Warum die Bundesjugendspiele nicht das Problem sind

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
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Die Bundesjugendspiele sollen abgeschafft werden – das verlangt eine Mutter in einer Online-Petition, die “nicht verstehen [kann], warum es heute noch für gut befunden wird, Kinder zu zwingen, sich in eine sportliche Wettbewerbssituation zu bringen, die mit Demütigung und Ohnmachtsgefühlen vor der Peer Group verbunden ist”. Kinder und Jugendliche würden zur Teilnahme an diesem Wettkampf gezwungen – mit Freude an der Bewegung habe dieser Anachronismus nichts zu tun. Und dass leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler so vielleicht auch einmal ein Erfolgserlebnis hätten, rechtfertige auch nicht die Demütigung der sportlich weniger Begabten. Ich persönlich denke ja, der Sportunterricht, so wie er aktuell ist, ist generell der falsche Ansatz, um überhaupt irgendeine Art Freude an der Bewegung zu vermitteln – und wenn das anders wäre, würde so ein Sportfest vermutlich auch gar nicht mehr so ins Gewicht fallen.

Ich selbst fand das “Sportfest” (unter der Bezeichnung lief das bei uns) eigentlich immer ganz lustig – war halt mal was anderes als “normal Schule”, und mit Laufen und Springen konnte ich meine kläglichen Fähigkeiten im Schlagballwerfen auch einigermaßen wettmachen. Gemobbt wurde bei uns deshalb niemand; aber das Echo auf den Blogpost und die Petition von Dr. Christine Finke (hier der Link zu ihrem Blogpost) zeigt, dass andere vermutlich weniger Glück hatten. Spiegel Online tut sich übrigens auch zu diesem Thema mal wieder durch äußerste Differenziertheit und Offenheit für andere Sichtweisen hervor. Nicht. (Nein, ich verlinke diesen gehässigen Unsinn nicht. Sehr gern verweise ich dagegen auf diesen einfühlsamen Beitrag.) Die Hauptargumente lassen sich recht knapp zusammenfassen. Gegen die Abschaffung wird im Wesentlichen hervorgebracht, dass die Kinder heute sowieso zu verweichlicht seien und es im Kampf des Lebens immer “Bessere” und “Schlechtere” gäbe. Für die Abschaffung spricht, dass es wenig sportliche Kinder und Jugendliche gibt, die darunter leiden, in ihrer “Unfähigkeit” vorgeführt zu werden, aber keine Wahl haben, ob sie mitmachen wollen oder nicht.

Das Problem ist aber nicht das Sportfest. Das Problem liegt in einem Bildungssystem, das aus meiner Sicht dem sozialen Vergleich viel zu viel Gewicht beimisst. Leistungsbeurteilung erfüllt verschiedene Funktionen, die einander teilweise widersprechen und die sich deshalb nicht ohne weiteres unter einen Hut bringen lassen. Selektion und Allokation, also die eignungsbasierte Auswahl und “Einordnung”, stellen einen dieser Funktionsbereiche dar; wer einen bestimmten Numerus clausus erreicht, darf dann auch in Heidelberg Medizin studieren. Die Schule trägt durch die Notenvergabe ihren Teil dazu bei, gesellschaftlichen Entwicklungen (wie steigendem Bedarf an Akademikern) zu begegnen[1]. Und das impliziert eben auch den sozialen Vergleich, in dem Schülerinnen und Schüler nach ihrer Leistung im Vergleich zur Gruppe benotet werden. Andere pädagogisch wünschenswerte Ziele fallen dabei unter den Tisch: Wer seine Leistung verbessert, im Vergleich zur Klasse aber immer noch kein Glanzlicht ist, bekommt trotz seiner Anstrengung keine bessere Note. Dass die dadurch etablierte “Hackordnung” zu Konkurrenzverhalten und letztlich einer Entsolidarisierung der Schülerinnen und Schüler führt, ist ein Nebeneffekt, der mit Zielen wie Teamfähigkeit nur sehr bedingt in Einklang zu bringen ist.

In Fächern wie Mathematik, Deutsch oder Englisch, die akademisch relevant sind, mag das ja noch halbwegs nachvollziehbar sein. Noten in diesen Fächern hängen mit dem späteren Studienerfolg stärker zusammen als beispielsweise Kunst-, Musik- oder eben Sportnoten[2]; wenn beispielsweise die Zahl der Studienanfänger reguliert werden soll, wäre es daher sinnvoll, die vorhersagestärksten Variablen auch stärker in die Abiturnote mit einfließen zu lassen[3]. Aber wozu braucht man in Sport diese soziale Bezugsnorm – oder überhaupt Noten? Primär geht es doch darum, einen körperlichen Ausgleich zu den intellektuellen Anstrengungen des Schultags zu schaffen (in Anbetracht dessen sind die vielleicht anderthalb Stunden Sport pro Woche einschließlich Umziehen eine ziemliche Lachnummer).

Für die “schlechteren” (dieses Unwort muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen) Schülerinnen und Schüler bietet der Sportunterricht die Möglichkeit, auch einmal zu glänzen – und da kommen wir den Sportfest-Befürwortern schon wieder näher, aus deren Sicht ja irgendwie eine ausgleichende Gerechtigkeit vonnöten zu sein scheint. Aber Ausgleich wofür? Für die Ungerechtigkeit, dass nicht jeder gleich begabt für die “akademischen Fächer” ist? Und ist diese scheinbare Aufwertung des Fachs Sport nicht bloße Augenwischerei (oder letztendlich sogar Hohn gegenüber den betroffenen Schülerinnen und Schülern?) in Anbetracht der Tatsache, dass die Sportnote in unserer Gesellschaft nun mal deutlich weniger wichtig für den Berufserfolg ist als die Noten in Mathe und Deutsch? Wissenslücken in den Kernfächern lassen sich leider nicht ohne weiteres durch Stärken in anderen Bereichen kompensieren; deshalb sind es ja auch Kernfächer. (Mal ganz abgesehen von der Problematik, dass ja auch nicht jeder, der die Kernfächer nicht gut beherrscht, automatisch gut in Sport wäre.) Sinnvoller, als pädagogische Trostpflästerchen à la “wenn Du schon sonst nix kannst, kriegst Du wenigstens eine gute Note in Sport, Religion oder (je nach Bundesland) Verhalten” zu verteilen, wäre es meiner Ansicht nach, zunächst einmal zu garantieren, dass jeder Schüler und jede Schülerin die notwendigen Basiskompetenzen beherrscht. Dass nach wie vor viele durchs Raster fallen und teilweise erst beim PISA-Test auffällt, dass ein Mittelstüfler nicht richtig lesen kann, zeugt davon, dass da einiges im Argen liegt. Das Thema diagnostische Kompetenz ist glücklicherweise inzwischen auch im Lehramtsstudium angekommen; es bleibt zu hoffen, dass einiges davon auch so lange hängen bleibt, bis die aktuelle Studierendengeneration in den Schulen ankommt.

Nach diesem Exkurs wieder zurück zum Thema, denn eigentlich wollte ich mich ja über den Sportunterricht als solchen auslassen. Es ist klar, dass sich die meisten Menschen eher zu wenig als zu viel bewegen. Wenn man sich Kinder aber mal anschaut, wird man feststellen, das sie eigentlich ständig in Bewegung sind. Wo wir Erwachsenen bei Familientreffen herumsitzen und reden, klettern die Kinder übers Sofa und unter den Tisch, rennen zehnmal vom Keller zum Dachboden und zurück, toben durch den Garten und haben die Kalorien des Mittagessens schon dreimal verbrannt, während wir noch am Dessertwein nippen. Wie kommt es, dass diese offensichtliche Freude an der Bewegung verschwindet – und was kann man tun, um sie so lange wie möglich aufrecht zu erhalten? Hier tut sich ein Betätigungsfeld für den Sportunterricht auf, das dem Gedanken des körperlichen Ausgleichs tatsächlich gerecht werden könnte, statt (ggf. weitere) Frusterlebnisse zu schaffen. Bewegung macht gute Laune (nicht zuletzt wird Ausdauersport erfolgreich in der Therapie von Depressionen eingesetzt) und fördert Konzentrationsfähigkeit und Aufnahmebereitschaft, ist dem Lernen also zuträglich[4].

Nur macht die Art Bewegung, die gerade auf dem Lehrplan steht, nicht automatisch allen gleich viel Spaß. Warum also muss man Monate verschwenden, um die Grundzüge einer Sportart zu lernen, die man später im Leben nie wieder ausüben wird? (Ich habe beispielsweise nie wieder einen Schwebebalken betreten, auf dem ich mich reichlich abgeplagt habe – verschenkte Lebenszeit!) Warum lernt man die Sportarten, die einem Spaß machen könnten, oft gar nicht kennen?

Hier hat die Schule mit ihren vielen Anlagen und vorhandenen Gerätschaften aus meiner Sicht ein ganz großes Potenzial, das nicht einmal in Ansätzen ausgeschöpft wird. Wie wäre es, wenn man Sport nicht nach Klassenstufen, sondern nach Sportarten unterrichten würde – und das zeitgleich für die ganze Schule (oder zumindest einen Teil davon)? Die Sportlehrkräfte könnten interessierten Schülerinnen und Schülern (vielleicht sogar in Zusammenarbeit mit den örtlichen Sportvereinen, die nicht erst seit G8 über Nachwuchsmangel klagen) die Grundlagen in einer ganzen Reihe verschiedener Sportarten vermitteln. Die Kinder und Jugendlichen können sich aussuchen, was sie gern lernen wollen; wenn sie dann feststellen, dass das doch nichts für sie ist, können sie zu einer anderen Sportart wechseln. Alle, die sich in einer Gruppe treffen, wären dadurch von vornherein motivierter – denn sie wollen diese Sportart ja aus eigenem Antrieb ausüben. Allein schon dadurch entsteht ein Gemeinschaftserlebnis (das im übrigen auch viel mehr Mitschülerinnen und Mitschüler umfassen würde als nur die eigene Klasse und somit den sozialen Radius massiv erweitern würde). Und auch, wer nicht wirklich eine Sportart lernen will, sondern einfach nur klettern, toben und springen, kann sich aus dem Fundus der im Geräteraum verstaubenden Kästen, Matten und Sprungbretter einen eigenen Parcours bauen. (Aufsicht könnten möglicherweise Nicht-Sportlehrkräfte führen, die in dieser Zeit ja keine Klassen zu unterrichten haben – denn alle haben ja Sport.)

Ich bin sicher, dass diese Art des interessenbasierten Unterrichts viel stärker dazu beitragen würde, die Freude an der Bewegung zu wecken und zu erhalten und den Schülerinnen und Schülern einen gesunden Lebenswandel nahe zu bringen, der zu allem Überfluss auch noch Spaß macht. Bundesjugendspiele könnte man dann ja immer noch für die leichtathletisch Interessierten anbieten. Oder das Ganze um das Schülersportabzeichen erweitern – das umfasst noch einige weitere Sportarten, mit denen man leichtathletische Disziplinen teilweise ersetzen kann. Wettkämpfe in anderen Sportarten (etwa Ruderregatten) könnten in Kooperation mit Vereinen angeboten werden. Was die Bundesjugendspiele betrifft, sollte es aus meiner Sicht auf jeden Fall möglich sein, auch völlig spaßorientiert mitzumachen, ohne Angst haben zu müssen, von anderen ausgelacht zu werden. Ein Sportunterricht, der Sport als eine Aktivität begreift, bei der man gemeinsam viel Spaß haben kann, könnte aus meiner Sicht viel dazu beitragen, dass Demütigung und Ohnmachtsgefühle von Kindern und Jugendlichen der Vergangenheit angehören – und dass dann auch die Bundesjugendspiele ihrem Anspruch als positives Gemeinschaftserlebnis tatsächlich gerecht werden können.

Fußnoten

[1] Das kann beispielsweise so aussehen, dass die Ansprüche an das Abitur heruntergesetzt werden. Statistiken der Kultusminister/innenkonferenz sprechen von einem Anstieg von 40% der mit der Bestnote 1,0 erzielten Abiturnoten zwischen 2006 und 2012 (hier bestellbar). Dass die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler in diesem kurzen Zeitraum so massiv gestiegen ist, ist eher unwahrscheinlich.

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[2] Der Zusammenhang ist zwar recht hoch, aber keineswegs perfekt; und natürlich variiert er auch je nach Fach.

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[3] Aufgrund der nicht perfekten Vorhersagekraft von Abiturnoten ist es außerdem nur sinnvoll, sie durch andere Kriterien zu ergänzen – das äußerte Anfang Juni auch Manfred Prenzel, der Vorsitzende des deutschen Wissenschaftsrates, in Anbetracht der extremen Unterschiede in den Abiturnoten zwischen den Bundesländern.

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[4] Eine kurzweilige Übersicht über positive Effekte von Bewegung in der Schule findet sich hier: http://www.spektrum.de/news/schulsport-bessere-mathenoten-dank-ausdauerlauf/1344101

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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