Mehr als nur Würfel rotieren? Was Kreativität und räumliche Fähigkeiten miteinander zu tun haben

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Es ist eine lange Längsschnittstudie: die “Study of Mathematically Precocious Youth” (SMPY), die entgegen dem, was ihr Name vermuten lässt, mehr als nur mathematische Frühreife erfasst. Mehrere Stichproben extrem begabter Jugendlicher werden im Zuge dieses Projekts untersucht, seit Julian Stanley die SMPY in den 1970er Jahren ins Leben rief. Die Studie ist auf 50 Jahre angelegt – spannende Daten sind also noch zu erwarten!

Identifiziert werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mittels “Testung über Niveau” (above-level testing), genauer gesagt mit Testverfahren, die eigentlich für Ältere gedacht sind. Die SMPY verwendet hierzu den SAT, einen College-Eingangstest; die Jugendlichen, um die es in der Studie geht, die ich heute vorstellen will, waren zum Zeitpunkt ihrer Identifikation (1976 bis 1978) gerade einmal 13 Jahre alt! In die Stichprobe gelangten diejenigen, die im Mathematikteil des SAT auf einen Wert von mindestens 500 kamen; im Sprachteil reichten “nur” 430 Punkte. Das entspricht umgerechnet dem halben Prozent der Altersgruppe mit den höchsten kognitiven Fähigkeiten – die Jugendlichen sind also ziemlich clever.

Ein paar Monate später nahmen die Jugendlichen an einem Sommerprogramm der Johns-Hopkins-Universität teil, wo sie weiteren Tests unterzogen wurden – unter anderem zwei Teiltests aus einem standardisierten Verfahren, in denen räumliche Fähigkeiten abgefragt werden. Das ist deshalb sinnvoll, weil sich die Inhaltsbereiche der Intelligenz nicht nur auf rechnerisches und sprachliches Denken beschränken: Die räumliche Komponente ist ein eigener und einzigartiger Bereich kognitiver Fähigkeiten, der beispielsweise in den Ingenieurswissenschaften, der Architektur oder sogar der Chirurgie wichtig ist – im Grunde in allen Bereichen, in denen man sich Dinge räumlich vorstellen können muss. In der Schule dagegen ist dieser Bereich im Vergleich zum sprachlichen und numerischen Denken eher wenig gefordert; ein einseitig “räumliches” Begabungsprofil wird sogar im Zusammenhang mit erwartungswidriger Minderleistung (Underachievement) diskutiert (Gohm, Humphreys & Yao, 1998).

Harrison Kell und seine Kolleginnen und Kollegen von der SMPY fragten sich nun, ob räumliche Fähigkeiten auch kreative Leistungen vorhersagen können – und zwar über die mathematischen und sprachlichen Fähigkeiten hinaus. Kreativität ist schwierig zu messen; in dieser Studie galt jemand dann als “kreativ”, wenn er oder sie eine Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift vorweisen konnte, die andere Wissenschaftler für gut befunden hatten (“Peer Review”, was nichts mit einem aktuellen Kandidaten für die Bundestagswahl zu tun hat) oder ein Patent inne hatte, jeweils mindestens als Coautor bzw. Coautorin. (Diejenigen, die sowohl eine Publikation als auch ein Patent hatten, wurden der “Publikationsgruppe” zugeordnet.) Die Publikationen gliederten sich in MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik), Lebenswissenschaften (Biologie und Medizin) und Geistes- und Sozialwissenschaften (Kunst, Geisteswissenschaften, Jura, Sozialwissenschaften).

Die Ergebnisse zeigen, dass jeder der drei Fähigkeitsbereiche einen eigenen Beitrag zur Erklärung kreativer Erfolge leistet: Durch besondere sprachliche Fähigkeiten zeichneten sich alle drei Publikationsgruppen aus; die Patentgruppe lag hier dagegen unter dem Gruppendurchschnitt. Durch hohe mathematische und räumliche Fähigkeiten zeichneten sich diejenigen aus, die im MINT-Bereich publiziert hatten; auf beiden Dimensionen lag die Gruppe mit den geistes-/sozialwissenschaftlichen Publikationen am anderen Ende. Die Patentgruppe wies ähnliche räumliche Fähigkeiten wie die MINT-Publikationsgruppe auf, schnitt aber sowohl im mathematischen als auch im sprachlichen Bereich schlechter ab als diese. (Man sollte dabei im Auge behalten, dass es sich um die fähigsten 0,5 % handelt!)

Die Befunde zeigen, dass räumliche Fähigkeiten relevant sind und sich verschiedene “Kreative” schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt in ihrem Fähigkeitsprofil unterscheiden. Mit anderen Worten: Schon die Testergebnisse der damals Dreizehnjährigen erlauben es, spätere Unterschiede in verschiedenen kreativen Bereichen vorherzusagen. Das ist insbesondere deshalb interessant, weil räumliche Fähigkeiten in der Schule kaum gefordert, geschweige denn gefördert werden. Dadurch geht eine Menge an Potenzial verloren. “Alle Begabungen sind gleich, aber manche sind gleicher als andere” – das könnte man zumindest für die Schule sagen.

Literatur:

  • Gohm, C. L., Humphreys, L. G. & Yao, G. (1998). Underachievement among spatially gifted students. American Educational Research Journal, 35(3), 515–531.
  • Kell, H. J., Lubinski, D., Benbow, C. P. & Steiger, J. H. (2013). Creativity and technical innovation: spatial ability’s unique role. Psychological Science, 24(9), 1831–1836.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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