Neue Serie bei „Indische Medizin im Wandel“: Was ist eigentlich tibb?

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Teil 1: Was soll „Unani Medicine“ (yûnânî tibb) sein und was ist sie?

Kann man Überlieferungen der graeco-islamischen Medizin (tibb) zur Behandlung heutiger Krankheiten heranziehen? Vertreter der „Unani Medicine“ (oder auf Urdu: „yûnânî tibb“) tun das jedenfalls schon seit längerer Zeit. Aber sie betreiben nicht nur Forschungen über die Wirkung von Heilpflanzen. Auch mögliche Zusammenhänge zwischen traditionellen Temperamentstypen und genetischer Ausstattung sollen überprüft werden. Also: Haben Menschen, die einem bestimmten Temperamentstyp zugeordnet werden, auch genetische Gemeinsamkeiten? Bei solchen Bemühungen geht es darum, mit den modernen Mitteln naturwissenschaftlicher Forschung nachzuweisen, daß die überlieferten Mittel auch nach heutigen Maßstäben wirksam sind und daß die historischen Erklärungsmuster einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten.

Dahinter scheint folgende Idee zu stehen: Medizin hat schon immer versucht, Gesundheit zu erhalten und Krankheiten zu bekämpfen. So gesehen, ist das Ziel der Medizin immer und überall dasselbe, egal, welche Art von Medizin man betreibt. Warum also nicht alle verfügbaren Mittel kombinieren – egal, woher sie stammen? Hauptsache, es funktioniert! Unter dieser Perspektive ist „Medizin“ ein globales Wissensfeld, zu dem grundsätzlich alle Epochen und Weltgegenden Wissenselemente beitragen können und dem alle Ausformungen von Medizin angehören, weil es ihr Anliegen ist zu heilen.

Doch gleichzeitig ist „Unani Medicine“ für ihre Vertreter eine abgrenzbare, regionale Medizin neben der westlichen Schulmedizin und sogar als Alternative zu ihr. Genauso wichtig ist es den Vertretern der „Unani Medicine“ aber, daß ihre Medizin die graeco-islamische Medizin, den tibb, weiterführt und in den Grundlagen mit dem tibb oder besser noch mit der antiken griechischen Medizin übereinstimmt.

Passen all diese Ansprüche überhaupt zusammen? – Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht: Mir drängt sich diese Frage auf. Um sie zu beantworten, muß man aber erst einmal versuchen, eine Reihe von Gedankensträngen zu entwirren, die sich hier verknotet haben. Mit dieser kleinen Serie will ich das versuchen und dabei einen Eindruck davon vermitteln, was tibb nach den originär indischen Quellen ist – den großen persischen Medizinwerken der Mogulzeit. Natürlich will ich ein so klassisches und zentrales Werk wie Avicennas arabischen Canon auch nicht übergehen. Aber er wird hier nur am Anfang direkt einbezogen.

Da wir nun wissen, was „Unani Medicine“ nach Ansicht ihrer Vertreter sein soll, werfen wir einen Blick darauf, als was sie von außen betrachtet erscheint: „Unani Medicine“ ist eine überregionale Medizinform, die mit den Überlieferungen des tibb arbeitet und in ihren heutigen Ausprägungen maßgeblich von den Entwicklungen der letzten hundertfünfzig Jahre in Indien geprägt ist. Sie ist eine Art modernisierte Form des tibb in zweierlei Hinsicht: Einerseits bedienen sich die Vertreter der „Unani Medicine“ naturwissenschaftlicher Methoden und moderner Techniken und Instrumente, um die Berechtigung der „Unani Medicine“ als eigenständiger Medizin zu beweisen und Lücken des tibb zu stopfen. Schließlich waren Mikroskope oder Operationen an Organen tief im Körperinneren im tibb nicht vorgesehen, da schlicht die nötige Technik fehlte. Andererseits haben die Vertreter der „Unani Medicine“ bestimmte Aspekte und Texte aus der reichen Literatur über tibb passend zu den modernen Erfordernissen ausgewählt, sie vor dem Hintergrund der Schulmedizin teilweise neu interpretiert und daraus eine regional und kulturell gebundene Medizin geformt, die aber global vermarktet wird. Selbstverständlich ist das lediglich mein eigener Versuch zu beschreiben, was „Unani Medicine“ ist, und auch dieser Versuch ist an eine Perspektive gebunden: an meine europäische historische Außenperspektive.

Aus eben dieser Perspektive drängen sich mir weitere Fragen auf:

Wie gut vertragen sich moderne Schulmedizin und tibb eigentlich? Was mußte geschehen, damit die heutige „Unani Medicine“ beide verschmelzen konnte?

War tibb vor einigen hundert Jahren eine regional und kulturell gebundene Medizin wie die „Unani Medicine“, oder ist das ein neues Selbstverständnis?

Wie kann man überhaupt davon ausgehen, daß „Unani Medicine“ und westliche Schulmedizin sich so ähnlich sind, daß man sie problemlos kombinieren kann, aber gleichzeitig behaupten, „Unani Medicine“ sei eine ganz eigene Medizinform und eine Alternative zur westlichen Schulmedizin?

In den nächsten Teilen dieser Serie will ich mich diesen Fragen von der Geschichte her nähern, auf die sich die Vertreter der „Unani Medicine“ so ausdrücklich berufen:

Wie wurde tibb noch vor ein paar hundert Jahren verstanden?

Welche Vorstellung hatte man davon, was einen Arzt ausmacht?

Wie stellte man sich die Funktionsweise des Körpers vor?

Wovon hingen Gesundheit und Krankheit in dieser Vorstellungswelt maßgeblich ab?

Ach ja: Und was hat Geschlechtsverkehr mit alldem zu tun?

Im nächsten Teil geht es um die ersten beiden Fragen: Was ist tibb und was muß ein Arzt oder vielmehr: ein tabib können?

Ich hoffe, Sie lesen weiter – in wenigen Wochen – auf diesem Blog. 😉

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Dr. Susanne Kurz hat in Tübingen Islamwissenschaft und Religionswissenschaft studiert und beschäftigt sich vor allem mit der Geschichte und Kultur des persischsprachigen Raumes vom 11. bis 19. Jahrhundert. Sie interessiert sich besonders für humoristische Literatur und Geschichtsschreibung und hat sich seit 2008 auch der medizinischen Literatur in persischer Sprache zugewandt.

3 Kommentare

  1. > Ach ja: Und was hat Geschlechtsverkehr mit alldem zu tun?

    Bis jetzt noch nichts. >:->

    > Im nächsten Teil geht es um die ersten beiden Fragen: Was ist tibb und was muß ein Arzt oder vielmehr: ein tabib können?

    Vermutung: Ein Tabib muss Tibb können.

    > Ich hoffe, Sie lesen weiter – in wenigen Wochen – auf diesem Blog. 😉

    Loge!, LG
    Dr. W

  2. Freut mich sehr,

    daß ich schon zwei “Stammleser” gewinnen konnte.

    Und ja: ein “tabib” muß “tibb” können. 😉
    Die Frage ist nur: Was bedeutet das?

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