Hochbegabte Hochsensible?

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Der heutige Gastbeitrag geht um eins der großen Themen, die Hochbegabte bewegen – die Forschung über Hochbegabte allerdings eher weniger, das ist doch erstaunlich. Dr. Michael Jack aus Dortmund ist 33-jähriger Jurist und Chef des Informations- und Forschungsverbundes Hochsensibilität e.V., des größten und ältesten Vereins in Deutschland, der sich um das Thema Hochsensibilität kümmert. Er weiß seit 2003, dass er eine Hochsensible Person (HSP) ist; inzwischen ist er auch als hochbegabt diagnostiziert. Und zum Thema Hochbegabung und Hochsensibilität hat er folglich einiges zu sagen – Michael, danke für Deinen Beitrag!

Über Hochbegabung haben sich schon diverse Fehlvorstellungen allgemein etabliert; Hochsensibilität ist demgegenüber ein weithin unbekanntes Konstrukt. Es sieht ungefähr wie folgt aus: Wir alle nehmen durch unsere Sinnesorgane permanent Informationen aus der Umwelt auf, die meisten dieser Informationen werden jedoch aus unserer Wahrnehmung herausgefiltert. Bei Hochsensiblen (angeblich 15 – 20 % der Bevölkerung) ist dieser Reizfilter nun durchlässiger, so dass mehr Informationen von den Sinnen „ankommen“ und verarbeitet werden müssen. Es wurde spekuliert, das könne an einem anders funktionierenden Thalamus liegen; nichts genaues wissen wir aber nicht. Jedenfalls ist unsere Welt nicht auf Hochsensible zugeschnitten. Dementsprechend sind sie häufiger „reizüberflutet“ und brauchen mehr Phasen des Rückzugs und der Regeneration.

Die Frage des Verhältnisses von Hochsensibilität und Hochbegabung ist ein „Dauerbrenner“ in den Debatten in der Hochsensiblen-„Szene“. Das dürfte auch daran liegen, dass manche Beschreibungen von Hochbegabung Zusammenhänge nahelegen. Am deutlichsten ist hier Andrea Brackmann, die schreibt, Hochbegabung sei „mehr von allem: mehr denken, mehr fühlen und mehr wahrnehmen“. Über weite Strecken lesen sich ihre Beschreibungen des subjektiven Empfindens Hochbegabter wie Aussagen über Hochsensibilität.

Da die Wissenschaft sich Zeit damit lässt, sich zu den skizzierten Fragen eine Meinung zu bilden, dürfen wir wild herumvermuten, und hier will der Autor dieser Zeilen nicht zurückstehen: Er geht davon aus, dass es sich um separate Phänomene handelt, zwischen denen keine besondere Korrelation besteht. Hauptargument für diese steile These sind Erfahrungen im Hochbegabtenverein Mensa: Hochsensible Mensaner berichten, sie fühlten sich unter Hochbegabten HS-technisch ebenso allein auf weiter Flur, wie im Rest der Gesellschaft. Schnelleres Denken und damit Verarbeiten von Reizen muss schließlich auch nicht bedeuten, dass mehr zu verarbeitende Reize da sind.

Eine Kombination beider Phänomene ist natürlich trotzdem möglich. Witzig ist sie nicht unbedingt. Beide Persönlichkeitsvariablen tragen nämlich das Potenzial in sich, den Betroffenen zum Außenseiter zu machen. Das hochbegabte Kind redet beispielsweise komische Sachen, die es als Sonderling erscheinen lassen. Das reizempfindliche Kind ist potenziell umso schneller überfordert, mit je mehr Reizen eine eigentlich altersangemessene Aktivität verbunden ist. Reaktionen auf diese Überforderung können als sozialinadäquat wahrgenommen werden. Über Jahre kann der Eindruck entstehen und sich verfestigen, irgendetwas „stimme“ mit dem Kind nicht. Bei ihm selbst, bei den Eltern und/oder bei Pädagogen.

Die Integration in die Peergroup ist wohl das Hauptthema für Jugendliche. Es liegt nahe, dass dieses Projekt bei hochsensiblen und hochbegabten Jugendlichen ziemlich schief gehen kann. Speziell alterstypische Freizeitaktivitäten in der Teenagerzeit sind häufig mit vielen Reizeindrücken (= Lärm) verbunden. Wenn „alle anderen“ diese(n) nicht nur abkönnen, sondern auch genießen, der hochsensible Jugendliche jedoch nicht, drängt sich der Eindruck auf, man sei „von einem anderen Stern“. Hier kann massiver Anpassungsdruck entstehen: Alle anderen können es (= Nächte durchfeiern) doch auch. Sind die sozialen Situationen, in denen man normalerweise informelle Interaktion erlernt, für Hochsensible unangenehm, stellt sich die Frage, wo diese sie sonst erlernen sollen. Neigt der hochbegabte Jugendliche dann auch noch dazu, die Dinge sehr kognitiv anzugehen, kann er zum „Sozial-Horst“ werden: Er verhält sich komisch und redet wirres Zeug. Freak.

Genug der schlechten Nachrichten. Die Cleverness, die Hochbegabung mit sich bringt, kann den Hochsensiblen auch in die Lage versetzen, sehr effektive Coping-Strategien zu entwickeln. Auch dürften die andeutungsweise geschilderten Negativszenarien nicht unbedingt repräsentativ sein. So oder so naht Rettung: Wer „Bescheid weiß“, also sich seiner Hochsensibilität bewusst ist, kann sich häufig darauf einstellen. Deshalb ist der Umstand, dass das Konstrukt weithin unbekannt ist, ein ärgerlicher solcher. Es wird Zeit, dass sich auch hierzu diverse Fehlvorstellungen allgemein etablieren.

Im Internet findet man Dr. Michael Jack über www.hochsensibel.org, Email: info@hochsensibel.org. Die Seite ist sehr informativ, ich lege sie allen interessierten Leserinnen und Lesern ans Herz.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

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