Multipel schwerstbegabt, oder: Sind wir nicht alle ein bisschen hochbegabt?

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Auch beim dritten IQ-Test die magische 130 nicht geknackt? Naja, nicht so schlimm. Intelligenz ist ja auch nicht alles, und kognitive Fähigkeiten sind nur ein Teil des menschlichen Fähigkeitsspektrums. Dafür kann man ja gut mit Menschen … eine soziale Hochbegabung, das wäre doch was. Und künstlerische, musische oder sonstwie kreative Aspekte erfasst ein Intelligenztest ja schließlich auch nicht. Und mit einem derart unvollständigen Instrument will man Hochbegabung feststellen?!
Gardners Konzept der “multiplen Intelligenzen” löste seinerzeit eine regelrechte Welle der Identifikation verschiedenster Intelligenzformen aus, die bis heute nicht abgeebbt ist. “Der Poker-IQ” oder “sexuelle Intelligenz” sind nur einige der skurrilen Blüten, die diese Bewegung bislang hervorgebracht hat. Dabei ist Gardners Konzept auf den ersten Blick doch gar nicht so abwegig. Ihm war der rein IQ-basierte Begabungsbegriff zu eng – und wenn man sich den Erfolg des Konzepts anschaut, ist er nicht der einzige, dem es so geht. Ursprünglich waren es sieben. Die ersten drei, linguistische, logisch-mathematische und visuell-räumliche Intelligenz sind durch empirische Forschung noch gut abgesichert. Musikalische und körperlich-kinästhetische Intelligenz sind ebenfalls noch nachvollziehbar, die Differenzierung der inzwischen zum populären Allgemeingut gehörenden “sozialen Intelligenz” in interpersonale (andere Leute verstehen und mit ihnen umgehen) und intrapersonale Intelligenz (sich selbst wahrnehmen und sich entsprechend zu verhalten) mit etwas gutem Willen auch noch. Inzwischen ist er bei zehneinhalb angelangt: Die zwei Aspekte der sozialen Intelligenz wurden in der neuesten Fassung dann doch wieder zusammengefasst; hinzu kamen die so genannte “naturalistische Intelligenz” (Verstehen von Naturphänomenen) und die “existenzielle Intelligenz” (die Übereinstimmung mit dem Kosmos). In der Diskussion waren außerdem spirituelle und moralische Intelligenz, der “geistige Suchscheinwerfer” (die Fähigkeit, ein Feld überblicken zu können) und die “Laser-Intelligenz” (eine Intelligenz, die sowohl Fortschritt als auch Katastrophen bewirken kann); vielleicht schafft es der Poker-IQ ja auch noch irgendwann in die Liste.

Gardner stellte sogar einen richtiggehenden Kriterienkatalog auf, wann ein Fähigkeitsbereich als eigenständige “Intelligenz” gelten kann – aus wissenschaftlicher Sicht grundsätzlich eine gute Idee. Dazu gehören, (1) dass eine “Intelligenz” durch Hirnschädigungen ausfallen kann, (2) dass sie bei Menschen, die eigentlich als geistig behindert gelten, aber in einem Bereich herausragende Leistungen zeigen, als Inselbegabung auftreten kann, (3) dass ihr bestimmte grundlegende geistige Operationen, beispielsweise die Unterscheidung von Tonhöhen, zugrunde liegen, (4) dass sie in der individuellen Entwicklung bei allen Personen bestimmten Entwicklungslinien folgt, (5) dass sie evolutionär bedeutsam ist, (6) dass es experimentelle Hinweise auf ihre Existenz gibt und (7) dass sie in Form eines Symbolsystems (Sprache, Noten, Zahlen …) darstellbar ist. Leider setzt er nicht voraus, dass jede Intelligenz diese Kriterien erfüllen muss – das weicht das Konzept massiv auf. Erschöpfend ist weder seine Liste der Intelligenzen (was ist etwa mit den Bildenden Künstlern?) noch sein Kriterienkatalog, der als selektiv und willkürlich kritisiert worden ist. Und nicht zuletzt sind seine “Intelligenzen” hoch korreliert – sie hängen also statistisch teilweise sehr stark zusammen. Wer generell Zusammenhänge gut versteht und gut schlussfolgern kann, tut das in der Regel unabhängig vom Inhalt.

Im Grunde spricht also alles für eine allgemeine Intelligenz – und die ist, im Gegensatz zu Gardners Theorie, gut abgesichert. Warum erfreuen sich seine Ideen dennoch so großer Beliebtheit? Wenn sich selbst das Produkt einer bekannten Burgerbraterei mit dem Etikett “hochbegabt” schmückt (das Foto wurde im Garten meiner Nachbarn aufgenommen), zeigt sich: Hochbegabung ist auf jeden Fall attraktiv. Aber so, wie die Konsumenten der dort hergestellten Fritten und Burger auch in Muskelshirts und teilweise abenteuerlich kurzen Miniröcken und Shorts nicht unbedingt alle gleich anziehend aussehen, so kann auch nicht jeder hochbegabt sein. Statistisch ist das nun mal so. Sorry! Nun wird aber auch klarer, wie der Mechanismus funktioniert: Wer nachgewiesenermaßen nicht intellektuell hochbegabt ist, sucht sich ein anderes Gebiet, auf dem er oder sie gut ist. Eine solche Begabung gleich als Hochbegabung zu bezeichnen, wäre nicht unbedingt notwendig (ja sogar schädlich); aber augenscheinlich würden die meisten ja doch gerne was von dem leckeren Konzept abbekommen und sich mit dem Etikett schmücken. Die Abwertung der rein intellektuellen Aspekte ist da quasi notwendige Konsequenz.

Das Problem ist: Eine Stärke in einem bestimmten Gebiet ist nicht gleich eine Hochbegabung – da muss sie schon deutlich überdurchschnittlich ausgeprägt sein. Mit einer Inflation der Hochbegabungen, wie sie die Popularisierung der “Multiplen Intelligenzen” nach sich zog, ist letzten Endes aber niemandem gedient. Eine solche Aufweichung des Konzepts führt zwar dazu, dass jeder und jede sich irgendwie hochbegabt fühlen kann – aber wenn alle hochbegabt sind, ist es letzten Endes auch wieder keiner. Die “wirklich” Hochbegabten, deren intellektuelle Begabung durch qualitativ überzeugende Testverfahren nachgewiesen werden kann, stehen dann hingegen vor dem Problem, dass ihre Begabung weder anerkannt noch gefördert wird. Schließlich ist ja jedes Kind hochbegabt, da braten wir keine Extrawürste!

Natürlich soll jedes Kind seinen Stärken gemäß gefördert werden und Gelegenheit bekommen, an seinen Schwächen zu arbeiten. Aber eben jedes Kind – denn auch Hochbegabte sind nicht automatisch in allen Bereichen spitze, selbst wenn diesem Aberglauben nur schwer beizukommen ist. Einfach jede relative Stärke gleich als bereichsspezifische Hochbegabung zu deklarieren, ist sicherlich der falsche Weg – denn davon hat keiner etwas.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

5 Kommentare

  1. daneben & fraktal Begabte

    Der in der Trash- und Trivialkultur vernehmbare Rummel um Begabungsbegriffe führt sich auf den stümperhaften Sprachgebrauch in der Frühzeit der Intelligenzforschung zurück, denn so stark assoziationsbehaftete Wörter wie “Intelligenz”, “Begabung” sollten für wiss. Bezeichnungen vermieden werden. (Fragen Sie z.B. mal einen Spezialisten für schwarze Löcher, was passiert, wenn er in Frankreich seinen Forschungsgegenstand erwähnt…) Das durch Persiflierungen und Varianten ironisch zu unterlaufen, halte ich für richtig. Wie wäre es mit “Danebenbegabt” für die Fähigkeit Themen zu verfehlen? Oder “Fraktalbegabt” für die Fähigkeit, seinen flachen Geist durch iterierte Einfaltungen scheinbar in die Tiefe zu erweitern? Und jene eher interaktionsorientierten, nonverbalen Intelligenzen, die Sie ansprechen, hätten ja auch etwas für sich (aber bitte mit einer psychphysischen Expressionskomponente, so dass sie auch im Visuellen aufscheint). Wie dem auch sei, nützlich ist es, nicht zu vergessen, dass Messkonstrukte wie “IQ” nichts mit komplexen Denkfunktionen zu tun haben. Z.B. war Newton wohl mikrozephal (wird weniger gut begründet manchmal auch von Leibniz behauptet), Feynman und Grothendieck hatten IQ’s um die 120, Hilbert und Wittgenstein galten ihren Familien mit gutem Grund als geistig behindert, Nietzsche hätte seiner Orthographieschwäche wegen sicher nie ein heutiges Gymnasium überstanden, usw.

  2. @T.: Danebenbegabt

    Hallo T., über die Bezeichnung “danebenbegabt” habe ich mich schlappgelacht. Mir kamen da sofort einige Leute in den Sinn, auf die das zutreffen könnte 😉 So weit, dass der IQ nichts mit komplexen Denkfunktionen zu tun hat, würde ich allerdings nicht gehen. Eine gute Voraussetzung dafür ist er allemal!

    Dass später sehr erfolgreiche Leute nicht hochbegabt sein müssen, da gibt es ja einige tolle Beispiele. Terman, der zwei spätere Nobelpreisträger übersehen hat (während das von seinen “Termiten” keiner geschafft hat, trotz exzellenter Unterstützung), ist da nur ein Beispiel. Feynman selbst lästert über Hochbegabung in seiner Autobiographie ja auch ziemlich ab 😉 — Was die historischen Beispiele betrifft: Ein hoher IQ und Dyslexie schließen sich ja nicht aus; vielleicht spielen ja auch bei den anderen Fällen unentdeckte andere Probleme (Asperger-Autismus oder vielleicht einfach schlichtes Einzelgängertum? Das ist ja manchen oft schon suspekt) eine Rolle, die mit der Intelligenz nichts zu tun haben. Das mit der Mikrozephalie bei Newton müssen Sie mir aber noch mal genauer belegen. Ich hätte das jetzt eher mit kognitiven Defiziten assoziiert …

    LG Tanja Gabriele Baudson

  3. bzgl. Newton

    Darauf stiess ich, als ich vor ca. März 2007 mit einem Bekannten für eins seiner Bücher ein paar Hintergrundinfos durchging. Die Info zu Newton’s wahrscheinlicher (leichter) Mikrozephalie wg. Alkohol während der Schwangerschaft seiner Mutter kam von sehr kompetenten Quellen, an Newton’s ehem. Uni gibt es ja ganze Gelehrtendynastien, die über ihn forschen (der Autor des Berichts wuchs faktisch mit Newton auf, unter seinem Kinderbett lagerten Kisten mit Newtons Briefen). Die (nicht frei downloadbaren) Artikel dazu und zu Hooke waren irgendwo im web zwischengelagert und nur diese links wurden untereinander kommuniziert, somit habe ich die scans und bibl. Infos nicht zur Hand, aber vielleicht hat Cliff oder seine Sekretärin noch eine Kopie oder bibl. Daten dazu. Letztendlich könnte aber nur eine Graböffnung die Sache klären. Bei der Bewertung solcher Infos ist natürlich auch nicht zu vergessen, daß bis in die 1920’er Jahre unter Newtons Briefen und Manuskripten heftig ausgesiebt und etliches vernichtet wurde, was “seines Genies unwürdig war”. Auch hatte er durch seine (al)chemistischen Experimente starke und dauerhafte Schwermetallintoxikationen, wie z.B. Haaranalysen belegten (er war sich dessen auch bei Beginn der Experimente bewußt). Die seltsam heftige Animosität zwischen Newton und Hooke ist m.E. sicher durch gegenseitige (verm. hauptsächlich beiderseitig eingebildete) Häme über ihre Gestalten ausgelöst worden. Newtons Schwester war, soweit ich mich erinnere, übrigens auch eine interessante Gestalt, zu seinen Lebzeiten evt. sogar noch bekannter als er. Sie muß so eine Art Lady Gaga des 17. Jhdt.s gewesen sein, die in teiltransparenten Leggings und Bodypainting gekleidet mit der komplett dekadenten jeunesse dorée des Hofadels durch das damalige Nachtleben zog.

  4. Intelligenz

    Sollte man nicht unterscheiden zwischen erlernter und natürlicher Intelligenz? Ein Beispiel: Jemand, der von früh an gerade die Aufgabengebiete der heute üblichen IQ-Tests gut erlernt hat, z.B. Kopfrechnen, Formen erkennen/drehen etc., der wird in einem allgemeinen IQ-Test relativ gut abschneiden. Auf der anderen Seite kann jemand von Natur aus sehr intelligent sein, nennen wir es hochbegabt, aber dennoch im Extremfall Analphabet. Dieser würde im IQ-Test sehr schlecht abschneiden, obwohl er unter den selben Umständen wie erste Testperson wahrscheinlich besser abschneiden würde.

    Grüße,
    Jens

  5. @Jens: Wird auch gemacht

    Es gibt zum einen ein Intelligenzmodell, das diese Unterscheidung trifft — die mehr oder weniger angeborene sog. “fluide” Intelligenz und die erworbene “kristalline” Intelligenz -> Cattell, der dieses Modell entworfen hat, postulierte in seiner Investmenttheorie, dass man fluide Intelligenz in den Erwerb kristalliner Intelligenz “investieren” kann, dass es aber auch von den Umständen etc. abhängt, wie gut das funktioniert. In Intelligenztests wird das auch berücksichtigt. Manche Tests sind näher an der fluiden Intelligenz dran, andere berücksichtigen stärker bereits erbrachte Leistungen. Welchen Test man anwendet, hängt immer von der konkreten Fragestellung ab: Wenn ein Kind eine Klasse überspringen soll, ist die Leistung natürlich relevant, insofern sollte man da einen “schulnäheren” Test verwenden. Sogenannte “kulturfaire” Tests versuchen, das Problem, dass Menschen aus bildungsnäheren Familien bei Tests besser abschneiden, etwas abzufangen, indem sie Materialien verwenden, mit denen niemand so wirklich vertraut ist (abstrakte Bildaufgaben), und sehr grundlegende kognitive Prozesse (logisches Schlussfolgern insbesondere) abprüft. So hundertprozentig “fair” sind diese Tests zwar auch nicht, aber sie sind derzeit noch mit das Beste, was wir haben, um möglichst nah am “tatsächlichen Potenzial” zu testen.

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