbstverständlich sehen) bleibt eine dringende Frage, aber damit beschäftige ich mich hier nicht, denn als Sozialwissenschaftlerin liegt es außerhalb meiner Kompetenzen und Absichten, festzustellen, welche Form der Medizin in ihrer Heilungsfunktion besser oder schlechter ist. Ich glaube, dass genau dieser letzter Punkt nicht deutlich bei den Lesern ankam und ich möchte es hier nochmals ausdrücklich klar machen.

    Was aus den Kommentaren deutlich wird, ist, dass eine den Naturwissenschaften nahe Perspektive ein anderes Selbstverständnis von „Medizin“ als die Medizinethnologie hat. Und genau deshalb ist es wichtig, solche Diskussionen zu führen. Ebenso wichtig für mich als Ethnologin ist festzustellen, dass Begriffe, die im Fach sich schon etabliert haben, hier im Forum sehr stark kritisiert werden. Aber, nur weil man sich mit solchen Fragen beschäftigt gleich als Vertreter der Alternativen Medizin bezeichnet zu werden, ist meiner Meinung nach unfair.

    Für weitere Einblicke in das Verständnis von Medizin als Gegenstand ethnologischer Forschung und empirischer Studien, die sich mit der Vielfältigkeit von Medizin als „Großkonzept“ beschäftigen, empfehle ich:

    Dilger, Hansjörg / Hadolt, Bernhard (Hrsg.) Medizin im Kontext. Krankheit und Gesundheit in einer vernetzten Welt. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien, 2010.

  13. @Kira

    Lieben Dank für die Klarstellung. Ja, die einzelnen Wissenschaftsbereiche entwickeln (wie jede andere Menschengruppe auch) eigene Begriffe und Argumentationsmuster, die “außerhalb” oft ganz anders oder gar nicht ankommen. Und die deutschsprachigen Wissenschaftsblogs sind noch immer dominant männlich und (pseudo-)rationalistisch orientiert, Frauen und religiöse Menschen werden da gerne und mit viel Testosteron angemobbt.

    Mein Tip: Die sachlichen Kritiken als tolle Chance zur gedanklichen und begrifflichen Weiterentwicklung annehmen. Und das manchmal auf Blogs, Twitter etc. zu beobachtende, unsachliche Alpha-Männchen-Getue einiger schmunzelnd analysieren. Willkommen in der real existierenden Blogosphäre! 🙂

  14. @Kira Schmidt Stiedenroth

    Zu Punkt 2)
    Ein Problem ist vielleicht, dass Sie im dritten Absatz des Artikels den Begriff “Schulmedizin” durchaus abwertend benutzen. Dort legen Sie nahe, die Ärztinnen und Ärzte, die diese Medizin anwenden, würden “insbesondere mit Blick auf Preis-Leistungsverhältnisse” agieren und dabei die “subjektiven Wahrnehmungen des Patienten” außer Acht lassen. Das Sie mit dieser Einstellung hier auf Gegenwind stoßen, sollte nicht überraschen.

    Es ist sicher aus ethnologischer Sicht interessant, sich mit anderen Medizinbegriffen auseinanderzusetzen. Was mir nicht klar ist, warum es so wichtig ist, dass diese Medizinsysteme keine Esoterik sind. Vielleicht müssen wir einfach hinnehmen, dass Esoterik Teil unserer Gesellschaft ist.

  15. @ Hermann Aichele

    Sofern es meinen letzten Beitrag betrifft (den VOR diesem heiß diskutierten ethnologischen): Ja, da kommt noch eine Menge nach, denn dieser Beitrag war gewissermaßen nur die Einleitung zu einer Kette von Darlegungen. Daher habe ich ihn zum Auftakt einer “Serie” gemacht. So läßt sich dann hoffentlich auch der inhaltliche Bogen über mehrere Wochen hinweg spannen. Wie weit es die angesprochenen Fragen klären wird, bleibt abzuwarten. Schließlich stellen wir hier “work in progress” vor. Ist ja auch der Sinn eines Forschungsblogs: Daß man Anregungen aufnehmen kann, solange man mit der Arbeit noch NICHT fertig ist. 😉

    Grundsätzlich zum Eindruck des “Gemischtwarenladens” (wenn ich das richtig verstanden habe): Wir schreiben hier ja zu viert und aus sehr unterschiedlichen Perspektiven über unsere Arbeitsbereiche. Diese Arbeitsbereiche verbindet, daß sie allesamt auf die “Unani Medicine” oder deren historische Vorläufer bezogen sind.

    Zur Vorstellung unserer Arbeit und unserer Überlegungen gehört natürlich auch, daß wir unsere jeweiligen Begrifflichkeiten und Zugänge erklären und uns über das äußern, was wir jeweils als Gegenstand bearbeiten. Hier ging es um ethnologische Begrifflichkeiten und Perspektiven, die sich zum Glück von denen der Naturwissenschaften unterscheiden. Kira hat das in ihrem Kommentar ja schon ganz gut erläutert.

    Bei mir geht es dagegen um eine historische Perspektive, die ziemlich weit in die Vergangenheit zurückreicht. Das führt dazu, daß ich den Blick der Vertreter der “Unani Medicine” auf ihre eigene Vergangenheit und Tradition nicht unproblematisch finde. Aber das werden folgende Beiträge noch zeigen.

  16. Danke für die Antwort, Kira.

    Wie du siehst, hast du da in ein Wespennest gestochen. Die online-Auseinandersetzung mit Esoterikern aller Couleur, Impfgegnern, AIDS-Leugnern, Para-und Pseudowissenschaftlern, etc. ist seit Jahren ein Leitthema in Wissenschaftsblogs und dein Artikel hat einige Alarmglocken schrillen lassen.

    Zur Begrifflichkeit: Evidenzbasierte Medizin.

    @Michael Blume. Das Sie mit ihren Thesen in deutschsprachigen Wissenschaftsblogs einen schweren Stand haben, ist unbestritten. Die Unterstellung, dass die Sie kritisierenden Blogs frauenfeindlich sind ist hingegen schlicht falsch und, wie ich finde, ungeheuer.

  17. @Tobias

    Oh, da haben Sie aber etwas falsch verstanden. Ich habe alles andere als einen “schweren Stand”, sondern kann oft immer noch gar nicht glauben, wie gut es national und international läuft! Mir hat es noch nie soviel Freude gemacht und die Resonanz (Einladungen, Bücher, Zitationen etc.) ist mehr als erfreulich! Also danke für Ihre “Sorge” – die ist hier wirklich nicht nötig! 🙂

    Am Anfang habe ich mich über das Online-Macho-Gehabe einiger Leute einfach noch gewundert, inzwischen schmunzele ich darüber. Denn dieser übertrieben scharfe und abwertende Ton, den einige auch gleich auf Twitter gegen Kira Stiepenroth und die Chronologs eingeschlagen haben, wird ja in der Blogosphäre seit Jahren beobachtet und diskutiert, z.B. in der ZEIT:
    http://www.zeit.de/…1-02/internet-frauen-maenner

    Und auch die Piraten diskutieren ja inzwischen über ihre “Diskussionskultur” und die für jeden sichtbaren Folgen…

    Mir war einfach wichtig, dass Kira und ihre Mitbloggerinnen sich nicht von den typischen Online-Macho-Rempeleien abschrecken lassen, sondern die sachliche Kritik sachlich nehmen und den Rest als Chance für ethnologische Feldforschung in der Online-Welt betrachten (und gerne auch beschmunzeln) können. Dann macht Bloggen nämlich richtig Spaß! 🙂

  18. OMG

    ‘Online-Macho-Gehabe’ zu unterstellen, ist aber ganz merkwürdig, wenn ein Artikel so viel Angriffsfläche bietet, Herr Blume.

  19. @Webbär

    Wenn Leute bei neuen Bloggerinnen gleich gezielt nach “AngriffsfFläche” suchen, so ist der leider so gängige (und im Kern tragikomische) Online-Machismo doch schon perfekt umschrieben. Danke dafür, Webbär! 🙂

  20. @Blume: zu Ihrem OMG-Vorhalt

    Es bleibt trotzdem falsch bei Kritik den Kritisierenden anzugehen und nicht die Kritik selbst.

    MFG
    Dr. W (der gerne noch wissen würde, was beim Beharren auf die Moderne Wissenschaftlichkeit, die den Ideen und Werten der Aufklärung folgt, ‘ethnozentrisch’ sein soll)

  21. @ Markus A. Dahlem

    Ich habe keine Ahnung von Mathematikgeschichte, aber wenn es zu verschiedenen Zeiten und/oder in verschiedenen Regionen unterschiedliche Auffassungen darüber gegeben hat bzw. gibt, wie Mathematik funktioniert, dann kann man sehr wohl von unterschiedlichen “Formen” oder auch “Traditionen” von Mathematik sprechen. Und wenn es solche unterschiedlichen Auffassungen nicht gegeben hat bzw. gibt, dann hinkt der Vergleich mit der Medizin gewaltig.

    Ich würde auch gern mal hören, ob sich Mathematiker in dieser Parallelisierung von Medizin und Mathematik wiederfinden.

  22. unterschiedliche Formen von Medizin

    Ich finde es hochinteressant, wie weit die Welten von Geistes- und Naturwissenschaftlern auseinanderzuliegen scheinen.

    Wenn ich recht verstehe, ist der Gedanke hinter der Kritik an der Rede von verschiedenen “Formen” von Medizin, daß Medizin ein globales Unterfangen ist, das immer und überall dieselben Ziele verfolgt, und daß die moderne westliche/evidenzbasierte Medizin/Schulmedizin (im Sinne der bei uns an Universitäten unterrichteten Medizin) durch ihre korrekteren Erkenntnisse, ihre besseren Methoden und ihre damit verbundenen Erfolge die ältere Medizin abgelöst hat. In diesem Sinne hat es dann immer nur die eine umfassende Medizin gegeben, die sich lediglich mit der Zeit (z.T. massiv) zum Besseren verändert hat. Diese Sichtweise trägt aber nicht der Tatsache Rechnung, daß es GLEICHZEITIG unterschiedliche Ansätze zur Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit gegeben hat und gibt – und damit meine ich nicht mal die “Unani Medicine”, die sich den Wissenschaftlichkeitskriterien der Schulmedizin ja durchaus unterwirft. Wenn ich das recht verstehe, ist der Vorschlag, von der “evidenzbasierten Medizin” abweichende Ansätze einfach nicht als “Medizin” zu bezeichnen, sondern als “Esoterik” oder “Hokuspokus” etc. Möglicherweise ist das eine Sicht der Dinge (und der Welt), die Naturwissenschaftler für richtig halten. Geisteswissenschaftler sehen das anders. Für uns ist das unter anderem ethnozentrisch, weil sich diese Sicht der Dinge ausschließlich auf an der europäischen Entwicklung ausgebildet hat und weil wir einen anderen (viel weiteren) Begriff von Medizin verwenden. Für uns sind “Medizin” oder Teil von “Medizin” zum Beispiel alle systematischen Bemühungen, Gesundheit zu erhalten und wieder herzustellen (unabhängig vom tatsächlichen Erfolg), und alle Methoden, mit denen faktisch Heilerfolge erzielt werden – unabhängig davon, ob dem korrekte medizinische Kenntnisse und systematische Erklärungen zugrunde liegen oder ob die Heilung unter kontrollierten Bedingungen an anderen Personen reproduzierbar ist oder nicht.

    Was mich aber an der hier geführten Diskussion stört, ist ein in manchen Kommentaren erkennbarer arroganter Unterton, der den Eindruck vermittelt, unsere moderne Medizin biete tatsächlich oder potentiell die Lösung für alle gesundheitlichen Probleme. Es gibt aber nach wie vor Krankheiten, deren Gründe nicht bekannt sind, und erst wenn diese Gründe einmal gefunden sind, wird man wissen, ob man sie vorher deshalb nicht gefunden hat, weil die angewandten Methoden defizitär oder die Grundlagenkenntnisse falsch waren oder weil man einfach noch nicht genug geforscht hatte. Solange man also nicht alle Krankheiten heilen und alle faktisch stattfindenden Heilungsprozesse eindeutig mit naturwissenschaftlichen Methoden erklären und reproduzieren kann, scheint mir dieses Ausmaß an Arroganz unangebracht. Warten wir mal ab!

    Das bedeutet NICHT, daß hier irgendjemand die Wirksamkeit der modernen Medizin bestreiten will. Vielmehr ist es gar nicht unser Anliegen, hier eine Diskussion darüber aufzumachen. Beruflich gesehen, ist uns schnuppe, ob die “Unani Medicine” auch wirkt. Darum kümmern sich ihre Vertreter schon selbst.

    Alles weitere dann in den folgenden Blogbeiträgen.

  23. @Susanne Kurz

    Hallo Frau Kurz,

    ich finde Ihre Kommentare sollten nicht ohne weitere Erklärung stehen bleiben. Darf ich Sie vielleicht bitten, doch noch mal genauer das auszuführen?

    Weniger ist mir jetzt wichtig, was Sie direkt mir antworteten [14:00] und ob Sie denken, dass es wirklich unterschiedliche Ansichten geben kann, wie Mathematik funktioniert.

    Mich interessiert folgende Aussage im zweiten Kommentar:

    Es gibt aber nach wie vor Krankheiten, deren Gründe nicht bekannt sind, und erst wenn diese Gründe einmal gefunden sind, wird man wissen, ob man sie vorher deshalb nicht gefunden hat, weil die angewandten Methoden defizitär oder die Grundlagenkenntnisse falsch waren.

    An welche neuen Grundlagen denken Sie? Auch an welche die außerhalb dessen liegen, was die Naturwissenschaften heute kennen? Sean Carroll geht in diesem Video: From Particles to People auf das näher ein, also von den fundamentalen Gesetzen der Physik zu dem Menschen. Ist das für Sie die Arroganz, von der Sie dann weiter unten sprechen?

    “Solange man also nicht alle Krankheiten heilen und alle faktisch stattfindenden Heilungsprozesse eindeutig mit naturwissenschaftlichen Methoden erklären und reproduzieren kann, scheint mir dieses Ausmaß an Arroganz unangebracht.”

    Heißt dies für Sie, sollte es uns nicht gelingen, Krankheiten des Körpers mit naturwissenschaftlichen Methoden völlig zu erklären, ist es im Umkehrschluss richtig, dass nicht-naturwissenschaftliche Methoden angebracht sind? Und zwar heute schon, da wir ja heute sicher heute noch nicht so weit sind?

    In meinen Augen hat das nichts mit Arroganz, viel aber mit Ignoranz. Während ich die Antwort Ihrer Kollegin Kira Schmidt Stiedenroth klar fand, bin ich über Ihren Kommentar verwundert. Ob ich Sie da wirklich richtig verstehe?

  24. @Susanne Kurz:

    Ich denke schon, dass viele ihren Standpunkt verstanden haben.

    Sie fassen unter Medizin auch zusammen:

    alle Methoden, mit denen faktisch Heilerfolge erzielt werden – unabhängig davon, ob dem korrekte medizinische Kenntnisse und systematische Erklärungen zugrunde liegen oder ob die Heilung […] an anderen Personen reproduzierbar ist […]

    Für einen Heilerfolg sind weder die angesprochenen breiten Kenntnisse oder der Wirkmechanismus notwendig. Es reicht lediglich das Wissen, dass etwas wirkt.

    Meine Frage ist nun, wie man feststellt, ob etwas einen “faktischen Heilerfolg” darstellt? Einer Antwort auf diese Frage kann man sich doch nur durch eine empirische Herangehensweise annähern, also durch Testen/Falsififaktion einer Hypothese, durch Beobachtung, Reproduktion des (Miss-)Erfolges …

    Ich denke nicht, dass dieser Ansatz “westlich” ist, schließlich ist die Logik auch universell.

    Was mich aber an der hier geführten Diskussion stört, ist ein in manchen Kommentaren erkennbarer arroganter Unterton, der den Eindruck vermittelt, unsere moderne Medizin biete tatsächlich oder potentiell die Lösung für alle gesundheitlichen Probleme. Es gibt aber nach wie vor Krankheiten, deren Gründe nicht bekannt sind, und erst wenn diese Gründe einmal gefunden sind, wird man wissen, ob man sie vorher deshalb nicht gefunden hat, weil die angewandten Methoden defizitär oder die Grundlagenkenntnisse falsch waren oder weil man einfach noch nicht genug geforscht hatte. Solange man also nicht alle Krankheiten heilen und alle faktisch stattfindenden Heilungsprozesse eindeutig mit naturwissenschaftlichen Methoden erklären und reproduzieren kann, scheint mir dieses Ausmaß an Arroganz unangebracht.

    Das hört sich so an, als wenn es neben unserer Realität noch eine zweite gäben müsste, die durch Beobachtung oder Nachdenken (“Wissenschaft”) nicht erfahrbar wäre. Wenn es Gründe für eine Krankheit gibt, dann kann man sie prinzipiell auch beobachten. Das ist doch unabhängig von unserem Vorwissen. Welcher Prozess ist denn vorstellbar, der nicht so (prinzipiell) erklärbar wäre?

    Davon abgesehen gibt es viele Krankheiten, deren Ursachen man kennt, aber keine Therapie, und umgekehrt viele Therapeutika, deren Wirkmechanismus nicht kennt. Unser Wissen und damit die Medizin ist heute unvollständig, und wir können nur aus dem vorhandenen Wissen heraus argumentieren. Das heißt aber nicht, dass heute unerklärte Phänomene grundsätzlich unerklärbar sind.

  25. Ethnologische Feldstudien

    Ich finde es toll, dass man heutzutage zu ethnologischen Feldstudien nicht mehr in den Busch reisen muss. Man kann einfach das immer mehr heimische Völkchen der geistig aus unserem System ausgestiegenen studieren und also die Beiträge von Kira Schmidt Stiedenroth oder Susanne Kurz intensiv lesen.
    Toll, macht weiter so, beliefert uns mit Studienmaterial.

  26. ethnozentrisch

    Wenn ich das recht verstehe, ist der Vorschlag, von der “evidenzbasierten Medizin” abweichende Ansätze einfach nicht als “Medizin” zu bezeichnen, sondern als “Esoterik” oder “Hokuspokus” etc. Möglicherweise ist das eine Sicht der Dinge (und der Welt), die Naturwissenschaftler für richtig halten. Geisteswissenschaftler sehen das anders. Für uns ist das unter anderem ethnozentrisch, weil sich diese Sicht der Dinge ausschließlich auf an der europäischen Entwicklung ausgebildet hat und weil wir einen anderen (viel weiteren) Begriff von Medizin verwenden.

    Aja, aber das mit dem Ethnozentrischen bezieht sich sicherlich nur auf die Medizin und nicht auf andere Erfahrungswissenschaften.

    MFG
    Dr. W

  27. Och Herr Holzherr, der Kommentar war jetzt mal völlig unnötig. Wenn man als Neuling in die Blogosphäre gelangt und nicht mehr nur noch Fachleute des eigenen Bereiches vor sich hat, sind Unsicherheiten und gewisse Missverständnisse bzgl. einiger Begrifflichkeiten vorprogrammiert. Kenne das selbst auch sehr gut.

    Das ist ein ständiger Lern- und Erfahrungsprozess. Dass dieser Artikel einige Fallen enthält, ist also völlig geschenkt. Für mich war dann nach der Antwort von Kira Schmidt Stiedenroth dann auch eigentlich alles klar.

    Besorgniserregend ist dann allerdings der Kommentar von Susanne Kurz. Warum, das haben Markus Dahlem und Martin Ballaschk schon ausgeführt.

  28. Reizthema Medizin

    Ich möchte daran erinnern, dass wir – auch mit Bezug zu den SciLogs – schon einmal ein Streitgespräch zum Verhältnis von Schul- und Alternativmedizin sowie der Rolle der Naturwissenschaft in der Medizin geführt haben, siehe meinen Beitrag auf Telepolis (Autoritäre Wissenschaft und das Recht auf Placebo-Medizin), die Replik Anatol Stefanowitschs, meine Replik darauf sowie den Kommentar über Aufklärung Jörg Friedrichs.

    Ich schreibe das einmal vorab, weil ich vieles von dem, was ich dort schon gesagt und wissenschaftlich belegt habe, hier nicht wiederholen möchte.

  29. “Eine-Welt-Sicht”

    Die “Eine-Welt-Sicht” der Wissenschaft (d.h. dass alle Wissenschaften und alle Erkenntnis über die Welt auf die Physik reduziert werden könne) ist kein friedlicher “Eine-Welt-Laden”, sondern eine ausgrenzende und die anderen Wissenschaften herabsetzende philosophische Sichtweise.

    Der theoretische Physiker und Wissenschaftskommunikator Sean Carroll, auf den Markus verwiesen hat, behauptet nicht nur, dass die unserer Alltagswelt unterliegende Physik vollständig verstanden sei – nämlich in Form von drei Elementarteilchen, die über die Kräfte miteinander interagieren.

    Er behauptet vielmehr auch dass diese Teilchen (Elektronen, Protonen, Neutronen) und Kräfte (Kernkräfte, Gravitation, Elektromagnetismus) hinreichend sind, um alles zu beschreiben, was in unserer Alltagswelt passiert.

    Das ist aber absurd – es ist nicht nur nicht gelungen, in immerhin 80 Jahren die Newtonsche Mechanik vollständig auf die Quantenmechanik zu reduzieren, sondern es ist völlig unbegründet zu glauben, dass dies jemals mit der Chemie, Biologie, … Psychologie, Soziologie, Ökonomik usw. geschehen wird.

    In Science gab es heute einen Bericht über transkulturelle Unterschiede bei Selbstmorden (Science 338, p. 1025-1027). Die biologische Psychiatrie – ein Teil der zurzeit vorherrschenden Schulmedizin – geht davon aus, dass Selbstmordversuche vor allem auf eine vorliegende psychische Erkrankung zurückzuführen sind.

    In vielen asiatischen Ländern begehen Menschen aber einen Selbstmordversuch, weil sie beispielsweise sozialer Scham ausgesetzt sind. Es wird wahrscheinlich niemals gelingen, “soziale Scham” in der Sprache der molekularen Medizin oder der Genetik zu formulieren, geschweige denn in derjenigen der Physik, wohl aber in unserer Alltagssprache; und eine soziologische Theorie, nämlich die Strain Theory, kann erklären, warum soziale Scham zu einem Selbstmordversuch führt.

    Die “Eine-Welt-Sicht” auf die Wissenschaft oder die Medizin ist gefährlich, weil sie unseren Blick verengt. Nicht jedes medizinische Problem ist ein molekulares oder genetisches; in der selben Ausgabe von Science ist ein ernüchternder Bericht darüber, wie wenig wir allen Versprechen der personalisierten Medizin zum Trotz bisher über die genetischen Ursachen von Krankheiten herausgefunden haben (Science 338: 1016-1017).

    Die Sichtweise, dass alles nur aus Elektronen, Protonen und Neutronen besteht und alles in der Sprache der Physik beschrieben und erklärt werden kann, ist eine Metaphysik, die wir weder in den Natur-, noch in den Verhaltens- und Sozialwissenschaften brauchen; im Gegenteil stört sie sogar den wissenschaftlichen Fortschritt.

  30. @Sören zur Bedeutung von “Medizin”

    Deinen umfassenden Medizinbegriff finde ich zwar sympathisch, nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch (dazu gäbe es übrigens sicher mehr zu sagen als nur „Stress“), sondern auch in der wissenschaftlichen Forschung, an den Universitäten oder in den Ärztekammern ist es üblich, zwischen verschiedenen Arten von Medizin zu unterscheiden; beispielsweise unterscheidet auch die Weltgesundheitsorganisation konventionelle, traditionelle, komplementäre, alternative usw. Medizin voneinander – u.a. übrigens auch, um einem Ethnozentrismus vorzubeugen.

  31. Interpretation ist falsch

    Stephan, was Du da in Sean Carroll herein interpretierst ist falsch. So sagt er es nicht.

    Sean Carroll behauptet, dass Biologie, Medizin und letztlich auch alle anderen Wissenschaften den physikalischen Gesetzen nicht widersprechen dürfen. Es sei denn, wir finden halt heraus, dass die Physik in Teilen falsch ist (was möglich ist, in vielen Bereichen mittlerweile sehr unwahrscheinlich geworden ist, weil sie eben gut bestätigt).

    Esoterik wie z.B. Homöopathie macht genau dass, indem sie einen Wirkungsmechanismus vorgaukelt, der schlicht nicht existieren kann. Es sei den, man glaubt eben auch der Mond sei aus Käse. Oder es gäbe eine Zwei-Welt-Sicht.

    Das heißt nicht, dass Homöopathie allein über den Placebo-Effekt nicht auch (begrenzt) heilt. Trotzdem gibt es nur die “Eine-Welt-Sicht” der prinzipiellen physikalischen Wechselwirkungen. Wer also mit seiner Theorie schon allein dagegen verstößt, der betreibt klar Esoterik. Wer in diesem sehr sehr weiten Rahmen bleibt, aber noch keinen Mechanismus vorgeben kann, betreibt erstmal keine Esoterik, höchstens völlig an den Haaren herbeigezogenes Zeugs, vielleicht aber auch großartig Neues. Ganz einfach

  32. @Stephan Schleim: 1 Arzt: Viele-Welten

    Im verlinkten Telepolis-Artikel wird die “Schuldmedizin” mit ähnlichen ausgrenzenden Worten und Einordnungen beschrieben wie im obigen Artikel. Man liest also von der autoritären Wissenschaft, der wissenschaftlichen Einseitigkeit, der biomedizinischen klinischen Praxis und weiteren Begriffen, die die Distanz der (wissenschaftlichen) Medizin zum Patienten suggerieren sollen.

    Letztlich hängt die Distanz zwischen Medizin und Patient aber vom Arzt ab, denn er ist weniger Wissenschaftler als vielmehr die Person, die sich um das physische und geistige Wohl seines Patienten kümmert, wobei er aber sein im medizinischen, wissenschaftlich orientierten Studium erworbenes Wissen einbringt. Für die Gabe von Placebomedikamenten braucht es übrigens keinen Alternativmediziner. Das machen normale Aerzte inzwischen sehr häufig.

    Richtig ist allerdings, dass es nur wenige Patienten gibt, die ausschliesslich Alternativmedizin in Anspruch nehmen. Deshalb hat sich in der Schweiz der Begriff Komplementärmedizin durchgesetzt, denn für viele Patienten komplementiert die Alternative das normale Angebot. In der Schweiz ist diese Komplementärmedizin Teil der von den Krankenkassen bezahlten Medizin und es gibt sogar einen Lehrstuhl der Komplementärmedizin an der Universität Zürich.

    Die im Telepolis-Artikel heraufbeschworene Kluft zwischen wissenschaftlich orientiertem Arzt, der nicht ganzheitlich, sondern symptomenorientiert denkt und handelt und der durch die wissenschaftliche Methode Macht über den Patienten gewinnt, der sich nun dieser über ihm stehenden rationalen (kalten) Logik fügen muss ist genau das: eine Beschwörung. Ein Arzt kann sich tatsächlich den Nimbus der Unfehlbarkeit geben und sich durch die vorgebliche Wissenschaftlichkeit seines Vorgehens eine Autorität verschaffen und sogar Distanz zum Patienten aufbauen. Doch das muss er nicht und psychologisch ist das das falsche Vorgehen. Meiner Ansicht nach, kann und soll der Arzt eine ganzheitliche Rolle übernehmen und sich in jeder Hinsicht um den Patienten kümmern. Hin und wieder mag es gut sein für den Patienten, eine alternative Ansprechfigur, vielleicht sogar einen Alternativmediziner, zur Verfügung zu haben. Doch im allgemeinen sollte der Arzt als alleinige Vertrauensperson genügen.

  33. @Markus: keine Interpretation

    Ich interpretiere das nicht in Carroll herein, sondern er schreibt das so wortwörtlich selbst (und ich hatte darüber übrigens mit ihm kürzlich eine persönliche E-Mail-Korrespondenz, um seinen Standpunkt besser zu verstehen). Ein Beispiel aus seinem Beitrag:

    All we need to account for everything we see in our everyday lives are a handful of particles — electrons, protons, and neutrons — interacting via a few forces — the nuclear forces, gravity, and electromagnetism — subject to the basic rules of quantum mechanics and general relativity. … That’s a remarkably short list of ingredients, to account for all the marvelous diversity of things we see in the world.

    Ich stimme dir zu, dass wir uns keinen Widerspruch zwischen den wissenschaftlichen Beschreibungen erlauben können. Das passiert aber meistens schon aus dem Grund nicht, dass sich die verschiedenen Wissenschaften auf verschiedene Phänomenbereiche beziehen. Physiker reden über Elektronen, Protonen, Neutronen usw., Mediziner über Krankheiten, Psychologen über psychische Prozesse und Verhalten, Ethnologen über Kulturen usw. Wo ist da der Widerspruch? Es gibt einen Pluralismus von Beschreibungen.

    Die Eine-Welt-Sicht der prinzipiellen physikalischen Wechselwirkungen ist vielleicht in der Physik verbreitet; sie hilft uns aber nicht beim Verständnis unserer Alltagsprobleme sowie der Probleme der Wissenschaften, die sich damit beschäftigen.

    Wir brauchen uns in den anderen Wissenschaften nicht von Physikern vorschreiben lassen, was wir zu beforschen haben; und wie. Es gibt ferner eine lebendige Literatur in der Wissenschaftstheorie, die sich mit pluralistischen Konzepten der Kausalität, des Mechanismus usw. auseinandersetzt (z.B. Machamer, P., Darden, L. & Craver, C. F. [2000]. Thinking About Mechanisms. Philosophy of Science 67: 1-25; Wilson, R.A., Barker, M.J. & Brigandt, I. [2007]. When traditional essentialism fails: biological natural kinds. Philosophical Topics 35, 189–215).

    Die Welt ist nicht nur physikalisch, sie ist auch biologisch, psychisch, sozial, usw. usf.

    Meines Wissens ging es in diesem Text nicht um schweizer Käse und auch nicht um Homöopathie. Das habe ich bei dir zum ersten Mal gelesen.

    Es gibt kein Problem mit wissenschaftlichem Pluralismus – es gibt nur ein Problem, wenn man aufgrund eines missverstandenen Reduktionismus andere Wissenschaften ausgrenzen möchte. Diese Sichtweise unterstelle ich dir nicht; sie hört sich für mich aber manchmal ein bisschen so an.

  34. @Holzherr: Abgrenzung

    Schön geschrieben, ich stimme Ihnen weitgehend zu.

    Es war nicht meine Absicht, die Schulmedizin niederzumachen; einige meiner Freunde sind Schulmediziner bzw. angehende Schulmediziner und ich habe viel Respekt vor ihrer schwierigen und herausfordernden Arbeit. Ich habe selbst schon an einer medizinischen Fakultät geforscht und unterrichtet und dabei Einsicht in viele neue Entwicklungen aber auch in große Probleme erhalten.

    Bitte sehen Sie meine TP-Beiträge in dem Kontext, dass manche damals ausgiebiges Bashing einer Journalistin betrieben haben, die über Ansätze der Alternativ- bzw. Komplementärmedizin geschrieben hat. Ferner sehen sie ja an manchen Beiträgen hier im Forum, wie alternative Sichtweisen ausgegrenzt werden und man sofort in eine weltanschaulich problematische Ecke gestellt wird, wenn man über den Tellerrand der Schulmedizin hinaus schaut.

  35. @Schleim

    Gilt Ihre Apologetik auch alternativen Heilverfahren wie bspw. der Homöopathie oder dem Handauflegen oder dem Egelchen?

    MFG
    Dr. W (der die Sache selbst nicht diskutieren möchte, sie ist für böse “Ethnozentristen” lange erledigt)

  36. Ich fürchte, das führt hier zu weit. Aber abschließend will ich nochmal meinen Standpunkt sagen.

    Wenn etwas gegen die physikalischen Gesetzte verstößt, können Vertreter solcher Hypothesen sich nicht damit herausreden, das es auf einer anderen Beschreibungsebene liegt (genau das machen sie aber oft). Das es verschiedene Beschreibungsebenen gibt und deswegen letztlich mehr als Physik, ist mir klar.

    Wenn ich also morgen mit einer Therapieform ankomme, z.B. etwas basierend auf Voodoo-Puppen (ich kenne Unani nicht, daher muss ich andere Beispiele nehmen), dann wäre jede Doppelblind-Studie schlicht herausgeschmissenes Geld. Und warum? Allein weil es klar von vornherein gegen die physikalischen Gesetzte verstößt. Da hilft auch kein Hinweis auf die Beschreibungsebene.

    Würden wir unsere medizinische Forschung nicht dahingehend fokussieren, wenigstens nicht im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Beschreibungen zu stehen, stünden der Ressourcenverschwendung Tor und Tür weit offen.

    Ich kann es auch so sagen: “Jedes Quadrat hat Ecken” oder “Alles ohne Ecken ist kein Quadrat”. In dem Sinne gilt für mich per Definition: “Medizin heilt” oder “Jedes nicht-heilende ist nicht Medizin”. Da aus meiner Sicht jede Heilung auf einer Wechselwirkung basiert (ich hoffe auch hier stimmt Du zu) kommt grundlegend die Physik mit herein, auch wenn uns auf dieser “unteren” Beschreibungsebene die Prozesse oft sicher verborgen bleiben. Dort wo die Wechselwirkung schlicht nicht sein kann, ist es keine Medizin. Vieles was als “Alternativ” angeboten wird, ist leider auf diesem Niveau und widerspricht der Physik.

  37. @Markus: kein Widerspruch

    Ich glaube auch nicht, dass wir eines der größten wissenschaftstheoretischen, epistemologischen und metaphysischen Probleme hier im Forum von SciLogs lösen können. 🙂

    Vielleicht sollten wir uns bei anderer Gelegenheit und/oder an anderer Stelle einmal darüber unterhalten, was du genau mit “Wechselwirkung” meinst.

    Wenn ich jemandem, der an Voodoo glaubt, eine Voodoo-Puppe zeige und eine Nadel in diese steche, dann wird es eine Wechselwirkung mit diesen Menschen geben – mit wissenschaftlich messbaren Folgen (z.B. Angst, höherem Herzschlag). Dabei finden auch physikalische Prozesse statt.

    Meiner Meinung nach können wir aber nicht davon ausgehen, die hier stattfindende Interaktion zwischen dem Voodoo-Zauberer, der Voodoo-Puppe und dem Voodoo-Gläubigen auf die reine Physik zu reduzieren. Ein paar Gründe für diese Sichtweise habe ich hier bereits erwähnt; dies auszudiskutieren würde den zeitlichen wie räumlichen Rahmen sprengen.

    Ich kann hierbei jedoch nirgends einen Widerspruch zu Gesetzen der Physik erkennen.

    Wer sich für die wissenschaftliche Erforschung solcher Kontext- (oder Placebo-) Effekte interessiert, der findet übrigens in dieser Sonderausgabe der Philosophical Transactions of the Royal Society (Biology) eine aktuelle Zusammenfassung.

  38. Stephan: Mit Wechselwirkung meine ich die grundlegenden also die physikalischen. Übrigens, bei der Doppelverblindung sollte schon nicht allein der Voodoo-Puppe die Augen verbunden werden, aber lassen wir das.

  39. @ Markus A. Dahlem und Martin B.

    Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, daß ich gern Ihrer Aufforderung nachkommen werde, meine Kommentare zu erklären. Ganz offensichtlich waren sie zu offen für Interpretationen. Ich werde darüber nachdenken, wie sich das klären läßt, ohne wieder neue Mißverständnisse zu produzieren.

    Vorher möchte ich jedoch das Video ansehen, auf das Sie, Herr Dahlem, verlinkt haben. Und natürlich muß ich mich noch durch die weiteren Kommentare lesen. Mir scheint, Herr Dahlem, Sie haben in einem Ihrer folgenden Kommentare bereits ein paar der Punkte angesprochen, um die es mir geht.

  40. Mythos “Kontrollierte Studien”

    @ Tobias schrieb:

    “Es ist eigentlich ganz einfach und unabhängig von der “Weltanschauung”. Medizin ist Medizin, wenn Sie nachgewiesenermaßen wirkt. Anekdotische Erzählungen und der Verweis auf Traditionen sind keine Nachweise. Was zählt, sind kontrollierte Studien.”

    Zeigen Sie mir mal, kontrollierte Studien zur Heilung von Achillessehnentzündungen. Jeder Orthopäde wurschtelt vor sich hin und behauptet im Einzelfall sogar der andere müsse für seine -von den Krankenkassen anstandslos bezahlten – Behandlungsmethode eigentlich wegen Körperverletzung verklagt werden.

    Der selbe Orthopäden bietet aber eine ‘todsichere’ Behandlung an, die keine Krankenkasse vergütet. Ein eigennütziger Scharlatan? Keineswegs, denn selbst in ausgewiesenen Krankenhäusern werden Behandlungsmethoden angeboten, die von den Krankenkassen nicht vergütet werden.

    Kurz, wer heilt, hat recht! Und wer recht hat, darüber haben Ärzte, Krankenkassen etc. ganz unterschiedliche Meinungen. Für den Patienten erweist es sich in diesem Dilemma immer sehr günstig privat versichert zu sein, das mindert das eigene finanzielle Risiko im vierstelligen Euro-Bereich.

    Wer so etwas einmal erlebt hat, interessiert sich in der Regel freimütig für alternative subkulturell oder ethnisch zentrierte Behandlungsformen.

  41. Sehr gut!

    Nachdem die Debatte nun endlich sachlicher geworden und die versuchte Herabsetzung neuer Bloggerinnen hier und auf Twitter soweit beendet worden ist, möchte ich v.a. @Sören Schewes Aussage im letztem Kommentar beipflichten: Wenn man als Neuling in die Blogosphäre gelangt und nicht mehr nur noch Fachleute des eigenen Bereiches vor sich hat, sind Unsicherheiten und gewisse Missverständnisse bzgl. einiger Begrifflichkeiten vorprogrammiert. Kenne das selbst auch sehr gut.

    So sehe ich es auch. Und habe zudem eigentlich gedacht, dass es sich längst herum gesprochen hat, dass psychische und soziale Prozesse auf physikalischen Grundlagen aufbauen, aber nicht auf diese reduzierbar sind. Die virtuell-symbolische Form der Kommunikation, die wir hier gerade betreiben, widerspricht den Gesetzen der Physik ja auch nicht, obwohl wir uns nicht physikalisch im gleichen Raum befinden, uns weder sehen noch hören und auf eine Weise kommunizieren, die noch vor wenigen Generationen für unmöglich oder “magisch” erklärt worden wäre. Ein wenig mehr erkenntnistheoretische Demut – und also auch Toleranz – stünde uns m.E. gut an.

  42. @ Markus A. Dahlem

    Hallo Herr Dahlem,

    gehen wir der Reihe nach vor (vom Unwichtigen zum Wichtigen):

    Zum ersten:

    „… ob Sie denken, dass es wirklich unterschiedliche Ansichten geben kann, wie Mathematik funktioniert.“

    Nein, wenn Sie genau lesen, werden Sie feststellen, daß hier keinerlei Aussage über meine Ansichten zur Mathematik enthalten ist. Ich werde einen Teufel tun und hier Aussagen zur Mathematik absondern. Ich habe lediglich die beiden Möglichkeiten durchgespielt, die Ihre Parallelsetzung von Medizin und Mathematik nahe legte. Allerdings ist ja schon klar geworden, daß wir von unterschiedlichen Begriffen ausgehen, was diesen Teil der Diskussion wohl überflüssig macht.

    Zum zweiten:

    „An welche neuen Grundlagen denken Sie? Auch an welche die außerhalb dessen liegen, was die Naturwissenschaften heute kennen? Sean Carroll geht in diesem Video: From Particles to People auf das näher ein, also von den fundamentalen Gesetzen der Physik zu dem Menschen. Ist das für Sie die Arroganz, von der Sie dann weiter unten sprechen?“

    Ich dachte ungefähr an das, was Sie in Ihrem Kommentar von 17:53 Uhr selbst zugestanden haben: Möglicherweise zeigt sich ja in Zukunft, daß manche physikalischen Erkenntnisse, die wir heute für richtig halten, eben nicht korrekt sind. (Zitat aus Ihrem Kommentar: „Es sei denn, wir finden halt heraus, dass die Physik in Teilen falsch ist (was möglich ist, in vielen Bereichen mittlerweile sehr unwahrscheinlich geworden ist, weil sie eben gut bestätigt).“) Ich verstehe Sie so, daß Sie das zwar für unwahrscheinlich halten, aber einräumen, daß es möglich ist. In dem Abschnitt, nach dem Sie fragen, stelle ich eben diese Möglichkeit in den Raum – wohlgemerkt ohne Stellungnahme zu deren Wahrscheinlichkeit. Es ging mir nämlich gerade darum hervorzuheben, daß wir alle nicht in die Zukunft schauen und Mögliches von vornherein ausschließen können. Wer den Eindruck erweckt, er könne das doch, ist meiner Ansicht nach in der Tat arrogant.

    Zum dritten:

    „Heißt dies für Sie, sollte es uns nicht gelingen, Krankheiten des Körpers mit naturwissenschaftlichen Methoden völlig zu erklären, ist es im Umkehrschluss richtig, dass nicht-naturwissenschaftliche Methoden angebracht sind? Und zwar heute schon, da wir ja heute sicher heute noch nicht so weit sind?“

    Diese Frage vermittelt mir den Eindruck, als wollten Sie mir etwas „Esoterisches“ in den Mund legen. Aber um sie zu beantworten (auch wenn das redundant ist):

    Nein, das heißt für mich: Auch die Naturwissenschaften sind derzeit nicht in der Lage, alles zu erklären oder alle Krankheiten zu heilen. Solange das so ist, wäre es also angebracht, wenn die Naturwissenschaftler (oder die naturwissenschaftlich argumentierenden Gesprächsteilnehmer) nicht den Eindruck erwecken würden, als wäre die Welt schon vollständig erklärt.

    Ich fürchte daher, Ihre Frage geht gänzlich am Thema meiner Aussage vorbei, was jetzt hoffentlich klar geworden ist.

    Das andere Thema, auf das Sie hier hinauswollen, ist nicht das Thema dieses Blogs – der im übrigen nicht die „Unani Medicine“ propagiert, sondern sie lediglich zum Forschungsgegenstand hat. Mehr über Inhalte erfahren Sie in weiteren Blogbeiträgen (wir arbeiten uns langsam vor). Im übrigen verweise ich auf meine Antwort an Martin B. für einen knappen Hinweis zum angerissenen Thema.

  43. @ Martin B.

    „Sie fassen unter Medizin auch zusammen:
    alle Methoden, mit denen faktisch Heilerfolge erzielt werden – unabhängig davon, ob dem korrekte medizinische Kenntnisse und systematische Erklärungen zugrunde liegen oder ob die Heilung […] an anderen Personen reproduzierbar ist […]
    Für einen Heilerfolg sind weder die angesprochenen breiten Kenntnisse oder der Wirkmechanismus notwendig. Es reicht lediglich das Wissen, dass etwas wirkt.
    Meine Frage ist nun, wie man feststellt, ob etwas einen “faktischen Heilerfolg” darstellt? Einer Antwort auf diese Frage kann man sich doch nur durch eine empirische Herangehensweise annähern, also durch Testen/Falsififaktion einer Hypothese, durch Beobachtung, Reproduktion des (Miss-)Erfolges …“

    Wie es aussieht, ist Ihre Frage berechtigt, weil ich das klarer hätte formulieren sollen. An sich ging es mir nur darum, ein paar Beispiele für das zu nennen, was zum Untersuchungsgegenstand von Medizinhistorikern und -ethnologen gehören kann. In diesem Zusammenhang geht es überhaupt nicht um die Frage, was naturwissenschaftlich nachgewiesen oder nachweisbar ist, weil die Fragestellung sich auf etwas ganz anderes richtet (s. Kiras Beitrag). Insofern hat wahrscheinlich die Formulierung „faktischer Heilerfolg“ zu Irritationen geführt, weil Sie darunter vermutlich naturwissenschaftlich nachgewiesene Wirkzusammenhänge verstehen. Korrekter wäre wohl „augenscheinlicher Heilerfolg“ gewesen, denn gemeint war der Vorgang, daß Menschen mit einer Erkrankung sich mit dem Ziel der Heilung behandeln lassen und daraufhin die Erkrankung ohne eine parallele andere Behandlung verschwindet bzw. abheilt – ob nun durch direkte physikalische Einwirkung oder durch Placebo oder wodurch auch immer (ein Beispiel für Placebo wäre ja wohl die Akupunktur). Ich will nur schwer hoffen, daß nicht die bloße Tatsache, daß ich die Existenz solcher augenscheinlichen Heilerfolge als gegeben zur Kenntnis nehme, hier schon wieder als „Esoterik“ bezeichnet wird.

    „Das hört sich so an, als wenn es neben unserer Realität noch eine zweite gäben müsste, die durch Beobachtung oder Nachdenken (“Wissenschaft”) nicht erfahrbar wäre. Wenn es Gründe für eine Krankheit gibt, dann kann man sie prinzipiell auch beobachten. Das ist doch unabhängig von unserem Vorwissen. Welcher Prozess ist denn vorstellbar, der nicht so (prinzipiell) erklärbar wäre?
    Davon abgesehen gibt es viele Krankheiten, deren Ursachen man kennt, aber keine Therapie, und umgekehrt viele Therapeutika, deren Wirkmechanismus nicht kennt. Unser Wissen und damit die Medizin ist heute unvollständig, und wir können nur aus dem vorhandenen Wissen heraus argumentieren. Das heißt aber nicht, dass heute unerklärte Phänomene grundsätzlich unerklärbar sind.“

    Ich sehe nicht, wo ich von einer zweiten Realität gesprochen hätte, die durch Beobachtung nicht erfahrbar wäre. Auf diese Art von Diskussion, bei der man in die Erkenntnistheorie ausgreifen müßte, werde ich mich hier auch nicht einlassen.

    Was ich meinte, bezieht sich gar nicht auf eine so grundsätzliche Ebene, wie Sie annehmen:

    Die ältere Medizin (in Europa bis zur Durchsetzung der modernen Medizin und natürlich auch die graeco-islamische Medizin) hat durchaus auch mit Beobachtung und Nachdenken gearbeitet. Trotzdem hat sich unsere Sicht auf den menschlichen Körper, auf Gesundheit und Krankheit seitdem erheblich verändert, weil wir heute andere Mittel haben, Dinge (wie z.B. Keime) zu erkennen – Mittel, die man lange Zeit nicht hatte.

    Manches ist aber, wie Sie selbst schreiben, in der Medizin noch immer nicht geklärt. Nun kann es ja sein, daß Herr Dahlem recht hat mit der Einschätzung, daß sich an unseren physikalischen Erkenntnissen nichts Wesentliches mehr ändern wird. Dann findet man auf Grundlage eben dieser Erkenntnisse entweder heraus, was man noch nicht weiß, oder man findet es nicht heraus, weil unsere menschlichen Erkenntnismöglichkeiten dazu nicht ausreichen. Es ist aber ebenfalls möglich, daß manche Dinge heute nicht erklärt sind, weil sie auf Grundlage der heutigen Erkenntnisse über die Funktionsweise der Welt bzw. der Körper (mithin also der Physik) nicht erklärbar sind. Dann KÖNNTEN sich in der Zukunft ähnlich umwälzende neue Erkenntnisse ergeben wie in der Vergangenheit. Manchmal reicht ja schon eine einzige neue Erkenntnis oder ein einziger neu entdeckter Zusammenhang aus, um eine Neuinterpretation des ganzen Systems notwendig zu machen. Ich habe also nie behauptet, daß heute nicht erklärbare Dinge grundsätzlich unerklärbar wären oder daß man sich ihnen nicht durch Beobachtung und Nachdenken nähern könnte. Wir wissen nur einfach nicht, wie die Wissenschaften in der Zukunft tatsächlich aussehen werden und ob unsere heutigen Erkenntnisse wirklich so unumstößlich sind, wie wir derzeit annehmen.

    Mir schien aber aus einigen Kommentaren hier die Überzeugung herauszuklingen, daß unsere heutigen Erkenntnisse fraglos unumstößlich sind und man damit die gesamte Welt im Prinzip bereits schlüssig erklären kann. Ich halte das für ziemlich anmaßend, weil es noch reichlich Ungeklärtes gibt und man nicht wissen kann, wohin die diesbezüglichen Forschungen führen werden. Da es also ebenso gut möglich ist, daß manche Dinge nie erklärt werden oder daß sie auf Grundlage neuer Erkenntnisse erklärt werden, plädiere ich für Michael Blumes „erkenntnistheoretische Demut“.

  44. allgemeiner Hinweis

    Um weiteren Mißverständnissen vorzubeugen: Ich weiß, daß hier (zumindest bis zu meinem letzten Kommentar) niemand explizit GESAGT hat, er/sie könne im Prinzip die ganze Welt schlüssig erklären oder die Möglichkeit neuer Erkenntnisse ausschließen. Ich habe deshalb deutlich von einem EINDRUCK gesprochen, der aufgrund des Tonfalls und der apodiktischen Formulierungen einiger (beileibe nicht aller) Kommentare entstanden ist. Ein Eindruck kann natürlich täuschen. Also korrigieren Sie ihn ruhig! 😉

  45. @Susanne Kurz

    Ja, ein Eindruck kann täuschen. Die Moderne Medizin zeichnet sich nicht dadurch aus, dass ihre “Erkenntnisse fraglos unumstößlich sind und man damit die gesamte Welt im Prinzip bereits schlüssig erklären kann” sondern dadurch, dass sie auf dem Stand des Technik und des Wissens ist.

    Es gibt und gab in der Medizin immer Methoden, von denen nicht bekannt ist, wie sie funktionieren. Sie sollten aber nachweisen können, dass sie funktionieren und sie sollten nicht zu gesicherten Erkenntnissen im Widerspruch stehen.

    Wenn also zum Beispiel eine Therapieform darauf aufbaut, dass es keine Krankheitserreger gibt und dass statt dessen ein Ungleichgewicht von Säften vorliegt, dann steht das im Widerspruch zu heute nachweisbaren Tatsachen. Und das hat nichts mit der Arroganz von Naturwissenschaften gegenüber Geisteswissenschaften zu tun. Es ist doch gar nicht Thema der Geisteswissenschaften, ob eine Krankheit durch Bakterien oder durch Säfteungleichgewicht verursacht wird. Das ist eine klar naturwissenschaftliche Fragestellung, die heute als geklärt gelten kann.

  46. Unani als Medizin für Wegwerfmenschen

    Die Autorin dieses Artikels will die Unani-Medizin, die in Indien zusammen mit der Homöopathie so weit verbreitet ist wie nirgendwo auf die gleiche Stufe heben wie wie “westliche” auch “Bio-“medizin genannte “Schulmedizin”.
    Es gibt aber auch eine andere Sichtweise, die Sichtweise nämlich die der scilogs-Artikel Wegwerfmenschen anbietet. Dort wird über Millionen indischer Kinderprostituierter und Kindersklaven berichtet. “Überzählige” Kinder aus vielköpfigen Familien werden von indischen Familien an Schlepperbanden weggegeben, die sie dann in indischen Grosstädten vermarkten. Der Autor, der das selbst in Indien erlebt hat, schreibt dazu:
    “Viele von den betreuten Kindern stammen aus ländlichen Regionen und sind durch Schlepperbanden in die indische Hauptstadt gelangt. Mit rosigen Aussichten wurden viele Kinder die Textilproduktion oder in die Schrottentwertung gelockt, in der sie dann täglich bis zu 14 Stunden schufteten. Nach nur wenigen Jahren waren viele von ihnen gesundheitlich so geschädigt, dass ihre körperliche und geistige Entwicklung stark eingeschränkt ist.”
    Ähnlich oder noch schlimmer steht es um die Kinderprostituierten.
    diese ausbeuterische Situation, wo Menschen gegen Geld verkauft und versklavt werden gibt es auch im Pharma- und Medizinbereich und wiederum mit Schwerpunkt in Indien, weil es dort weltweit am meisten extrem Arme gibt.
    Der Spiegel berichtet unter Erst der Test, dann die Moral folgendes: “Indien gilt als Paradies für Pharmakonzerne: Die Ärzte sind gut ausgebildet und trotzdem billig, die Patienten so arm, dass klinische Tests oft die einzige Chance auf Behandlung sind”

    Die in Indien stark verbreitete (gar staatlich gelehrte) Unanimi-Meidzin fügt sich gut in dieses Bild der Billiglösungen für Billigmenschen.
    Auf Traditional Indian medicine and homeopathy for HIV/AIDS liest man in der Schlussfolgerung:
    “Conclusion
    This review exposes a broad gap between the widespread use of TIMH therapies for HIV/AIDS, and the dearth of high-quality data supporting their effectiveness and safety. In light of the suboptimal effectiveness of vaccines, barrier methods and behavior change strategies for prevention of HIV infection and the cost and side effects of antiretroviral therapy (ART) for its treatment, it is both important and urgent to develop and implement a rigorous research agenda to investigate the potential risks and benefits of TIMH and to identify its role in the management of HIV/AIDS and associated illnesses in India.”

    Der Schlüsselsatz ist für mich (auf deutsch übersetzt)
    “Angesichts der suboptimalen Effizienz von Impfstoffen, Barrierenmethoden, Verhaltensänderungen als Präventionsmittel und den Kosten und Nebenwirkungen der antiretroviralen Therapie für die Behandlung von HIV-Infektionen, ist es wichtig und dringend eine Forschungsagenda zu implementieren, um die potentiellen Risiken und Vorteile von TIMH (traditional Indian medicine and homeopathy (TIMH)) zu untersuchen.”

    Letzlich läuft es darauf hinaus, mit Unani (also traditioneller indischer Medizin) Kosten in der Behandlung von AIDS einzusparen, denn heute ist es anerkannt, dass nur die teuren antiretroviralen Medikamente zu einer Lebensverlängerung, gar einer weitgehenden Symptomfreiheit bei AIDS führen.

    Unani kann also durchaus als Medizin für Wegwerfmenschen betrachtet werden. Wegwerfmenschen, die AIDS haben, erhalten keine wirkungsvollen retroviralen Medikamente, weil die zu teuer wären. Sie erhalten eine Behandlung mit traditoneller indischer Medizin damit sie wenigstens ruhiggestellt sind.

  47. Kopf ab

    Hier soll über die Geschichte der Unani-Medizin informiert werden.
    Eine Information ist aber noch keine Wertung und schon gar keine Zustimmung zu deren Praxis. Statt die Autorin vorschnell mit ´Kopf-ab´-Beiträgen zu kritisieren, wäre es nett, ihr eine Chance zu geben, ihre Informationen hier vorzustellen.

  48. @Martin Holzherr

    “Unani kann also durchaus als Medizin für Wegwerfmenschen betrachtet werden.”

    Ein ziemlich zynischer Satz, der mich dazu bewog, nun doch noch einmal etwas zum Thema zu sagen, wobei ich mir einige Kommentare für meinen nächsten eigenen Blogbeitrag aufsparen möchte..

    Unser Projekt, vor allem mein eigenes Teilprojekt über Unani Medizin seit dem 19. Jh – ist genau dadurch entstanden, dass wir untersuchen wollten, wer denn die eigentliche ZIELGRUPPE von Unani ist bzw war (da wir ja schließlich primär historisch arbeiten).
    Dabei ist festzustellen, dass Unani vor allem von den muslimischen Eliten praktiziert, angewendet, gefördert wurde – und diese auch gleichzeitig die Patienten waren. In der Kolonialzeit gab es natürlich die ersten Kontakte zur westlichen / britischen / allopathischen (ACHTUNG hierzu der kommende Blogbeitrag!!!) Medizin. Hier gab es zunächst eher ein NEBEN- als ein GEGEN-einander. Seitens der wirklichen Eliten (d.h. seitens aller Herrschenden und ihrer Familien) gab es nun die VERPFLICHTUNG, sich von den britischen Ärzten behandeln zu lassen, zumindest in allen lebensbedrohlichen Situationen wurden die jeweiligen (militär-)Ärzte der britischen Administration gerufen. Behandelt wurde aber häufig trotzdem mit Unani.
    Nach der Unabhängigkeit wurde Unani – soweit wir das bisher beurteilen können – ein identitätsstiftender Faktor der indischen Muslime – und hier vor allem der MITTELKLASSE, an die sich auch die hübschen Plakataktionen des AYUSH Departments wenden. Faktisch ist es nämlich so: lediglich die Mittelklasse (muslimisch oder nicht) kann sich langfristige Unani Therapien bei chronischen Erkrankungen (auf die Unani BESONDERS abzielt) leisten. Hier wäre seitens unseres Projektes noch zu klären, inwieweit es sich um “Lifestyle-Medizin” (den Begriff verwende ich hier bewusst) handelt.
    Die Armen / Ärmsten der Armen werden kostenlos in den OPDs der Unani Colleges, in Unani Medical Camps / oder von Hakims, die kostenlose Behandlung gewähren, behandelt. Im schlimmsten Fall haben sie nicht einmal dazu Zugang.
    Behandlung von AIDS: Dazu möchte ich nur sagen: ich lehne die Behauptungen einiger Unani-Praktizierender, sie könnten AIDS heilen VÖLLIG AB! (gleiches gilt für Krebs). Seriöse Unani Vertreter tun das ebenso.

  49. Geschichte der Unani-Medizin

    @KRichard:

    Exakt! Und genau so!

    Unser Projekt ist angetreten, um anhand der “Darstellung medizinischen Wissens” in Wort und Bild Beiträge zur Geschichte der Unani Medizin zu leisten. Es ist niemals unsere Aufgabe gewesen, die Wirksamkeit oder Nicht-Wirksamkeit von Unani zu belegen.
    Die Diskussionen zeigen eindrucksvoll das Ringen um Bezeichnungen und Begriffe. Dabei möchte ich – ohne uns hier zu sehr zu loben – 🙂 einmal hervorheben, dass wir die Analayse dieser Definitionen / Begrifflichkeiten in lateinischen, griechischen, arabischen, persischen Quellen und auf Urdu betreiben!!

  50. Gemischtwarenladen?

    Entschuldigung – da gingen mir ein paar Dinge zu viel durch den Kopf, als ich den Kommentar schrieb. Ich möchte meine Anfrage klarer auf den Punkt bringen.
    Es kam mir in meinem Vergleich („Ausstellungsstand“) nicht auf ein undurchschaubares Vielerlei (Gemischtwarenladen) an, sondern: Was steckt hinter den Labels der Ausstellungsstücke? Mir erschien der Artikel wie ein Laden, in dem unter einer gemeinsamen Überschrift („Medizin“ – dieser Begriff bewusst sehr weit gefasst) erkennbar unterschiedliche Heil-Methoden (westliche, indische) ausgestellt werden, die aber nur als unterschiedlich genannt jedoch als solche nicht erläutert werden.
    Zur Unani-Medizin wird die Unterschiedlichkeit betont und verschiedene Gesichtspunkte genannt, unter denen man die Unterschiedlichkeit erklären kann: historische, ethnologische, weltanschauliche… Aber diese Unterschiedlichkeit nicht durch Beispiele erklärt:
    Was die Unani-Medizin selbst ist – wo es unüberbrückbare Gegensätze/Streitpunkte zur wissenschaftlichen Medizin gibt und wo vielleicht Schnittmengen und Teilmengen zu finden wären – das wurde mir so nicht klar. Aber das wäre ja auch eine medizinische Debatte.
    Inzwischen ist die Diskussion sehr ausgeufert und unheimlich grundsätzlich geworden – bis hin zur Erkenntnistheorie (die aber nicht gewinnt, wenn man Visiere herunterklappt und Fronten fixiert). Da überschaue ich vieles nicht mehr und will mich so auch nicht beteiligen.
    Ich las inzwischen lieber die zurückliegenden Artikel und die Unani-Medizin gewann für mich ein paar Konturen mehr. Vielleicht habe ich dabei aber auch manches überlesen, was meine Frage hätte beantworten können. Vielleicht kommt es aber auch noch, dass ein einigermaßen konkretes Gesamt-Bild entsteht.

  51. @ Joachim

    Ja, Sie haben recht. Das ist keine geisteswissenschaftliche Fragestellung, und darum ging es auch nicht. Das war hier aber erstmal nicht richtig angekommen und mußte deshalb immer mal wiederholt werden.

    Die ganze Diskussion zur Arroganz entsprang einer Randbemerkung von mir, die sich überhaupt nicht konkret auf Äußerungen zur Medizin oder gar auf das Verhältnis zwischen “Unani Medicine” und moderner Schulmedizin (oder wie auch immer) bezogen hat, sondern auf den mitschwingenden Unterton, der bei mir den genannten Eindruck erzeugt hat.

    War also vielleicht auch zuviel Aufmerksamkeit, die wir einem Nebenschauplatz geschenkt haben. Aber solche Diskussionen sind eben manchmal Selbstläufer.

  52. @ Hermann Aichele

    Ja, wir planen natürlich, noch eine ganze Menge mehr Input zu geben. Der Blog ist ja noch recht jung und das Thema ziemlich umfangreich.

    Zur aktuellen “Unani Medicine” wird Kira sicher noch viele konkretere Beiträge schreiben, wenn ihre Feldforschung weiter fortschreitet. Zur historischen Perspektive kommt von mir in nächster Zeit ein größerer Batzen, der hoffentlich auch bei der Entwirrung einiger aktueller Ansprüche hilft (speziell mit Blick darauf, wie sie entstanden sind). Die beiden anderen Kolleginnen werden auch noch einiges zur Geschichte und den Inhalten beitragen.

    Der Plan ist also, daß nach und nach ein möglichst differenziertes Gesamtbild entsteht.

    Kiras aktueller Beitrag ist etwas abstrakt, weil sie einige bereits vorher diskutierte Begriffe aus ethnologischer Perspektive klären wollte. Wo jeweils die Empfindlichkeiten der Leser liegen, die dann zu Diskussionen führen, lernen wir gerade erst langsam.

    Und dieses Mal wurde es wohl unter anderem deshalb ein bißchen grundsätzlicher, weil natürlich auch wir unsere Empfindlichkeiten haben. Vielleicht halten wir das aber beim nächsten Mal wieder stärker aus der Diskussion heraus. Das ist jedenfalls die Lehre, die ich daraus ziehe – auch wenn ich wieder mal eine Menge gelernt habe.

  53. Vielleicht halten wir das aber beim nächsten Mal wieder stärker aus der Diskussion heraus. Das ist jedenfalls die Lehre, die ich daraus ziehe ..
    Das wäre schade und ist genau die falsche Lehre. Besser sofort mitdiskutieren und Missverständnisse ausräumen.

  54. @Susanne

    Da stimme ich @Tobias zu: Es wäre super-schade, wenn Ihr Euch fortan nur noch mit Schere im Kopf äußern würdet. Klar sind manche Rüpeleien unangenehm, aber sachlich lässt sich so auch doch einiges entdecken. Und: Wohl noch nie in der deutschen Kulturgeschichte ist online so rege über Unani kommuniziert und nachgedacht worden. Auf Twitter wurde auch schon das Anlegen eines Wikipedia-Artikels debattiert. Ich finde, Kira hat da Gutes angestoßen!

  55. Unani versus westliche Schulmedizin

    Die Relativierung der evidenzbasierten Medizin hat die Kommentarlawine ausgelöst.
    Was mich wirklich verwundert ist die von mehreren Autorinnen hervorgehobene Neutralität mit der sie an das Thema Unani-Medizin heranzugehen behaupten, während sie umgekehrt die hier praktizierte “Schulmedizin” aus einer scheinbar objektiven, aber wertenden Position als Ausdruck unserer (Leistungs-)Gesellschaft beschreiben.

    Es geht also im Wesentlichen um den dritten Abschnitt von Kira Schmidt Stiedenroth’s Artikel, der mit den Worten beginnt: “Heutzutage hat die Schulmedizin in Deutschland eine zweifellos hegemoniale Stellung in unserer Gesellschaft, …”

    Wenn dieser Abschnitt eingeleitet würde mit “Heute erleben viele Patienten die Schulmedizin in Deutschland …. wäre die Situation eine völlig andere.

    Man muss klar zwischen dem Anspruch der evidenzbasierten Medizin unterscheiden und der von Ärzten in einem bestimmten gesellschaftlichem Umfeld praktizierten Medizin. Der Anspruch der evidenzbasierten Medizin besteht darin, den aktuellen Stand des Wissens über die wirksamsten Behandlungsmethoden und -mittel dem Patienten zugutekommen zu lassen. In der Praxis spielt aber auch das gesellschaftliche Umfeld eine wichtige Rolle, wobei es noch vernünftig und im Einklang mit den Zielsetzungen der evidenzbasierten Medizin erscheint, dass die Gesellschaft nur (Zitat)“Behandlungen zahlt, deren Effektivität bewiesen ist”, zumal heute die Gesundheitskosten in den zweistelligen Bereich gemessen am Bruttoinlandprodukt einer Nation gehen. Das erklärt auch den (Zitat)“Blick auf Preis-Leistungsverhältnisse”, wobei guten Ärzten durchaus bewusst ist, dass es ein Verrat am Patienten sein kann, wenn der Patient aus Kostengründen die zweitbeste Behandlung erhält.
    Was man nicht vergessen darf ist die von vielen Patienten erlebte existentielle Verunsicherung durch eine Krankheit.
    Deshalb muss man auf die (Zitat)“Wahrnehmungen des Patienten” eingehen und darf sich nicht mit (Zitat) „objektiven“ Messungen des Gesundheitspersonals begnügen. Ansonsten kann der Patient tatsächlich die an ihm applizierte Medizin als ” Biomedizin” erleben, also als Medizin, die sich nur um seinen Körper als biologische Entität kümmert.

    Doch folgende Schlussfolgerung im Text von Kira Schmidt Stiedenroth relativiert auf fragwürdige Weise die evidenzbasierte Medizin:
    “das, was wir als wissenschaftlich begreifen, [ist] auch nur Ausdruck eines bestimmten Verständnisses von Gesundheit, Krankheit und Heilung ist, das in unserer Zeit eine dominierende Stellung eingenommen hat”

    Das heisst doch mit anderen Worten: Der Ansatz, der die erwiesenermassen wirksamsten Therapien präferiert ist genauso viel oder genauso wenig wissenschaftlich wie andere Ansätze.

    Erleben denn Patienten “Gesundheit, Krankheit und Heilung” als etwas Relatives? Ist für einen Inder ein Lymphom oder eine Unterschenkelfraktur etwas völlig anderes als für einen Deutschen? Gibt es wirklich grundsätzlich andere Auffassungen von Gesundheit, Krankheit und Heilung, so dass man in der indischen Ausgabe der Wikipedia etwas ziemlich anderes zu diesen Begriffen liest als in der deutschen Wikipedia (oder ist gar, falls das nicht der Fall ist, die indische Wikipedia infiltriert, hegemonisiert durch unser Kulturverständnis?)

    Natürlich ist jedes Gesundheitssystem kulturell geprägt. Sogar das kanadische und US-amerikanische Gesundheitswesen ist ziemlich verschieden, obwohl die kanadischen und US-Ärzte fast die gleiche Ausbildung erhalten.

    Der Kommentar von Claudia Preckel (24.11.2012, 10:12) hat mich auch über die gesellschaftliche Rolle der Unani-Medizin aufgeklärt. Unani-Medizin scheint also von muslimischen Eliten praktiziert und angewendet zu werden und chronische Erkrankungen sind es, worauf Unani-Medizin besonders ausgerichtet ist. Solche Unani-Therapien für chronische Erkankungen sind aber recht teuer und wer es sich leisten kann, beweist seine Zugehörigkeit zur oberen Mittelklasse und hält als chronische Kranker seinen Status und seinen Lifestyle.
    Wenn man das einmal weiss, erscheint die von Kira Schmidt Stiedenroth gemachte Relativierung der westlichen Medizin als “was wir als wissenschaftlich” begreifen und als “geprägt durch bestimmte Gegegenheiten (z.B. das wirtschaftliche System)” doppelt befremdlich. Warum soll Unani als Mittelklassenmedizin auf der gleichen Stufe stehen wie die evidenzbasierte Medizin, so wie sie unter unseren gesellschaftlichen Verhältnissen praktiziert wird, obwohl in Deutschland das Gesundheitssystem nicht nur der Mittelklasse geöffnet ist. Ganz unabhängig vom Anspruch, den die wissenschaftlich fundierte Medizin hat, ist sogar die gesellschaftliche Organisation des deutschen Gesundheitssytem weniger selektiv als das die Unani-Medizin zu sein scheint.

  56. Hallo Frau Kurz,

    danke für die Antwort. Ich finde es toll, dass sie hier in den Kommentar Stellung beziehen und sich mit der Kritik auseinandersetzen – das direkte (mitunter etwas unwirsche) Feedback macht doch schließlich ein Blog aus.

    Ich wollte mich an der überbordenden Diskussion eigentlich gar nicht weiter beteiligen, deswegen hier nur eine kurze Nachfrage zu ihrer Antwort:

    Insofern hat wahrscheinlich die Formulierung „faktischer Heilerfolg“ zu Irritationen geführt, weil Sie darunter vermutlich naturwissenschaftlich nachgewiesene Wirkzusammenhänge verstehen.

    Eben gerade nicht 😉 Ich meinte damit die „augenscheinlichen Heilerfolge“, den man sich wissenschaftlich, sprich systematisch, mit einer Vielzahl erdenkbarer Methoden nähern kann. Mir ist nicht klar, was das Alleinstellungsmerkmal eines „naturwissenschaftlichen“ Untersuchungsansatzes ist, mir ging es um die systematische Untersuchung der Wirksamkeit, der im Artikel ja die Sonderrolle „Schulmedizin“ oder „Biomedizin“ zugesprochen wird.

    Korrekter wäre wohl „augenscheinlicher Heilerfolg“ gewesen, denn gemeint war der Vorgang, daß Menschen mit einer Erkrankung sich mit dem Ziel der Heilung behandeln lassen und daraufhin die Erkrankung ohne eine parallele andere Behandlung verschwindet bzw. abheilt – ob nun durch direkte physikalische Einwirkung oder durch Placebo oder wodurch auch immer (ein Beispiel für Placebo wäre ja wohl die Akupunktur). Ich will nur schwer hoffen, daß nicht die bloße Tatsache, daß ich die Existenz solcher augenscheinlichen Heilerfolge als gegeben zur Kenntnis nehme, hier schon wieder als „Esoterik“ bezeichnet wird.

    Ist es nicht so, dass die gesamt Medizin auf diesen „augenscheinlichen Heilerfolgen“ aufbaut? Die Aufklärung der genauen kausalen Zusammenhänge ist doch sekundär. Das hat nach meinem Verständnis nichts mit Esoterik zu tun, aber hier scheint sowieso jeder etwas anderes unter „Medizin“ und „Esoterik“ zu verstehen.

    Unabhängig von ihrer Erklärung kann man Behauptungen, also auch Heilungsversprechen, testen. Der Mechanismus dahinter – Pharmakologie, Placeboeffekt, Psychosomatik, was auch immer – ist dabei irrelevant. Hypothesen kann man prüfen und das ist ganz einfach Wissenschaft, und damit erübrigt sich auch die Diskussion über umwälzende neue Erkenntnisse, die uns vielleicht bevorstehen. Das ist nach meinem Verständnis auch keine Frage des Weltbilds: Jede Definition von „Medizin“ hat fraglos Linderung von Leiden als Ziel. Ob dieses Ziel erreicht wird, kann man überprüfen, die Kriterien können „hart“ sein (Tod oder Überleben des Patienten) oder „weich“ (vom Patienten gefühlte Verbesserung), und die emotionale Rolle des Behandelnden gehört fraglos dazu, was sich einer systematischen Betrachtung aber ebenfalls prinzipiell nicht entzieht.

    Deswegen irritiert mich die Formulierung im Artikel, dass hier der „objektiven, wissenschaftlichen Bio-Medizin“ eine Sonderrolle zugestanden wird. Ich verstehe gar nicht, wie sich eine andere Medizinformen von der Auffassung „ich mache etwas mit dem Patienten, dann verbessert oder verschlechtert sich seine Gesundheit oder sein Wohlbefinden“ unterscheiden sollen? Welche Medizin ließe sich nicht wissenschaftlich überprüfen? Ein Heilerfolg, der sich mit irdischen Mitteln nicht messen ließe, also „wissenschaftlich“ durch Beobachtung erfassen ließe, müsste doch dann in einer weiteren Dimension stattfinden, einer zweiten Realität. Es ist mir schleierhaft, wie sich ein „faktischer Heilerfolg“ einstellen kann, wenn man ihn nicht wahrnehmen kann?

    Ich hoffe, damit ist klar geworden, was ich mit meiner Frage nach einer „weiteren Realität“ meinte.

    Ich habe also nie behauptet, daß heute nicht erklärbare Dinge grundsätzlich unerklärbar wären oder daß man sich ihnen nicht durch Beobachtung und Nachdenken nähern könnte. Wir wissen nur einfach nicht, wie die Wissenschaften in der Zukunft tatsächlich aussehen werden und ob unsere heutigen Erkenntnisse wirklich so unumstößlich sind, wie wir derzeit annehmen. Mir schien aber aus einigen Kommentaren hier die Überzeugung herauszuklingen, daß unsere heutigen Erkenntnisse fraglos unumstößlich sind und man damit die gesamte Welt im Prinzip bereits schlüssig erklären kann.

    Ich glaube, dass kein Wissenschaftler die heutigen Erkenntnisse als endgültig und unumstößlich ansieht, sonst könnten sie ja auch gleich mit ihrer Arbeit aufhören. Es kann sich hier nur um eine Missverständnis handeln, also ist auch der Vorwurf der Arroganz nicht berechtigt.

  57. @ Tobias und Michael Blume

    Was ich meinte, ist nicht, daß wir mit Schere im Kopf schreiben sollten. Keine Sorge, das machen wir schon nicht! Die Frage ist auch, ob wir das überhaupt hinbekämen, selbst wenn wir es wollten. 🙂

    Und natürlich muß man Mißverständnisse möglichst schnell ausräumen (oder auszuräumen versuchen). Auch das werden wir natürlich weiterhin tun.

    Ich finde auch grundsätzlich gut, daß Kiras Beitrag eine so lebhafte Diskussion losgetreten hat.

    Nur habe ich den Eindruck gewonnen, daß es nicht wirklich hilfreich ist, sich zu ausführlich auf Meta- und Nebendebatten einzulassen, mit denen man letztlich nichts weiter erreicht, als vom eigentlichen Thema und Anliegen abzukommen und noch viel falscher verstanden zu werden als vorher.

  58. Was kann überhaupt heilen?

    Ist (Zitat)“was wir als wissenschaftlich begreifen, auch nur Ausdruck eines bestimmten Verständnisses von Gesundheit, Krankheit und Heilung” wie Kira Schmidt Stiedenroth sagt?

    Der Physiker Markus A. Dahlem hat es auf den Punkt gebracht, wenn er (als Antwort) schreibt:

    ” Da aus meiner Sicht jede Heilung auf einer Wechselwirkung basiert kommt grundlegend die Physik mit herein, auch wenn uns auf dieser “unteren” Beschreibungsebene die Prozesse oft sicher verborgen bleiben. Dort wo die Wechselwirkung schlicht nicht sein kann, ist es keine Medizin. Vieles was als “Alternativ” angeboten wird, ist leider auf diesem Niveau und widerspricht der Physik. “

    Konkret: Wer einen Wirkmechanismus behauptet, der in Widerspruch zu unserem Wissen über die pyhsikalischen Vorgänge steht, redet Unsinn und wenn seine Methode trotzdem heilt, dann sicher nicht wegen dem, was er als Wirkbegründung angibt.

    Beispiel: Homöopathie behauptet durch Verdünnen potenziere sich die Wirkung einer Arznei. Dazu liest am in der Wikipedia:
    Die behauptete pharmakologische Wirkung von Verschütteln und Verreiben sowie der so erzeugten “Hochpotenzen” wird aus wissenschaftlicher Sicht kritisiert, da die Wirkung elementaren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht.[1] Die Wirksamkeit durch Potenzieren hergestellter Arzneimittel konnte in umfangreichen Studien zweifelsfrei widerlegt werden.

    Also: Nicht nur
    a) widerspricht die Homöopathen-Erklärung der Wirkung des Potenzierens elementaren naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern
    b) klinische Studien zeigen ebenfalls keine Wirkung

    Noch einmal: Dort wo die Wechselwirkung schlicht nicht sein kann, ist es keine Medizin.

    Hier kommt nun auch das Video von Sean Carroll From Particles to People ins Spiel: Dort sagt Sean Carroll, dass wir bereits mit Sicherheit wissen, dass es im Bereich, der für Menschen und seine atomaren Bestandteile eine Rolle spielt, keine noch nicht entdeckten Kräfte gibt.
    Folgerung: Telekinese, Telepathie oder andere geheimnisvolle Kräfte, die hin und wieder von Alternativansätzen als Erklärung angeboten werden, gibt es schlicht und einfach nicht – oder wenn es sie gibt, dann sind sie für den Menschen nicht wahrnehmbar und nicht spürbar, weil der Mensch nicht damit interagieren (wechselwirken) kann.

    Man kann aber das Video von Sean Carroll auch missverstehen. Er beginnt nämlich mit der Aussage, dass wir alle Teilchen und Wechselwirkungen, die für unseren Alltag eine Rolle spielen, schon kennen würden und dass es jetzt nur noch darum gehen, nachdem wir nun die Schachfiguren kennen, die unser Leben bestimmen, diese Schachfiguren auch richtig auf dem Schachbrett zu bewegen. Das öffnet extremem Reduktionismus Tür und Tor. Man muss sich aber bewusst sein, dass sogar ein System mit nur ganz wenigen Grundregeln wie es bei zellulären Automaten vorkommt bereits Erscheinungen zeigen kann, die völlig unerwartet sind.

    Vielleicht ist folgende Aussage von Susanne Kurz ja eine Reaktion auf das Video:
    “Ich weiß, daß hier (zumindest bis zu meinem letzten Kommentar) niemand explizit GESAGT hat, er/sie könne im Prinzip die ganze Welt schlüssig erklären oder die Möglichkeit neuer Erkenntnisse ausschließen”

    Doch selbst wenn es im Kleinsten keine neuen Erkenntnisse mehr gäbe, gibt es in unserer Welt jeden Tag neues zu entdecken und zu erkennen. Das macht sogar den grossen Unterschied zwischen evidenzbasierter Medizin und solch abgeschlossenen Systemen wie Homöopathie aus. Die evidenzbasierte Medizin fordert dazu auf, die aktuell wirksamsten Heilverfahren einzusetzen und nicht dogmatisch an einer bestimmten Lehre festzuhalten.

  59. @Martin Holzherr: Wirkmechanismen

    Vielleicht könnten Sie mich von Ihrem Reduktionismus a la Sean Carroll einfach mal kurz überzeugen, indem Sie mir eine einfache Frage beantworten:

    Neulich ist mit Amanda Todd eine weitere 15jährige Opfer des unsäglichen Cybermobbing geworden und hat sich schließlich selbst getötet:
    http://www.focus.de/…ybermobbing_aid_843177.html

    Könnten Sie uns diesen tragischen Vorgang bitte “rein physikalisch” erklären, lieber Herr Holzherr? Oder wären Sie bereit einzuräumen, dass dafür doch z.B. auch biologische, psychologische, soziale und kulturelle Wirkmechanismen einzubeziehen wären, die nicht allein physikalisch zu beschreiben sind?

  60. @Michael Blume: Reduktionismus falsch

    Sie scheinen mich falsch verstanden zu haben. Ich schrieb:
    ” Das öffnet extremem Reduktionismus Tür und Tor. Man muss sich aber bewusst sein, dass sogar ein System mit nur ganz wenigen Grundregeln bereits Erscheinungen zeigen kann, die völlig unerwartet sind. “
    Damit meine ich: Selbst wenn man die Elemente eines Systems kennt, heisst das noch lange nicht, dass man das System verstanden hat und das System kennt.
    Oft ist es sogar überhaupt nicht sinnvoll auf die unterste Ebene, also auf die Ebene der Physik abzusteigen. In der Tat ist es abstrus einen Menschen als Ansammlung von Atomen aufzufassen, obwohl er das eben (auch) ist.

    Ich bin sofort bereit (Zitat)” einzuräumen, dass dafür doch z.B. auch biologische, psychologische, soziale und kulturelle Wirkmechanismen einzubeziehen” sind.

    Bei meinem Kommentar “Was kann überhaupt heilen?” ging es im Kern um die Wirkungserklärungen, die viele alternative Heilmethoden anzubieten haben. Interessanterweise erklären viele alternativen Verfahren die Wirkungen auf physikalische Art, jedoch mit falscher Physik. Für Unani und Ayurveda gilt nach Wikipedia:
    ” Both are based on theory of the presence of the elements (in Unani, they are considered to be fire, water, earth and air) in the human body. (The elements, attributed to the philosopher Empedocles, determined the way of thinking in Medieval Europe.) According to followers of Unani medicine, these elements are present in different fluids and their balance leads to health and their imbalance leads to illness. All these elaborations were built on the basic Hippocratic theory of the four humours. The theory postulates the presence of blood, phlegm, yellow bile and black bile in the human body. Each person’s unique mixture of these substances determines his Mizaj(Temperament). a predominance of blood gives a sanguine temperament; a predominance of phlegm makes one phlegmatic; yellow bile, bilious (or choleric); and black bile, melancholic. Whan these humours are in balance, the human system is healthy and whan it is imbalance which can result in disease.”

    Aus heutiger physikalischer, biologischer und humanmedizinischer Sicht sind die obigen Erklärungen zu den Wirkweisen der Elemente und der Körpersäfte schlicht Unfug. Falls diese Heilverfahren trotzdem etwas bewirken, dann sicher nicht auf die Art in der das behauptet wird.

  61. @Martin Holzherr

    Auch die Wirkungserzählungen zu Heilpflanzen in alten Klosterbüchern oder in den Traditionen von Wildbeutervölkern sind aus heutiger Sicht wissenschaftlich nicht mehr haltbar. Dennoch investieren Forschende inzwischen zu Recht viel Zeit und Geld darin, solche Traditionen zu erforschen und sie a) historisch besser zu verstehen, b) dabei auch immer wieder Wirkstoffe, Verfahren o.ä. zu finden und c) mithin auch die erwähnten psychischen, sozialen und kulturellen Wirkmechanismen, die Gesundheit mit ausmachen, aus weiteren Perspektiven zu erkunden.

    Unani scheint mir dabei sogar besonders interessant zu sein, weil es noch heute in erheblichem Umfang praktiziert wird aus der Verbindung verschiedener Kulturen hervor gegangen ist. Wir als zunehmend globale Wissensgesellschaft tun gut daran, es besser zu erforschen und zu verstehen.

    Ich finde es also klasse, dass die Kolleginnen die Medizintradition des Unani respektvoll, neugierig und ergebnisoffen erforschen – und ihre entsprechenden Beobachtungen, Begriffe und Überlegungen hier sogar zur interdisziplinären Diskussion stellen. Wenn Wissenschaft wirklich so empirisch funktioniert, wie wir beide und viele andere das hoffen, bestehen für Ängste und Unterstellungen gegen die Forscherinnen keine nachvollziehbaren Gründe. Sachliche Kritik ist ja okay, aber die Schärfe der Polemiken (“Esoterik”, “Wegwerfmenschen” u.ä.) befremdet doch sehr.

  62. noch ein Versuch

    Michael, du schreibst doch selber:
    … dass psychische und soziale Prozesse auf physikalischen Grundlagen aufbauen, aber nicht auf diese reduzierbar sind.
    [meine Hervorhebung]

    Das Problem was Martin Holzherr längst klar erkannt hat — bei Susanne Kurz sehe ich diese Einsicht noch nicht, ich mag mich irren –, ist zum einem, dass einige Methoden gegen physikalischen Grundlagen verstoßen und damit schlicht als falsch zu bezeichnen sind.

    Und zum anderen wie ich zuvor schrieb:
    Wir müssen unsere medizinische Forschung unbedingt dahingehend fokussieren, wenigstens nicht im Widerspruch zu den wissenschaftlichen Fundamenten zu stehen, sonst stünden der Ressourcenverschwendung Tor und Tür weit offen. Jede Überprüfung solcher Theorien ist unsägliche Verschwendung, denn das Ergebnis ist bekannt! Das ist nicht Arroganz, sondern im Gegenteil, dieses nicht verstehen zu wollen, das nennen ich wissenschaftliche Ignoranz — andere nennen so etwas wissenschafts-feindlich, soweit gehe ich nicht, denn diejenigen meinen es ja vermeintlich als richtigen wissenschaftlichen Drang Fragen zu stellen.

    Wissenschaft muss in der Tat immer den Mut haben, ständig neue Fragen zu stellen. Aber nicht alte, längst beantwortete nochmal neu zu stellen, nur weil man sich nie die Mühe gemacht hat, die alten Antworten in ihrer Weitereiche und Gesichertheit auch nur ansatzweise zu verstehen.

    Es ist dieses Nichtverstehen von der Sicherheit unseres Wissens, was ich als Ignoranz bezeichne. “Vielleicht wirkt es ja doch feinstofflich an der Physik vorbei…” OMG.

    Ja, auch alte sichere Antworten können prinzipiell falsch sein. Das Risiko gehe ich mehr als gerne ein, um eben nicht Ressourcen zu verschwenden. Sondern diese für neue wirklich dringende Fragen zu nutzen denn letztlich ist es für unser Leben.

    Viele der Ansätze der alternativen Medizin sind genau deswegen wirklich gefährlicher Unfug.

  63. @Markus

    Lieber Markus,

    da bin ich ja im Grundsatz durchaus bei Dir. Freilich besteht ein erheblicher Unterschied darin, ob wir eine “Theorie” (wenn wir vorwissenschaftliche Traditionen überhaupt so nennen wollen) ethnologisch beschreiben, medizinisch überprüfen oder gar (z.B. gegen Bezahlung) anwenden. Die Bloggerinnen hier tun nur das Erstere – und das ist m.E. ihre gute, ethnologische Aufgabe! Das Begriffe dabei auch mal holpern: Geschenkt! Da muss, wie Sören zu Recht bemerkte, doch wirklich jede(r) Wissenschaftsbloggende durch, das ist doch eine Chance des Ganzen!

    Um ein Beispiel zu nennen: Es gibt eine Menge ethnologischer und religionswissenschaftlicher Studien zu schamanistischen Heilritualen, Trancetänzen usw. Wer diese erforscht und beschreibt, wird aber dadurch gerade nicht zum Schamanen (oder der Schamanin). Im Gegenteil: Gerade auch diese Forschungen halfen und helfen uns, psychische, soziale, kulturelle Wirkmechanismen wie emotionale Wirkungen durch Gruppendynamiken, Placebo, Auswirkungen von veränderten Selbsterzählungen usw. zu verstehen.

    Wenn Du von Heilung sprichst, so schwingt darin z.B. der ursprüngliche religiöse Begriff des Heils (wie in Seelenheil, Heiligung etc.) mit. Und sogar der Begriff der “Psyche” selbst einen griechisch-mythologischen Hintergrund: Er beschreibt eine Menschenfrau, die schließlich selbst zur Göttin erhoben wird. Das macht die heutige, heilende Medizin und Psychologie nicht generell zur Esoterik…

    Auch Unani hat es verdient, zunächst wissenschaftlich beschrieben und interdisziplinär diskutiert zu werden, bevor man über Überprüfungen o.ä. überhaupt entscheiden müsste. Wen das nicht interessiert, muss sich ja nicht beteiligen – aber Angst muss m.E. niemand davor haben. Ich wünsche den Forscherinnen einfach viel Glück und Resonanz dabei!

  64. @ Martin B.

    Hallo Herr B.,

    zunächst einmal danke für das Lob. Selbstverständlich antworte ich auf direkte und sachliche Fragen an mich. Ich setze mich auch grundsätzlich mit der geäußerten Kritik auseinander, denn wenn ich aus der Diskussion nichts lerne, dann hat es ja keinen Sinn, einen solchen Blog zu betreiben.

    Vielen Dank auch für die Klarstellung Ihrer Position. Wir liegen da wohl gar nicht weit auseinander. Natürlich muß ein Heilerfolg wahrnehmbar sein, und natürlich kann man überprüfen, ob eine Krankheit vorher vorhanden war und nachher nicht mehr vorhanden ist etc.

    Bei meiner Antwort an Sie hatte ich die Stellungnahme von Herrn Dahlem im Hinterkopf – die ich übrigens sehr erfreulich, weil ausgesprochen klar fand –, daß z.B. Homöopathie Esoterik sei (wenn ich recht verstehe, weil die Erklärung der Homöopathie für ihre behauptete Wirkung nicht mit den Erkenntnissen der modernen Physik in Einklang zu bringen ist), obwohl er zugesteht, daß sie über den Placebo-Effekt zu Heilerfolgen führen kann. Da hier aber keine direkte physikalische Wechselwirkung des verabreichten Stoffes mit dem Körper des Patienten zur Heilung führt, scheint das für die naturwissenschaftliche Forschung nicht weiter von Belang (oder eben nicht unter den für ein akzeptables Ergebnis notwendigen Bedingungen reproduzierbar) zu sein. So kam es bei mir jedenfalls an, und das war der gedankliche Hintergrund meiner Darlegungen.

    Mein Satz zur „Esoterik“ war übrigens nicht direkt an Sie gerichtet, sondern allgemein in die Runde geworfen, und bezog sich auf die hier in den Kommentaren häufiger zu beobachtende Verwendung dieses Kampfbegriffes (der sich eben wegen dieses Charakters für uns nicht als Beschreibungskategorie eignet, für eine Grenzziehung zwischen dem, was wir „Schulmedizin“, und dem, was wir „andere Medizinformen“ nennen, dagegen schon).

    Was neue Erkenntnisse angeht:
    Wir können ohnehin jetzt nicht feststellen, ob sich welche ergeben werden oder nicht. Mir ging es ausschließlich darum festzuhalten, daß so etwas prinzipiell möglich ist – und zwar auf einer grundsätzlichen Ebene, die sich dann natürlich auch auf die Details in den einzelnen Wissenschaften auswirken würde. Selbstverständlich wollte ich nicht unterstellen, daß irgendein Mediziner davon ausgeht, seine medizinischen Erkenntnisse seien im einzelnen unumstößlich. Aber es scheint doch eine Grundhaltung zu geben, derzufolge man sich heute in den Naturwissenschaften in einem Bezugsrahmen (den heutigen Erkenntnissen der Physik) bewegt, der grundsätzlich nicht mehr überholt werden kann (wohl weil man ihn oberhalb des historischen Prozesses und der menschlichen Welterfahrung glaubt) und deshalb bis in alle Ewigkeit absolute Gültigkeit beanspruchen kann. Ich gehe dagegen davon aus, daß JEDE Art menschlicher Erkenntnis in der Zeit und im Rahmen der menschlichen Wahrnehmung stattfindet und daher auch prinzipiell überholt oder um wesentliche Aspekte ergänzt und neu ausgerichtet werden kann. Mir war dieser Punkt wichtig, weil ein Bewußtsein von der Wandelbarkeit menschlicher Erkenntnisse normalerweise dazu beiträgt, daß man seine eigene Sicht der Dinge – auch wenn sie gut begründet ist und aktuell als korrekt gilt – nicht in verabsolutierender Weise als einzig richtig hinstellt (was in der Folge dazu führen kann, daß man als arrogant empfunden wird). Aber ich möchte das wirklich nicht weiter vertiefen, denn es ist hier nur ein Nebenschauplatz und mittlerweile ausreichend ausgeführt.

  65. nihilism of knowing things

    Oh, Ihr Kommentar ist weg. Wenn Sie ihn gelöscht haben, weil die Diskussion doch zu ausufernd wird, verstehe ich das. Die Antwort kommt nun aber, denn ich habe diese schon geschrieben bevor ich bemerkte, dass die Frage weg war …

    Es ist letztlich mehr als Pragmatismus. Es sei den die Modellsicht der Physik
    gilt als solcher.

    Zunächst ist jedes Gesetz in der Physik nur ein Modell, ein Abbild der
    Wirklichkeit. Verhalten wird oft zuerst durch Daten beschrieben. Ein Vorgang,
    den wir schon Modellierung nennen können. Die Regeln selbst, nach denen diese
    Daten beschrieben werden, sind das Modell. Mehr ist es nicht. Mehr hat ein
    Modell nicht mit der Wirklichkeit zu tun. Oder eine Theorie, die eine
    Ansammlung von Modellen sein kann, oder aber auch ein einzelenes Modell (nach
    meiner Auffassung).

    Denkt man darüber nach, wird schnell klar, dass also letztlich fast nie
    überhaupt etwas wirklich falsch wird in der Physik. Es mag Dinge
    geben, die von Anfang an falsch sind in der Physik, weil wir diese
    bisher nur postuliert haben jedoch nie beobachtet oder angewandt haben. Aber
    falsch werden die Dinge eher nicht.

    Newtons Bewegungsgesetz (das ist so ein Modell) ist in einem bestimmten Rahmen
    heute noch richtig. Und es wird wohl auf immer richtig sein, es sei denn, dieses
    Gesetzt (das Modell) wäre zeitabhängig.

    Modelle haben gewisse Gültigkeitrahmen. Newtons Bewegungsgesetz wurde durch
    Einstein eingeschränkt. Aber es wurde nicht falsch in dem obigen Sinne (und der
    ist auch der für die Medizin relevante Sinn einer Theorie). Auch Sean Carroll
    spricht von solchen Erweiterungen, in denen fast alles was wir heute wissen
    nicht gelten könnte, ohne das dieses Wissen in dem alten Gültigkeitrahmen dabei
    falsch wird. Er nennt diese wunderebare Tatsache “amazingly liberating” und das
    ist sie.

    Stellen wir uns kurz mal vor, die Bewegungsgesetze stellen sich doch als falsch
    in dem vorher bekannten Gültigkeitsrahmen heraus.

    Du liebe Güte, was soll denn nun das arme Flugzeug machen? Nur um ein Beispiel
    zu nennen. Ab diesem Zeitpunkt nicht mehr fliegen? Und vorher hat’s hoffentlich
    keiner bemerkt? Die Hummel, der fette Brummer mit den viel zu kleinen Flügeln,
    die konnte ja bekanntlich selbst nach den alten (den mittlerweile nun also
    falschen Gesetzen) schon nicht fliegen. Da wird es schon nicht so schlimm sein,
    wenn das Flugzeug bisher auch immer aufgrund des nun als falsch erkannten
    Gesetzes flog. Ab heute wird das Flugzeug artig nicht mehr fliegen. Nur die
    Hummel darf weiter fliegen. Die durfte ja schon immer machen was sie wollte.

    Gesetzte bilden die Wirklichkeit durch Beschreibungen ab, diese können höchsten
    falsch sein, wenn wir was falsch beschreiben. Wenn aufgrund unsers Wissens aber
    Dinge funktionieren, wie das dass Flugzeug fliegt, was es wohl auch nicht
    falsch. Oder ein riesen Zufall. Wobei Modelle beschreiben ja immer nur die
    Wirklichkeit. Somit ist das mit dem Zufall egal.

    Wer hier noch verneint, und denkt Gesetzte wir Newtons Bewegungsgesetzt könnten
    doch flasch sein, der obliegt dem “nihilism of knowing things”, um wieder Sean
    Carroll zu zitieren.

    Nun zu Ihrer Frage: “Würden Sie sagen, ein Placebo-Effekt steht in keinerlei
    Beziehung zu der Behandlung, die ihm vorausgeht?

    Doch dazu steht er. Nur dazu. Er steht in keinerlei Beziehung zu dem Wirkstoff
    in der Tablette oder was immer verabreicht wurde. Denn es ist ka keiner drin.
    Das ist ja der Witz der Sache. Der Placebo-Effekt stehe zu der wahrgenommenen
    Farbe der Tabelle in einer Beziehung, zu der Form und Größe. Zu allem, was der
    Patient wahrnimmt. Aber nicht aber dem em nicht vorhandenen Wirkstoff.
    Daher ist Homoöpathie eben per definition nichts anderes als Placebo, denn
    auch da ist kein Wirkstoff drin. Das sagt und die Physik, nämlich die
    Avogadro-Konstante. Diese ist nicht falsch und wird es auch nie werden.
    Und das mit dem Gedächtnis des Wassers, nun die Pillen sind ja nicht aus
    Wasser, oder wurde vom Wasser ddas Gedächtnis auf dem Zucker übertragen?

    Wer das erfroschen will, sollte keine Menschen als Meßgeräte Misbrauchen
    und nicht erwarten Geld dafür zu erhalten.

    Den Placebo-Effekt genau zu erforschen, das wäre eine lohnenswert Aufgabe!

    Ich
    habe dazu schon mal was geschrieben.

  66. @ Markus A. Dahlem

    Ja, ich habe den Kommentar gelöscht, weil er mir dann doch zu unfokussiert war und die Probleme, die ich in den verschiedenen Kommentaren gesehen habe, nicht wirklich auf den Punkt gebracht und geklärt hat. Ausufernd wurde das ganze jetzt natürlich auch.

    Ich habe den Kommentar korrigiert und wollte ihn eben wieder einstellen, habe jetzt aber schon Ihre Antwort gelesen. Nun glaube ich, wir sollten es im wesentlichen dabei belassen.

    Zwar hatte ich mich über Ihren herablassenden Ton geärgert, in dem Sie in der Antwort an Herrn Blume über mich gesprochen haben, aber es reicht vielleicht, wenn ich Ihnen das einfach nur mitteile.

    Den Placebo-Effekt zu erforschen hielte ich aus meinem privaten Interesse heraus auch für sinnvoll und nützlich.

    Über die Details der Physik will ich mich nicht mit Ihnen streiten, obwohl ich mich gerade in den letzten zwei Jahren durchaus verstärkt mit physikalischen Modellen der Welterklärung beschäftigt habe. Ich glaube nur, unsere Differenz liegt auf einer grundsätzlicheren Ebene, aber das greift wirklich zu weit aus, und da nicht zu erwarten ist, daß einer von uns den anderen von seiner Auffassung überzeugen kann, ist diese Diskussion auch müßig. Nur soviel noch: Ich stelle mir eher vor, daß unsere Kenntnisse nach wie vor unvollständig sind, weniger, daß sie falsch sind. Da auch physikalische Modelle stark von der Wahrnehmung und ihrer Interpretation abhängen und diese wiederum nicht statisch ist (außer auf einer sehr basalen Ebene), scheint mir das durchaus denkbar.

    Was ich mir nicht erklären konnte, war, wie Sie auf die Idee kommen konnten, ich wäre der Auffassung, daß Theorien wie z.B. die Säftelehre der “Unani Medicine” heute noch Gültigkeit beanspruchen können. Aber diese Diskussion ist ja in vielen Punkten ein einziges Mißverständnis, und nachdem wir uns nun alle nach Kräften bemüht haben, Mißverständnisse auszuräumen, werde ich mich auch aus der Diskussion zurückziehen und lieber den nächsten Blogbeitrag vorbereiten.

  67. @Markus: in die Tiefe – ein Versuch

    Einen Versuch, noch einmal in die Tiefe zu gehen, will ich hier wagen, bevor du die SciLogs verlässt:

    Laut Carroll ist die unserer Alltagswelt unterliegende Physik vollständig verstanden und sind Wechselwirkungen auf die drei physikalischen Kräfte beschränkt (s.o.); und wir dürften uns wohl darüber einig sein, dass die Erklärungen der Homöopathie (Potenzierung, “Gedächtnis” von Wasser) wissenschaftlich höchst unwahrscheinlich sind.

    Jetzt fange ich einmal beim Phänomen an, also etwas, das wir in unserer Alltagswelt direkt beobachten können, zum Beispiel den Nocebo-Effekt: Inzwischen ist bekannt (und wird es auch in der medizinischen Lehre unterrichtet), dass Ärzte auf Äußerungen wie “Oh, das sieht aber schlimm aus!”, oder (worst-case auf dem OP-Tisch) “Der hat aber keine Chance mehr!”, vor dem Patienten verzichten müssen, weil solche Äußerungen den Krankheitsverlauf verschlimmern können. Diese Verschlimmerung (im Extremfall der Tod) lässt sich wiederum direkt beobachten und sie hat biologische, physikalische usw. Korrelate.

    Wir haben hier also einen Fall vorliegen, in dem ein geäußerter Satz verschiedene Wirkungen hat – ein geäußerter Satz, der nicht nur eine Menge von Schallwellen ist (das ist die gesprochene Lautfolge “ihfseilh dfkjslfh skjdfjk” auch), sondern eine bestimmte Bedeutung. Hier ist es eine negative Bedeutung (z.B., dass es um den Patienten schlecht bestellt ist), die, so sie vom Patienten verstanden wird, die Verschlechterung des Gesundheitszustands nach sich zieht.

    Ich kann diesen Satz mit meinem Füller auf Papier aufschreiben und dann beispielsweise diese Farbpartikel chemisch, physikalisch usw. untersuchen; der Satz kann ebenso gut auf dem Computerbildschirm stehen und lässt sich auch dort untersuchen. Dabei stoße ich zwar auf verschiedene Eigenschaften (ebenso bei “ihfseilh dfkjslfh skjdfjk”), nicht jedoch die Bedeutung des Satzes; ich kann physikalisch, chemisch usw. nicht erklären, warum der eine Satz diese negativen Konsequenzen hat, der andere aber nicht.

    Der Satz hat eine nicht-physikalische Komponente, seine Bedeutung, die nicht mit den physikalischen Eigenschaften seiner Instanzen identisch ist. Es gibt unendlich viele Arten und Weisen, den Satz aufzuschreiben (sogenannte Satz-Token zu erzeugen) und es gibt unendlich viele andere aufgeschriebene Tokens, die jedoch keine Tokens des Satz-Typs “Oh, das sieht aber schlimm aus!” sind (z.B. “ihfseilh dfkjslfh skjdfjk”). Ob ein bestimmtes Satz-Token eine Instantiierung des Satz-Typs ist, dass können wir nicht durch physikalische, chemische usw. Analyse feststellen, sondern nur durch die Überprüfung, ob die Bedeutung des Tokens mit derjenigen des Typs übereinstimmt.

    Sprachwissenschaftlich und psychologisch kann ich den Nocebo-Effekt aber sehr wohl erklären, nämlich dadurch, dass der Patient den Satz versteht, sich dadurch seine Erwartungshaltung ändert, Sorgen usw. usf. aufkommen, die den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen. Ähnliche Phänomene sind etwa aus der psychosomatischen Medizin, der Psychoonkologie usw. bekannt.

    Zusammenfassend kann ich also konstatieren, dass es in der Alltagswelt eine Form von Wechselwirkung gibt, nämlich das Verstehen einer Bedeutung, die sich wissenschaftlich untersuchen, beschreiben und verstehen lässt. Es handelt sich dabei jedoch um keine Wechselwirkung der drei physikalischen Kräfte. Ergo ist Carrolls Schlussfolgerung, dass die unserer Alltagswelt zugrunde liegende Physik vollständig verstanden ist und keine weiteren Wechselwirkungen als die drei physikalischen zulässt, offensichtlich falsch.

  68. @Kurz: Relativismus

    Mit der Äußerung

    Da auch physikalische Modelle stark von der Wahrnehmung und ihrer Interpretation abhängen und diese wiederum nicht statisch ist (außer auf einer sehr basalen Ebene), scheint mir das durchaus denkbar.

    haben Sie dieser Diskussion vielleicht wieder neuen Zündstoff gegeben.

    Nun, Sie haben gerade geschrieben, sich lieber mit dem nächsten Beitrag beschäftigen zu wollen, als hier weiterzudiskutieren.

    Falls Sie irgendwann einmal näher erklären, inwiefern physikalische Modelle stark von der Wahrnehmung und ihrer Interpretation abhängen, dann würde mich das freuen.

  69. eine reicht völlig

    Stephan: Wirklich, das ist Dein Problem? Wo ist denn Deiner Meinung nach die Bedeutung? Doch allein in den Ohren des Hörenden. Und das ist nun eine Metapher, das ist hoffentlich klar. Die Bedeutung ist in dem physikalischen Zustand des Hörenden. Und wenn der nicht gerade Blind ist, hat er nicht nur gehört, sondern noch die Miene gesehen und er saß oder stand aufrecht als er hörte und hat entweder Kelloggs oder Ei mit Speck oder was völlig anders kurz vorher gefrühstückt. Oder er war Nachmittags beim Arzt. Oder eine Ärztin.

    Für all das brauchst Du keine drei physikalischen Wechselwirkungen, da reicht wohl eine völlig aus, die elektromagnetische WW, um diese Vielfalt an Zuständen hinreichend zu beschreiben. Die Zustände auf dieser Ebene zu beschreiben, wäre nicht nur ein hoffnungsloses Unterfangen, es wäre auch wenn es technisch möglich wäre, trotzdem die falsche Ebene. Trotzdem hat Sean völlig recht. Er spricht ja auch von dieser emergenten Ebene.

  70. @Markus: Bedeutung

    Nein, die Bedeutung ist im Satz und überall dort, wo er geschrieben steht, gehört wird usw. Derjenige mit den Ohren versteht den Satz und erschließt sich dann die Bedeutung.

    Auch bei dem Gegenbeispiel “ihfseilh dfkjslfh skjdfjk” hast du jemanden, der die Lautfolge hört, der eine Miene sieht, der saß oder lag und gerade Cornflakes gegessen hat – aber eben keinen Nocebo-Effekt, weil diese Lautfolge eine andere Bedeutung hat (oder gar keine, wie in diesem Fall).

    Diesen Unterschied kann die Physik nicht erklären, weil Bedeutung eben keine physikalische Eigenschaft ist; eine elektromagnetische Wechselwirkung kann das nicht fassen. Daher ist auch die Physik nicht die geeignete Wissenschaft für viele unserer Alltagsphänomene und deshalb irrt sich Carroll, wenn er meint, mehr als Protonen, Elektronen und Neutronen die über Gravitation, Nuklearkräfte und elektromagnetisch miteinander wechselwirken, seien zur vollständigen Beschreibung der Welt nicht nötig.

    Das gilt vielleicht für die Welt eines Physik-Nerds wie Carroll; das ist aber nur eine Teilmenge der Welt, in der wir Menschen leben.

  71. Du versteht Carroll nicht (und da hilft auch nicht Dein Hinweis auf eine Korrespondenz mit ihm).

    Es ist auch nicht Carroll, der Recht oder unrecht hätte (und ob er ein Nerd ist, ist auch völlig egal, er scheint mir aber eher recht un-nerdig). Was er da eloquent erklärt, gibt schlicht die Physik wieder. Eine Erklärung die Du — wie gesagt — missverstehst. Ich denke (und hoffe) dabei, dass Du die Physik in den groben Zügen, die nötig sind sehr wohl verstehst. Also das die Physik ist Grundlage allem ist. Was mit ihr nicht kompatible ist, ist wahrscheinlich falsch. All das versteht Du sicher.

    Aber nicht, was er dann sagt.

    Machen wir an einer anderen Stelle weiter, ok?

  72. @ Stephan Schleim

    Ja, der Gedanke, daß das die Diskussion wieder ankurbeln könnte, kam mir hinterher auch. An sich war das aber nicht meine Absicht. Trotzdem verfolge ich Ihre Beiträge und Herrn Dahlems Repliken mit großem Interesse, erlaube mir aber, mich nicht weiter einzubringen, weil es mich im Moment einfach zuviel Zeit und Energie kostet, die ich für anderes dringender brauche.

    Immerhin hat der kurze nächtliche Austausch mit Herrn Dahlem mich auf einen Aspekt gestoßen, an den ich bei meinen Planungen für die nächsten Beiträge noch nicht gedacht hatte und der wahrscheinlich in meinem übernächsten Blogbeitrag zur Geschichte des “tibb” eine Rolle spielen wird. Womöglich wird er auch für die versammelten Naturwissenschaftler von Interesse sein. Das hoffe ich zumindest.

    In jedem Fall geht mein ernst gemeinter Dank an alle Diskussionsteilnehmer für die eindrücklichen Erfahrungen im interdisziplinären Austausch! Dieser Blog hat mir in relativ kurzer Zeit mehr Einblicke beschert, als ich erwartet hatte, und ich denke, da kann ich auch für meine Kolleginnen sprechen.

  73. @Markus: gerne

    Ich widerlege nicht meine Interpretation seines Videos oder meine persönliche Kommunikation mit Carroll, sondern seine eigene Darstellung seiner Position aus seinem Blog (siehe Zitat oben).

    Wenn die Physik die Grundlage von allem ist (was auch immer das heißt), uns aber beim Verständnis vom Meisten in dieser Welt nicht weiterhilft, dann ist ihre Nützlichkeit z.B. für die Fragen, um die es auch in diesem Blog geht, eben doch sehr beschränkt.

    Ich habe Beispiele für Wechselwirkungen angeführt, die wir alle direkt beobachten können – persönlich wie wissenschaftlich. Wenn die Physik diese nicht erklären kann, obwohl sie die Grundlage von allem ist, dann ist sie entweder in diesem Bereich unvollständig oder falsch. Carroll behauptet, sie sei in diesem Bereich vollständig – dann bleibt logisch nur eine andere Möglichkeit.

    Das ist die Folge eines Arguments, dessen Prämissen oben stehen, sowie logischer Regeln, und nicht meine eigene Meinung. Das hier ist für mich ein Gedankenspiel; die wirklich relevanten Probleme des Lebens finden auf einem anderen Parkett statt.

  74. “Wenn die Physik diese [irgendetwas] nicht erklären kann, obwohl sie die Grundlage von allem ist, dann ist sie entweder in diesem Bereich unvollständig oder falsch.”

    ([irgendetwas] ist meine Einfügung)

    Diese Aussage ist falsch.

    Ob die Physik falsch ist, wird sich voraussichtlich nicht in der alltäglichen Welt zeigen, sondern in fein justierten Experimenten.

    Ob die Physik unvollständig ist, wird sich ebenso nicht in der alltäglichen Welt zeigen, sondern gleichfalls in fein justierten Experimenten.

    Und doch ist sie Grundlage allem, auch dessen was sie nicht erklären kann.

    An welcher Stelle siehst Du da einen Widerspruch?

  75. @Markus & Stephan

    Seit Bunge & Mahner bin ich ein Anhänger der Formulierung vom Substanzmonismus und Eigenschaftspluralismus. Physikalische Entitäten wie Körper und Versammlungen von Körpern können damit emergente Eigenschaften wie Leben, Bewusstsein, Identität, Glauben etc. aufweisen. Demnach hätte beobachtbares Sein stets physikalische Grundlagen, wäre aber in seinen Eigenschaften nicht allein durch Physik zu beschreiben.

  76. @Stephan Schleim und ähnlich Denkende

    Physik will nicht alles erklären wie von Stephan Schleim und vielen Geisteswissenschaftlern immer wieder wahrgenommen und ihr vorgeworfen wird. Wenn es so wäre gäbe und bräuchte es ja gar keine andere Naturwissenschaften. Doch was mit physikalischen Erkenntnissen im Widerspruch ist, kann nicht stimmen.
    Der Grund dafür ist, dass wir alle in einer und derselben Realität leben. Mit Realität meine ich die Summe aller materiellen Dinge. Natürlich gibt es auch nicht-materielles, aber nie ohne eine materielle Basis.

    Wenn man das abstreitet, – dass wir alle in derseben materiell begründeten Welt leben -, dann erlaubt man sich sehr schnell Urteile der Art (Zitat)“was wir als wissenschaftlich begreifen, auch nur Ausdruck eines bestimmten Verständnisses von Gesundheit, Krankheit und Heilung ist, das in unserer Zeit eine dominierende Stellung eingenommen hat und das durch bestimmte Gegebenheiten (z.B. das wirtschaftliche System) geprägt ist” ein.

    Dieser zitierte Satz kann sogar für einen Naturwissenschaftler korrekt sein, wenn man ihn so interpretiert:
    Das was viele Menschen als wissenschaftlich begreifen, ist ihnen durch Schule und Gesellschaft nahegebracht worden . etc.. und man könnte hinzufügen: Das ist nicht unbedingt das, worüber sich die Naturwissenschaft selbst definiert.

    In seiner Absolutheit ist dieser Satz aber falsch. Es gibt naturwissenschaftliche Aussagen, die nicht von der Gesellschaft abhängen, sondern die sogar für Ausserirdische mit einer völlig anderen Kultur und völlig anderem Aussehen genau so wahr wären. Weil auch die Ausserirdischen im gleichen Universum mit derselben Realität leben.

    Man kann sich die Realität nicht aussuchen wie das die vatikanischen Gelehrten zur Zeit Galileis wohl meinten, als sie sich weigerten durch ein Fernrohr zu blicken. Ein Blick, der ihre dogmatischen Theorien zum Einsturz gebracht hätte.

  77. @Holzherr: bitte genau lesen

    Physik will nicht alles erklären wie von Stephan Schleim und vielen Geisteswissenschaftlern immer wieder wahrgenommen und ihr vorgeworfen wird.

    Bitte genau lesen und hier keine haltlosen Behauptungen ins Blaue formulieren.

    Die Physik ist eine akademische Disziplin und “will” überhaupt nichts. Manche Physiker wollen etwas; ein Beispiel für einen Physiker, der der Meinung ist, die der Alltagswelt zugrunde liegende Physik sei vollständig Verstanden und die Phänomene der Alltagswelt ließen sich entsprechend mithilfe von drei Teilchen und drei Kräften vollständig beschreiben, habe ich oben zitiert (und widerlegt).

    Desweiteren empfehle ich noch die Lektüre eines Lexikoneintrags über “Physikalismus”, z.B. in der Stanford Encyclopedia of Philosophy.

  78. Vom Nutzen der Physik

    Stephan Schleim: “Wenn die Physik … uns aber beim Verständnis vom Meisten in dieser Welt nicht weiterhilft, dann ist ihre Nützlichkeit z.B. für die Fragen, um die es auch in diesem Blog geht, eben doch sehr beschränkt.”

    Beschränkt, aber nicht SEHR beschränkt.

    Beispielsweise profitiert Medizin enorm von der Physik bei der Bestimmung des Blutdrucks in den arteriellen Gefäßen.

    25% aller Menschen haben Bluthochdruck, wenn man den prähypertensiven Bereich (120-139/80-89 mmHg) einbezieht, sogar über 50%. Bei über 50jährigen beträgt die Häufigkeit über 50%.

    Das Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung verdoppelt sich mit jedem Anstieg von 20/10 mmHg über den Normwert von 120/80 mmHg! Hypertonie verkürzt die Lebenserwartung um 10-20 Jahre. Aus Harrisons ‘Innere Medizin’: “Ein erhöhter arterieller Blutdruck ist wahrscheinlich das wichtigste öffentliche Gesundheitsproblem in zivilisierten Ländern.”

    Die Anwendung der Physik auf die Medizin alleine bei dieser Erkrankung kann die Lebenserwartung von 50% aller Menschen um 10-20 Jahre erhöhen.

    SEHR beschränkt scheint mir eine Medizin, die diese Vorgehensweise relativiert und unterstellt, sie sei unter anderem dem Wirtschaftssystem zuzuschreiben.

  79. @Markus: Vollständigkeit

    Du scheinst mir eine komische Vorstellung von (Un-)Vollständigkeit zu haben – wenn eine vollständige physikalische Beschreibung/Erklärung der Phänomene der Alltagswelt nicht impliziert, dass man eine vollständige physikalische Beschreibung/Erklärung der Phänomene der Alltagswelt hat (und die hat man nicht), was soll eine vollständige Beschreibung/Erklärung dann sonst bitte heißen?

    Und wenn wir eben nur über fein justierte physikalische Experimente sprechen, dann sprechen wir eben gerade nicht über die Alltagswelt. Zur Erinnerung: Es ist Carroll, der in seinen Vorträgen und Texten die Brücke zur Alltagswelt (und sogar zum Sinn des Lebens) schlägt.

    Dass die Physik die Grundlage von allem ist, das scheint mir deine metaphysische Annahme zu sein, die wir hier m.E. nicht zu diskutieren brauchen. Sie ist fürs Argument nicht unmittelbar wichtig.

    Wichtig war, nach Carroll:

    1. Die der Alltagswelt zugrunde liegende Physik ist vollständig verstanden. (Prämisse 1)
    2. Diese Physik (d.h. eine bestimmte Theorie) lässt nur die Existenz von drei Arten von Teilchen zu, die über drei Arten von Kräften miteinander wechselwirken. (Prämisse 2)

    3. Wir kennen aus der Alltagswelt aber Wechselwirkungen, denen keine der drei Arten von Kräften aus 2. entspricht, z.B. die Wechselwirkung von Bedeutung mit einem bewussten Menschen. (Prämisse 3)
    4. Das führt zu einem Widerspruch aus Prämissen 1, 2 und 3. (Schlussfolgerung 1)

    Streng genommen brauchen wir Prämisse 1 nicht wirklich für den Widerspruch; diese ist eher eine unterliegende Erklärung für Prämisse 2 und dafür, wie wir auf die Alltagswelt kommen.

    Du bist nunmal Physiker und wirst wahrscheinlich versuchen, Prämisse 3 auf die eine oder andere Weise abzulehnen bzw. umzuinterpretieren (das hast du hier in der Diskussion ja schon getan). Also entweder (I) gibt es diese Wechselwirkungen nicht oder (II) sie sind nur Spezialfälle der drei Arten physikalischer Wechselwirkungen.

    (I) funktioniert nicht, denn wir können die Wechselwirkungen direkt beobachten (persönlich wie wissenschaftlich); dies einfach zu leugnen, wäre schlicht unwissenschaftlich. (II) funktioniert auch nicht, denn Wechselwirkungen von Bedeutungen lassen sich nicht auf Wechselwirkungen der drei Arten physikalischer Kräfte zurückführen. (Dies habe ich oben ausführlicher erklärt, z.B. zum Verhältnis des Satzes und seiner Bedeutung zu den einzelnen Instanzen [Token].)

    Ich kann also Prämisse 3 und den Widerspruch (Schlussfolgerung 1) verwenden, um Prämissen 1 oder 2 zurückzuweisen (reductio ad absurdum). Wenn ich Prämisse 1 zurückweise, dann ist die unserer Alltagswelt unterliegende Physik nicht vollständig verstanden, wenn ich Prämisse 2 zurückweise, dann ist diese physikalische Theorie falsch.

    Warum sollte die vorherrschende physikalische Theorie “grundlegender” sein als unsere direkte (persönliche wie wissenschaftliche) Beobachtung? Das leuchtet mir nicht ein. Also scheint es mir sogar vernünftiger, 1 oder 2 zurückzuweisen als 3.

  80. @Bolt: Physik in der Medizin

    Das scheint mir jetzt eher ein Beispiel aus der Physiologie und Biologie zu sein als eines aus der Physik. Sie können “Bluthochdruck” doch wahrscheinlich gar nicht rein physikalisch formulieren.

    Beispiele wie diese helfen uns aber so oder so nicht weiter – sie sind selektiv. Um den Nutzen der Physik für die Medizin zu beurteilen, müssten wir eine Analyse über die gesamte Medizin vornehmen. Ich würde mir im Bereich bildgebender Verfahren wie MRI, CT, SPECT usw. die besten Argumente für die Physik erwarten – aber im Übrigen sind auch diese Verfahren nicht rein physikalisch, sondern nur “auch” physikalisch. Sie haben physikalische, bioligische, physiologische, chemische, mathematische Grundlagen usw.

    Fakt ist, wenn Sie zum Arzt gehen, müssen Sie mit ihm erst einmal reden – das heißt, es kommt zur Wechselwirkung von Bedeutung. Wenn Ihr Arzt Ihr Problem nicht versteht, dann führt das im allgemeinen zu lästigen und teils sogar sehr gefährlichen Folgen.

    Ergo: Ohne die Physik können wir in der Medizin recht weit kommen, ohne die Psychologie so gut wie nirgendwo hin. Am weitesten kommen wir aber mit Physik und Psychologie (und Biologie, Chemie usw. usf.).

  81. @Stephan Schleim : Versuch in die Tiefe

    Nicht nur Physik erhebt nicht den Anspruch alles zu erklären auch der Physiker Carroll will das nicht. Er sagt lediglich, die Alltagsphysik, die für den Menschen und seine Umgebung eine Rolle spielt ist erforscht und innerhalb dieser Umgebung werden sich keine grundlegend neuen physikalischen Kräfte mehr finden.
    Also wird im ausführlich vorgestellten nocebo-Beispiel, wo der Patient auf negative Einschätzungen seiner Gesundungschancen mit einer Verschlimmerung reagiert es nie so sein, dass der Patient von den negativen Gedanken des ihn behandelnden Chirurgen etwas auf telephatische Art erfährt wobei die Telepathie eine uns noch unbekannte Energieform benutzt.

    Carrol streitet mit Sicherheit nicht ab, dass es verschiedene Abstraktionsebenen gibt, zumal Physiker ständig damit arbeiten. Die Bedeutung eines Satzes lässt sich trivialerweise nicht direkt physikalisch erklären. Damit der Satz aber geäussert werden kann braucht es eine materielle Grundlage. Einen Sprachtrakt, ein Gehirn. Man könnte in noch viel mehr Details absteigen. Und dennoch würde diese rein materielle Beschreibung noch nichts über die Bedeutung des Satzes enthüllen.

    Auch ein Satz von Schachfiguren sagt wenig über das Schachspiel aus. Ohne Schachfiguren kann man aber nicht Schach spielen. Blindschach arbeitet auch mit Schachfiguren, nur werden die mental repräsentiert und damit – soviel wir heute wissen – sind sie in Gehirn-Synapsen oder anderen temporären Speichern im Hirn tatsächlich materiell vorhanden.

    Sogar für Bedeutungen von Sätzen muss es eine materielle Grundlage geben, eine Repräsentation im Hirn. Nur ist die Beziehung zur Physik in solchen Fällen alles andere als trivial. Was man mit Siccherheit sagen kann: Ohne Hirn gibt es auch keine Sätze und keine Bedeutung von Sätzen.

  82. Stephan: Auch die von Dir neu eingeführte Wechselwirkung aus dem Beispiel wird allein durch die grundlegenden Wechselwirkungen der Physik übermittelt (um mehr als die Transmission geht es gar nicht), damit bliebt alles so, wie Carroll es sagt. Du kannst selbstverständlich damit weiter leben zu glauben, dass Du etwas verstanden hast, dass Carroll falsch sieht oder nicht versteht, statt Dich mit dem Gedanken anzufreunden, dass Du noch etwas nicht verstehst, was Carroll eigentlich sagt.

    Eine der beiden Versionen wird stimmen, oder du bist gar doch einer Meinung mit ihm. Deine Wahl.

  83. Markus, Holzherr

    Wir brauchen hier keine Carroll-Exegese zu betreiben, sondern können uns mit dem beschäftigen, was er wortwörtlich schreibt; das zitiere ich der Einfachheit hier noch einmal, auch wenn ich es nicht mag, mich wieder und wieder zu wiederholen:

    All we need to account for everything we see in our everyday lives are a handful of particles — electrons, protons, and neutrons — interacting via a few forces — the nuclear forces, gravity, and electromagnetism — subject to the basic rules of quantum mechanics and general relativity. … That’s a remarkably short list of ingredients, to account for all the marvelous diversity of things we see in the world.

    Die Wechselwirkung von Bedeutung mit Menschen, die sie verstehen, ist nicht von mir neu eingeführt, sondern wird von uns allen tagtäglich beobachtet und in verschiedenen Disziplinen wissenschaftlich beforscht, beschrieben, systematisiert usw.

    Die Idee, dass es sich dabei nur um eine Spezialform der physikalischen Wechselwirkung handelt, ist hingegen reine Spekulation und gehört damit ins Reich der Metaphysik.

    Ich für meinen Teil hatte für heute schon genug Metaphysik und habe noch andere Pläne für meinen Sonntagnachmittag; ich hoffe, Sie alle auch. 😉

  84. @Schleim: Austausch von Bedeutung

    Austausch von Bedeutung ist keine elementare Wechselwirkung.
    Man kann sie nicht auf die gleiche Stufe stellen wie die Kräfte, die den Atomkern zusammenhalten oder die Kräfte zwischen Ladungen.

    Austausch von Bedeutung zwischen Menschen kann es nur geben indem eine der elementaren physikalischen Wechselwirkungen stattfindet. Indem also beispielsweise einer spricht oder eine SMS schreibt.

    Das führt uns zur Stellung von geistigen Dingen in der Realität:
    Gedanken, Bedeutung, Gefühle, Wünsche etc..

    Diese haben keine Eigenexistenz und Wechselwirkungen zwischen Gedanken, Bedeutungen, etc. (also z.B. Der Gedanke xxx erzeugte in mir das Gefühl yyy) sind nicht innerhalb eines System möglich, in dem es nur solche Dinge wie Gedanken,Bedeutungen, Gefühle gibt.
    Der Mittler zwischen Gedanken und Gefühlen, etc. sind wiederum materielle Dinge und Prozesse, die mit Chemie und Physik zu tun haben und die in unserem Hirn ablaufen.

  85. @Martin B. Ich denke es ist noch viel einfacher als Monismus-Dualismus. Es geht um letztlich um einfache Logik.

    So wie wahrscheinlich niemand ein Problem damit hat, wenn ein Patentbeamter einen Antrag auf eine Erfindung eines Perpetuum Mobile ablehnt, ohne genau zu prüfen, ob diese vielleicht doch funktioniert, so sollten wir auch Dinge ungeprüft ablehnen, die zu heilen versprechen, jedoch die Physik verletzten. Denn sie heilen nicht.

    Das wissen wir längst. Wir haben es sorgfältig geprüft, denn die Physik stimmt ja (was ja unstrittig ist!).

    Es ist so, wie wenn ich die Aussage, “die Physik stimmt” damit nochmal überprüfen möchte, ob “das der Physik widersprechende nicht stimmt”.

    Stellen wir uns vor, wir sind sicher, dass alle Raben schwarz sind. Und ich sage nun, das etwas Nicht-Schwarzes ein Nicht-Rabe ist. Dann stimmst Du dem wohl zu (hoffe ich mal). Und Du sagst auch nicht: “Warte mal, diese Aussage haben wir ja noch nie geprüft. Mist, wir haben immer nur Raben untersucht.” (Sprich: Physik betrieben bis zur 12ten Kommastelle).

    Diese scheinbar andere Aussage haben wir zwar nie direkt überprüft und doch haben wir sie überprüft und zwar in einer anderen, viel bessern Form! Damit kann man Astrologie, Löffelbiegen, Leben nach dem Tod und vieles mehr, für nichtig erklären. (Tut mir auch Leid.)

    Sollten wir uns allerdings Fragen, ob wirklich alle Raben schwarz sind (die Physik denn wirklich stimmt), dann sollten wir besser nicht die unendlich vielen Nicht-schwarzen Dinge suchen und schauen ob es ein Nicht-Rabe ist, sondern uns auf die Suche nach Raben machen und schauen, welche Farbe sie haben.

    Leider meinen viele Menschen mit der Medizin in Form von Doppelblindstudien ja eventuell die Physik widerlegen zu können, danach wäre Heilung dann möglich mit Verletzung der Physik.

    Es geht nur um Logik hier. Live long and prosper.

  86. Holzherr, Markus

    Austausch von Bedeutung ist keine elementare Wechselwirkung.
    Man kann sie nicht auf die gleiche Stufe stellen wie die Kräfte, die den Atomkern zusammenhalten oder die Kräfte zwischen Ladungen.

    Es ging auch gerade nicht darum, die Wechselwirkung der Bedeutung auf die selbe Stufe der drei physikalischen Arten von Kräften zu stellen – sie ist nämlich keine rein physikalische Wechselwirkung. Das ist ja gerade der Punkt!

    Daraus, dass ein Medium, ein Körper, sprachliche Konventionen usw. notwendig sind, um bedeutungsvolle Sätze miteinander auszutauschen, folgt gerade nicht, dass diese Entitäten für das Verständnis von Bedeutung hinreichend sind – letzteres postuliert aber Carroll und irrt sich damit.

    Zu All-Aussagen über Raben sei hiermit auf das Raven Paradox verwiesen sowie auf die Beobachtung seltener weißer Raben. Die wird doch wohl niemand diskriminieren wollen? 🙂

  87. Ende

    Stephan: Ich bin wirklich erschrocken über Deine Uneinsichtigkeit — oder meine, da wir selten mehr als 5-7 Kommentare brauchen, um letztlich festzustellen, dass wir nicht wirklich so dermaßen auseinander liegen.

    Ich beende das hier, habe aber in einem eignen Beitrag das Thema aufgegriffen.

  88. Wissenschaftsverständnis der Autorinnen

    Ist das “was wir als wissenschaftlich begreifen, auch nur Ausdruck eines bestimmten Verständnisses von Gesundheit, Krankheit und Heilung”
    Dieser Auffassung wurde hier von vielen Kommentatoren gleich schon als erste Reaktion widersprochen. Die “besten” Antworten darauf möchte ich hier noch einmal wiedergeben:
    Lars Fischer schreibt: “Inzwischen nämlich sind Mediziner sehr wohl in der Lage, Ursachen und Heilungsverfahren systematisch zu erforschen und auf dieser Basis Krankheiten zu heilen, die man vorher nicht behandeln konnte.”
    Markus A. Dahlem:
    “Für mich ist Medizin angewandte Wissenschaft … Es gibt sicher kulturelle Besonderheiten, … doch dass rechtfertigt nicht die obige Unterscheidung”
    Sören Schewe:“Ich finde es immer wieder faszinierend, dass Menschen glauben, in der Medizin ginge es nur um physiologische Prozesse und nicht um den Menschen oder das Tier. Dem ist – das mag Sie jetzt überraschen – nicht so.”
    Hermann Aichele:“Interessant, zu welcher Lektüre man hier (durch verschiedene Querverweise) kommen kann – da, in diesem früher mal als Soziotop bezeichneten Bereich üben sich wohl einige Kommentatoren ‘in Höflichkeit’.”
    Clemens: “Medizin hat aber nichts mit Weltanschuung zu tun, ebenso wenig wie ein Motor oder eine Kamera. “
    Tobias:“Es ist eigentlich ganz einfach und unabhängig von der ‘Weltanschauung’. Medizin ist Medizin, wenn Sie nachgewiesenermaßen wirkt.”
    Joachim:“Es ist sicher aus ethnologischer Sicht interessant, sich mit anderen Medizinbegriffen auseinanderzusetzen. Was mir nicht klar ist, warum es so wichtig ist, dass diese Medizinsysteme keine Esoterik sind.”
    Martin B.:
    “Das hört sich so an, als wenn es neben unserer Realität noch eine zweite gäben müsste, die durch Beobachtung oder Nachdenken (‘Wissenschaft’) nicht erfahrbar wäre. Wenn es Gründe für eine Krankheit gibt, dann kann man sie prinzipiell auch beobachten.”

    Wissenschaftsverständnis der Medizinethnologie

    Die Autorin dieses Beitrags ist sich ihrer Sache sehr sicher was ihre wissenschaftliche Position angeht. Dies spiegelt sich in folgenden Replik von Kira Schmidt Stiedenroth:
    “Was aus den Kommentaren deutlich wird, ist, dass eine den Naturwissenschaften nahe Perspektive ein anderes Selbstverständnis von „Medizin“ als die Medizinethnologie hat. Und genau deshalb ist es wichtig, solche Diskussionen zu führen. Ebenso wichtig für mich als Ethnologin ist festzustellen, dass Begriffe, die im Fach sich schon etabliert haben, hier im Forum sehr stark kritisiert werden.”

    Das stellt sofort die Frage nach der Beziehung von Sozialwissenschaften wie der Medizinethnologie zur Naturwissenschaft.
    In ironischer Form hat dies der Schrifsteller Ian McEwan in seinem Roman Solar zum Ausdruck gebracht:
    “Beard had heard rumours that strange ideas were commonplace among liberal arts departments. It was said that humanities students were routinely taught that science was just one more belief system, no more or less truthful than religion or astrology. He had always thought that this must be a slur against his colleagues on the arts side. The results surely spoke for themselves. Who was going to submit to a vaccine designed by a priest?”

    Fazit: Medizinethnologen und Ethnologen an und für sich sollten zuerst einmal mit ethnologischen Untersuchungen ihres Fachbereichs beginnen und die Frage nach dem unterschiedlichen wissenschaftlichen Verständnis von Sozial- und Naturwissenschaften stellen.

  89. Ergänzung

    Eigentlich dachte ich, nach den nach und nach aufgelaufenen 90 (z.T. sehr ausführlichen) Kommentaren wäre es angesichts der Unübersichtlichkeit der Diskussion Zeit, sie an dieser Stelle zu schließen und die strittigen Punkte nötigenfalls im Anschluß an weitere Beiträge wieder aufzunehmen.

    Doch da Martin Holzherr offenbar die löbliche Absicht verfolgt hat, die unübersichtliche Kommentarflut noch einmal zu einem übersichtlichen Fazit zusammenzuführen, möchte ich die aus meiner Sicht hier wichtigste und am deutlichsten auf die Sache bezogene Erläuterung der Autorin selbst ergänzen.

    Kira Schmidt Stiedenroth führte aus:
    “Ich habe versucht, Medizin als Gegenstand ethnologischer Forschung zu diskutieren. Und aus solcher Sicht hat der Begriff „Medizin“ ein viel breiteres Verständnis als „angewandte Wissenschaft“ oder „evidenzbasierte Medizin“. Das Medizinverständnis von Dilger und Hadolt trifft es auf den Punkt: „“Medizin in ihrer Vielfalt: als Befindlichkeit, Substanz oder Technologie, Ideengefüge, Geflecht von Praktiken, symbolische Ordnung, Gegenstand sozialer und religiöser Beziehungen, gesellschaftliche Domäne und als Bestandteil ethnischer, nationaler und internationaler Politiken – und schließlich als teilweise spannungsgeladene Relationen und Überschneidungen derselben“ (2010: 17f.).”

    Aus meiner Sicht besteht das Fazit also in einer Banalität, die man aber selten so hautnah erleben kann wie in dieser Diskussion:
    Sozial- und Kulturwissenschaftler haben andere Gegenstände und/oder Fragestellungen als Naturwissenschaftler, arbeiten deshalb anders als Naturwissenschaftler und verwenden infolgedessen auch zentrale Begriffe anders als Naturwissenschaftler.

    Abschließend nochmals vielen Dank an alle Kommentatoren, die sich die Mühe gemacht haben, ausführliche und weiterführende Kommentare zu verfassen, und die sich auf die Diskussion eingelassen haben. Wir freuen uns darauf, auch im Anschluß an die folgenden Beiträge wieder von Ihnen zu hören.

  90. Bitte ums Dabeibleiben 🙂

    Liebe Blognachbarinnen,

    viele Wochen sind nun seit der hier geführten Debatte vergangen. Wie (meinerseits) befürchtet ist seitdem kein neuer Blogpost mehr in diesem Blog erschienen – was ich (und sicher nicht nur ich!) sehr schade finde!

    Daher wollte ich Euch auf diesem Wege noch einmal aufrufen, ein Lebenszeichen zu geben und den hervorragenden Blog weiter zu führen. Ich habe dazu auch einen Blogpost verfasst, in dem ich schildere, unter welcher Perspektive ich solche aufbrechenden Debatten in meinen Seminaren bearbeite. Vielleicht ist ja ein interessanter Gedanke dabei?
    https://scilogs.spektrum.de/…emergenz-verstehen-sollte

    Euch auf jeden Fall alles Gute, ein fröhliches und auch blog-erfolgreiches 2013 mit Treffen in Deidesheim und Tübingen!

    Michael

  91. @ Michael Blume

    Zunächst mal vielen Dank für die aufmunternde Nachricht!

    Aber keine Sorge: Nach einer kurzen Erholungspause im Anschluß an die heiße Diskussion kamen unsere Beiträge aus anderen Gründen ins Stocken. Wir waren nämlich im Dezember schwer beschäftigt mit ein paar aufwendigen Arbeiten, die zum Jahresende fertig werden mußten. Da blieb leider keine Zeit für neue Blogposts. Wir wollen aber jetzt im Januar weitermachen. Ich hoffe, die Kollegin, die als nächstes “dran” ist, schafft es bald. Und mein nächster Beitrag steht inhaltlich schon ungefähr und muß nur mal geschrieben werden…

    Auf alle Fälle vielen Dank für den Link!

    Und bis bald! 😉

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