Lernt die Begabungsforschung noch dazu?

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Derzeit entdecke ich einen (zu Unrecht weitgehend unbekannten) Pionier der Psychologie neu für mich: William Stern (1871–1938). Es ist großartig zu entdecken, wie modern Sterns Gedanken zur Begabungsidentifikation und -förderung auch heute noch anmuten. Wie weit sind wir seitdem eigentlich gekommen?

Indem er die Erforschung der Frage, was Menschen unterscheidet, systematisierte, rief Stern Anfang des 20. Jahrhunderts einen neuen Zweig der Psychologie ins Leben: die Differentielle Psychologie. Auch die Erfindung des Intelligenzquotienten ist sein Verdienst – wenngleich er über diese extrem verkürzte Darstellung menschlicher Fähigkeiten selbst nicht besonders glücklich war. Kaum ein Forscher ist so vielfältig in der Wahl seiner Themen (und so produktiv). Von der Frage, wie man die Eignung von Straßenbahnfahrerinnen (!) prüfen kann, über entwicklungspsychologische Fragestellungen zu Sprache, Erinnerung, Aussage und Lüge (was er gemeinsam mit seiner Frau Clara in ausführlichen Entwicklungstagebüchern an den eigenen Kindern untersuchte): Stern interessierte sich eigentlich für so gut wie alle Fragestellungen, bei denen die zu dem Zeitpunkt noch recht junge Psychologie als Hilfsdisziplin fungieren könnte – das zeigt die erste deutschsprachige Stern-Biographie, die Martin Tschechne im vorletzten Jahr veröffentlicht hat.

Der Begriff “Hilfsdisziplin” deutet es schon an: Stern ging es darum, das Wissen und die Erkenntnisse der Psychologie zu nutzen, um andere darin zu unterstützen, ihre Arbeit besser zu machen. Besonders deutlich wird das bei seinen umfangreichen Bemühungen um die Begabtenauslese und -förderung. Ich möchte im Folgenden exemplarisch aus der dritten Auflage seines 1912 veröffentlichten Buches Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und deren Anwendung an Schulkindern zitieren, das 1920 “anstelle einer dritten Auflage” unter dem Titel Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung erschien. In diesem Buch befasst Stern sich intensiv mit der Frage der “Begabtenauslese” – und stößt dabei auf Probleme, die sich in exakt der selben Form auch heute noch stellen:

Die Verantwortung, die mit der Auslese verknüpft ist, ist so groß, daß alle verfügbaren Hilfsmittel in der denkbar vollkommensten Weise verwendet werden müssen. Die Vertrautheit mit der Kindesseele, die Lehrer und Eltern besitzen, und der Schatz an Beobachtungen, der von ihnen in langem Umgang mit dem Kinde angesammelt worden ist, müssen bei der Vorauslese zur Geltung kommen; daneben müssen Prüfungen den gegenwärtigen Stand der Fähigkeiten und Leistungen feststellen. (S. 251f.)

Ist das nicht großartig? Von der Wertschätzung, die Stern dem Urteil von Eltern und Lehrern entgegenbringt, welche das Kind kennen und einen ganzheitlichen Eindruck von ihm haben, könnte sich heute mancher Forscher eine Scheibe abschneiden. Gleichzeitig tritt er mit gesundem Selbstbewusstsein auf: Fähigkeits- und Leistungstests sind die Domäne der Psychologie – und diese junge Wissenschaft ist definitiv als gleichberechtigter Partner der Pädagogik ernst zu nehmen!  

Bei beiden Methoden, der Beobachtung wie der Prüfung, muß der Pädagoge mit dem Psychologen zusammengehen. Die Entscheidung muß auf einer Gesamtberücksichtigung aller gewonnenen Kriterien beruhen; sie muß insbesondere in den weiten Grenzgebieten der zweifelhaften Fälle feinfühlig individualisierend vorgehen und sich nicht auf mechanische Ziffernwerte verlassen; sie muß ebenfalls in gemeinsamer Arbeit von Pädagogen und Psychologen erfolgen. (S. 252)

Das nenne ich Teamarbeit! Im Gegensatz etwa zu Lewis Terman, der zwar zunächst die Lehrkräfte geeignete Schüler vorschlagen lässt, letzten Endes aber doch dem “mechanischen Ziffernwert” IQ das stärkste Vertrauen entgegenbringt, betont William Stern, was für ein individueller – und fehleranfälliger! – Prozess Begabungsdiagnostik eigentlich ist; und das ganz besonders dann, wenn möglichst keine Begabungen übersehen werden sollen. Jedes Kind, das vor einem steht, ist einzigartig; und das dürfen weder Pädagogen noch Psychologen aus den Augen verlieren.  

Auch späterhin muß fortlaufend eine Erprobung der Auslesemaßnahmen stattfinden; es muß festgestellt werden, ob die ausgelesenen Schüler den psychologischen Prognosen entsprechen und ob die angewandten Methoden sich bewährt haben. (ebd.)

Das Zauberwort: Evaluation! Stern ist sich nicht nur dessen bewusst, dass menschliche Urteile und von Menschen geschaffene Messinstrumente fehleranfällig sind; er nimmt an dieser Stelle auch vorweg, dass Begabung möglicherweise kein statischer Begriff ist – eine Auffassung, die in letzter Zeit wieder verstärkten Zulauf findet. Wo Ressourcen nicht in unbegrenztem Maße vorhanden sind (und das ist im echten Leben ja eigentlich immer der Fall), muss überprüft werden, wie gut das Zielkriterium tatsächlich erreicht wird; und wenn dem nicht so ist, muss man eben nachbessern.  

Die Psychologie muß beanspruchen, zu dieser Arbeit als unentbehrliche Mitarbeiterin herangezogen zu werden; sie darf aber andererseits nicht vergessen, daß sie hier nur Hilfsdisziplin für eine dem Wesen nach pädagogische und soziale – nicht schlechthin psychologische – Kulturaufgabe ist. (ebd.)

Ich liebe Sterns Kombination aus Selbstbewusstsein und Bescheidenheit! Er erkennt klar die Kompetenzen der Psychologie, deren Wert er voller Überzeugung betont, hütet sich aber zugleich davor, Gebiete für die Psychologie zu vereinnahmen, auf die andere Disziplinen einen stärkeren Anspruch haben. Kompromissbereitschaft statt Expansionsgedanken, Miteinander statt Gegeneinander – hier könnte man viel lernen.

Es muß ferner eine wirkliche Gemeinschaft beider Gebiete angestrebt werden. Darin ist wahrlich nicht das Ideal zu sehen, daß schulfremde psychologische Wissenschaftler von außen her in die Schule eingreifen und von den Lehrern mit Mißtrauen als Eindringlinge betrachtet werden. (ebd.)

Und genau das wünsche auch ich mir für die Zukunft.

Literatur

 

  • Deutsch, W. (Hrsg.) (1989). Über die verborgene Aktualität von William Stern. Frankfurt/Main: Peter Lang.
  • Stern, W. (1920). Die Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und die Methoden ihrer Untersuchung. (An Stelle einer dritten Auflage des Buches: Die Intelligenzprüfung an Kindern und Jugendlichen). Leipzig: Verlag von Johann Ambrosius Barth.
  • Tschechne, M. (2010). William Stern. Hamburg: Ellert und Richter Verlag.

 

 

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

3 Kommentare

  1. Diagnostik

    Das hört sich für mich nach diagnostischer Förderung unter pädagogischen Gesichtspunkten (Soziales Umfeld, Entwicklungsgrad der Person, …), also etwas dass aktuell aus Zeitgründen oft noch zu wenig gemacht wird – einige Lehrer aber schon seit Jahren (und länger wie man an diesem Beispiel sieht) betreiben. Intuitiv kann man die Wichtigkeit dieses Themas erkennen, fehlende Instrumente die nicht so Zeitintensiv sind, haben aber meiner Ansicht nach bis heute den Einzug der diagnostischen Förderung in den Alltag (also für alle Schülerinnen und Schüler) verhindert.

  2. @Thomas N.

    Die Instrumente wären ja sogar vorhanden; allein die Integration ins Schulsystem funktioniert nicht gut. Ich sehe da verschiedene Gründe (ganz grob skizziert, das trifft natürlich nicht auf jeden Einzelnen in der Form zu):

    * “Ethnozentrismus” der verschiedenen Fachrichtungen – Psychologie und Pädagogik sehen jeweils sich selbst als den Nabel der Welt und erkennen das, was die andere Disziplin ihnen bringen könnte, nicht an.

    * Flächendeckende Testungen gibt es hier in Deutschland nicht (im Gegensatz zu den USA, wo standardisierte Tests wie der SAT eine lange Tradition haben), was u.a. damit zusammenhängt, dass solche Verfahren als “Selektionsinstrumente” missbraucht werden könnten, wenn man eben nicht das Gesamtbild berücksichtigt.

    * Entsprechend sind Tests, so sie denn im Rahmen von Forschungsprojekten durchgeführt werden, immer ein “Fremdkörper” im Schulalltag (wobei ich aus eigener Erfahrung sagen kann, dass die meisten Lehrer da wirklich super sind und uns bei unseren Studien eigentlich immer toll unterstützt haben!).

    * Selbst wenn wir diese hätten, bräuchten wir die Möglichkeit zur “Nachsorge”. Den Eltern ein IQ-Test-Ergebnis zu geben, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, bei Problemen wie dadurch aufgedecktem Underachievement Hilfe zu bekommen, ist definitiv nicht das Gelbe vom Ei. Der Schulpsychologische Dienst hat schon jetzt viel zu tun, das Netz müsste man eigentlich ausbauen.

    * Wenn Studien durchgeführt werden, darf man aus Datenschutzgründen meist nicht den Lehrkräften direkt die Ergebnisse mitteilen. Das ist schade, denn die meisten wären sehr interessiert daran! Ich bin der Ansicht, ein solches Testergebnis ist auf jeden Fall eine interessante Zusatzinformation, und selbst wenn es nicht automatisch dazu führen wird, dass eine Lehrkraft ihr Urteil komplett revidiert, ist es doch vielleicht ein “Stolpersteinchen”, dass sie vielleicht mal genauer hinschaut, was in dem Kind steckt.
    Letzteres versuche ich in meinen Untersuchungen so zu lösen, dass ich den Eltern einen zusätzlichen Bogen für die Lehrkraft drucke, den diese ihrem Kind wieder mit in die Schule geben können, mit dem Vermerk, das sei eine nützliche Zusatzinformation für die Lehrkraft.

    Es gibt noch viel zu tun 🙂

  3. Aber leider sieht die Realität anders aus! Man wird schief angeguckt, wenn man offen drüber redet.

    In Hamburg war es wenigstens so, das diese Kinder akzeptiert und respektiert wurden. Allerdings ALLE Kinder wurden so behandelt. Was mich in der Begabtenförderung stört, ist, das viiieeell über Arbeitsbögen absolviert wird, und meine Kinder mögen gerade das nicht. Sohnemann hasst schreiben und lesen. Arbeitszettel wurden dann mehr auf Lieblingsfächer ausgedehnt, ging besser, aber frei erzählen und was kreativ gestalten, sowie Sport machte ihm Spass.Da das Sozialverhalten an den Schulen gefördert wurde, hing der Lernstoff natürlich hinterher. Und in HH sind immer 2 Klassenlehrer und eine Sozialpädagogin in einer Klasse vorhanden.

    Hier in Niedersachsen???? Ich warte immer noch auf Antwort um Hilfe wegen meines begabten Sohnes. Hier wird Lernstoff bis 13 Uhr reingepowert ohne Rücksicht auf Verluste. Schade.Aber jetzt wird hier ja auch umstrukturiert, da müssen sich viele Lehrer aber warm anziehen und fleissig lernen, wie werde ich jedem Kind gerecht etc.

    LG

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