Medizin, Ethnologie und Feldforschung
BLOG: Indische Medizin im Wandel

Vor kurzem hielt ich mich für drei Monate in Indien auf, um für meine Promotion in der Ethnologie über Unani Medizin zu forschen. Ethnographische Feldforschung über ein Medizinsystem? Hat die Ethnologie nicht eher mit verschiedenen Völkern und Kulturen zu tun? Seit mehr als vierzig Jahren beschäftigen sich EthnologInnen systematisch mit Konzepten wie Krankheit, Gesundheit und Heilung als wichtige Aspekte jeder Kultur. Einst als Ethnomedizin bekannt, hat sich heute die Bezeichnung Medizinethnologie im deutschsprachigen Raum etabliert, da nicht nur „exotische“ oder „ethnische“ Medizinformen und -Konzepte untersucht werden, sondern auch die Biomedizin (in den Sozialwissenschaften hat sich der Begriff Biomedizin, engl. biomedicine, als möglichst neutrale Bezeichnung für die Schulmedizin durchgesetzt). Die Medizinethnologie ist weltweit in verschiedenen ethnologischen Instituten vertreten und ist durch ihre wachsende Rolle in der Gesundheitspolitik – insbesondere im Kontext der Entwicklungszusammenarbeit – bekannter geworden. Da medizinethnologische Forschung häufig in der Praxis umgesetzt wird und nicht „nur“ einen reinen wissenschaftlichen Zweck erfüllt, erfreut sie sich wachsender Beliebtheit unter Ethnologie-, aber auch Public Health-StudentInnen.
Aber wie wird Medizin ethnologisch untersucht? Wie betreibt man Feldforschung über einen „Gegenstand“, der weder an einem konkreten Platz verortet werden kann noch von einer homogenen Gruppe vertreten wird? Dafür wurden in den letzten Jahren verschiedene Herangehensweisen angewendet. Zum Beispiel untersucht Annemarie Mol in ihrer Ethnographie „The Body Multiple: Ontology in Medical Practice“ (2002, Duke University Press) eine Krankheit, Arteriosklerose, hauptsächlich aus der Perspektive biomedizinischer Ärzte. Für ihre Forschung besuchte Mol jahrelang ein biomedizinisches Krankenhaus in den Niederlanden und beobachtete vor Ort Konsultationen, diagnostische Verfahren, Operationen und sonstige Behandlungen. Darüber hinaus unterhielt sie sich mit dem medizinischen Personal und Patienten, führte Interviews und untersuchte medizinische Archive. Ihre Arbeit zeigt uns, wie eine Krankheit in verschiedenen Bereichen existieren aber auch dargestellt (enacted) werden kann. Ihre Ethnographie bestätigt, dass Medizin, wie jede Wissenschaft, ein Teil von Kultur und Gesellschaft ist und dass sogar Krankheiten selbst auf unterschiedliche Weisen existieren und als solche verstanden werden.
Im Falle der Unani Medizin haben wir es mit einer Form der Medizin zu tun, die in Indien staatlich anerkannt und gefördert wird. Sie ist durch verschiedene Regierungs- und Privatinstitutionen, durch traditionelle Hakims und Absolventen des Bachelor in Unani Medicine and Surgery (kurz B.U.M.S.) im ganzen Land vertreten. Also machte ich mich auf den Weg nach Indien, um der Unani Medizin auf die Spur zu kommen. In drei Monaten habe ich einen Überblick über die vorhandenen Institutionen und die verschiedenen Formen, wie Unani Medizin heute praktiziert wird, gewinnen können. Viele Kontakte wurden geknüpft und ich habe einen Eindruck über die klinische Praxis bekommen. Eine längere Feldforschungsphase ist ab November geplant, dann soll jedoch die Praxis in Form von Konsultationen im Mittelpunkt der Beobachtungen stehen.
Patienten warten auf die Medikamentenausgabe in der Unani Abteilung eines Krankenhauses in Neu Delhi. © Kira Schmidt Stiedenroth
Eine Patientin mit Rückenschmerzen wird in einem südindischen Unani Gesundheitszentrum geschröpft. © Kira Schmidt Stiedenroth
B.U.M.S.
Dieser interkulturell-medizinische Blog mit seinen vielen Überraschungen ist wirklich eine Freude! Will ich hier nochmal blognachbarlich festgehalten haben! 🙂