Gastbeitrag von Eva Wegrzyn: Kein Wissen ohne Macht – keine Macht ohne Wissen: Soziologische Perspektiven auf Hochbegabung (II)

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Wie versprochen, folgt nun die Fortsetzung der soziologischen Perspektive – schön, dass Du wieder dabei bist, Eva! Heute wird es darum gehen, wer definiert, wer und was hochbegabt ist – und wer davon profitiert. Wenn man sich beispielsweise die Anzahl der Kinder aus weniger privilegierten sozialen Gruppen anschaut, die für Hochbegabtenfördermaßnahmen identifiziert werden, wird deutlich, dass diese Frage einiges an Sprengstoff beinhaltet … Für diejenigen, die erst neu dazugestoßen sind: Hier geht’s zum ersten Teil der Soziologie der Hochbegabung. Ich wünsche den Leserinnen und Lesern nun viel Spaß!

In meinen Beiträgen stelle ich die Positionen eines dem Hochbegabungskonzept kritisch gegenüberstehenden Autors Leslie Margolin vor. Zugegeben, das Buch ist mit dem Erscheinungsjahr 1994 nicht aktuell. Die Argumentation des Autors kann jedoch für soziologische Perspektiven auf das Konzept der Hochbegabung  sowie eine interdisziplinäre Forschung fruchtbar gemacht werden. Im heutigen Beitrag benenne ich die zentralen theoretischen Bezugspunkte des Autors, den Entstehungskontext des Buches sowie Margolins erste These.

Zentraler Bezugspunkt Margolins ist das Machtkonzept von Michel Foucault (1926–1984), Philosoph, Psychologe, Soziologe und Historiker der in Paris lehrte und forschte. Foucaults zentrales Anliegen war es, die Entstehung von Macht und Techniken zur Durchsetzung von Macht, wie etwa Strafe, Überzeugung, Verführung aufzuzeigen. Foucaults These hierbei ist: Machtbeziehungen, z. B. zwischen Schüler/Lehrerin, Eltern/Kind, Chefin/Angestellter setzen ein entsprechendes Wissensfeld voraus, um wirksam zu sein. Diese Wissensfelder können sich beispielsweise auf Schule, Familie oder Beruf beziehen. Gleichzeitig gibt es kein Wissen, das nicht Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert. Zentral ist auch die Prämisse Foucaults, dass Macht produktiv ist, also nichts per se schlechtes. Das Stehen bleiben an einer roten Ampel ist hierfür ein Beispiel. Macht kann demnach also Unfälle verhüten.

Die Kernaussage in Bezug auf wissenschaftliche Konzepte: Wissen ist nicht ‘unschuldig’, also darauf wartend entdeckt zu werden, sondern entsteht in einem Geflecht von Mächtigen und weniger Mächtigen. Ob ein bestimmtes Wissen Bedeutung erlangt, wie etwa das um Hochbegabung, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Gibt es Leute die nach Messgrößen der Geisteskraft suchen? Warum tun sie das? Finden sie dankbare Abnehmer für ihre Ergebnisse und Theorien? Passen die Messgrößen in den Geist der Zeit in dem ihre EntwicklerInnen leben?

Auf die Frage in den Kommentaren zu meinem letzten Beitrag “Gibt es nun Personen, die auf gewissen Gebieten oder in gewissen Tests besser abschneiden als die meisten anderen oder gibt es sie nicht” würden Foucault und Margolin antworten: Wenn Sie solche Personen finden möchten, werden Sie dies auch tun. Ob es letztlich der ‘tatsächlichen Denkleistung‘ der Getesteten entspricht – wer kann das tatsächlich objektiv beantworten? Warum sollen überhaupt Denkleistungen gemessen werden? Wer profitiert von dem Ergebnis? Kann man Denkprozesse überhaupt messen? Beeinflusst die Fragestellung nicht maßgeblich das Ergebnis? Was ist das implizite, also versteckte Ergebnis? Etwa eine Hierarchie zwischen Personen, die das Label ‘hochbegabt’, ‘durchschnittlich begabt’ oder ‘unterdurchschnittlich begabt’ bekommen? Mit welchen Konsequenzen?

Wie eben jenes Wissen um Hochbegabung entstand, welche Argumentationsmuster von Forschenden formuliert wurden und welche Konsequenzen dies hatte, sind Gegenstand des Buches “Goodness Personified” von Leslie Margolin.

Seine erste These lautet: Die Wurzeln der Hochbegabungsforschung in den USA sind ‘weiß’, der dazugehörige Baum heißt ‘obere Mittelschicht’. Hochbegabte Kinder würden in den Forschungen als quasi perfekte kleine Wesen porträtiert. Alles das was sie sind (fleißig, diszipliniert, besonnen, bescheiden, schön, gut gebaut usw.), können (logisch und druckreif formulieren, abstrahieren usw.) und wollen (je nachdem ob Mädchen oder Junge: einen Job in der Ölindustrie, Wissenschaft oder eine Tätigkeit als Lehrerin/Musikerin, nach der Heirat versteht sich), fügt sich in den Jargon und Wertekanon der höher gestellten Bevölkerungsgruppen ein.

Die Kinder haben nach Aussagen von Forschenden wie Terman oder Hollingworth alles Potential, das benötigt wird, um Großes zu erreichen. Denn: Studien über Genies (vielmehr über die großen Männer) der Geschichte belegten dies. Fast alle wären in ihrer Kindheit frühreif in der geistigen Entwicklung gewesen, dazu noch besonnen, bescheiden und aus mindestens der gehobenen Mittelschicht stammend – und das seit Generationen. Bereits ihre Väter und Urgroßväter verstanden es, Reichtum und Ansehen zu häufen. Die untersuchten Kinder der 1920er Jahre haben bereits als Babies außerordentliche Fähigkeiten an den Tag gelegt, sie sprachen und liefen früh und erfreuten sich an Spielen für ältere Kinder. Die in den 1920er Jahren untersuchten Kinder von Terman und Hollingworth gehörten fast ausnahmslos den reicheren Bevölkerungsgruppen an – und das, so betonen die Forschenden, seit Generationen.

Die Message: Hochbegabung ist etwas extrem Gutes, Tugendhaftes und das Ticket zu gesellschaftlichem Ansehen und Wohlstand. Entsprechende Kinder sind nicht nur schlau, sondern allen anderen auch moralisch überlegen. Hochbegabung kommt dazu nicht von Ungefähr – sie werde vererbt, abzulesen an den Eltern, Großeltern und Urgroßeltern der Kinder sowie ihrer frühreifen Entwicklung. Soziale Stellung und das Konzept der Hochbegabung stehen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem engen Verhältnis und nicht nur das: Begabung ist biologisch, erblich und damit auch der soziale Stand. Die besser Gestellten können also nichts für ihre Position – sie nehmen sie ‘natürlich’ ein. Ebenso die Armen, die beruflich niedriger Gestellten wie etwa ArbeiterInnen, einfache Angestellte – also die große Mehrheit der Bevölkerung. Ethnische Minderheiten befanden sich größtenteils in der ärmeren Bevölkerungsmehrheit. Die Schlussfolgerung hieraus lautete: Hierarchien nach Klasse und Ethnie seien erblich bedingt. Hätten Ärmere bessere Gene für Begabung und allem was damit zusammenhängt (Können, Fleiß, Bescheidenheit, gutes Aussehen), hätten sie auch eine bessere Stellung. Offener Rassismus und Klassismus schwingen hier explizit mit.

Der Anfang 20. Jahrhunderts intensivierte Diskurs um Hochbegabung, so das abschließende Fazit des ersten Kapitels, soll soziale Hierarchien legitimieren und steht im Zusammenhang mit der eugenischen Bewegung. Es geht also um den Erhalt von Macht einer bestimmten Bevölkerungsgruppe durch die Schaffung eines entsprechenden ‘Wissens’ zur Begründung der sozialen Ordnung. In der aktuellen Forschung nimmt die kritische Diskussion um die Fragen zum Verhältnis sozialer Herkunft und Hochbegabung, v. a. im Kontext pädagogischer Maßnahmen, einen zentralen Stellenwert ein.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

7 Kommentare

  1. Oschockschwerenot!

    Liebe Skribentin, könnte es nicht auch sein, dass Hochbegabte alles können, was irgendwie als nützlich angesehen wird, weil Hochbegabung ganz offen so definiert wird (in jedem Paper)? Intelligenz ist ja gerade eine Zusammenfassung von positiven Fähigkeiten! Niemand behauptet, dass es eine metaphysische Qualität namens “Intelligenz” gibt. Um diese Nominaldefinition zu entlarven, braucht man keine soziologische Perspektive, nur die Grundlagen der Wissenschaftlichstheorie (der Empirie) und etwas Geduld, sich mit richtiger Forschung auseinanderzusetzen.

    Und könnte die Häufung in oberen Gesellschaftsschichten nicht ein Hinweis darauf sein, dass dieses Konstrukt tatsächlich nützliche Fähigkeiten misst (und somit Prädiktor für Humankapital und hohe Produktivität ist – was ja Ziel war) und nicht z.B. die Fähigkeit von Hooligans, sich nach dem Spiel zu prügeln?

    Warum sollte die kognitive Leistungsfähigkeit einen Aspekt beinhalten, der nicht gesellschaftlich erwünscht ist?

    Wenn die Autorin ihre Grundidee in ein empirisch sinnvoll zu prüfendes Forschungsprogramm umwandeln wollte (was sie bestimmt nicht möchte, weil das Arbei und Feldforschung bedeutet, statt vor dem Kaminfeuer im Lehnstuhl Foucault zu schmökern), könnte sie untersuchen, inweit sich die Definition von Intelligenz denn tatsächlich veränder hat. Korrelieren Modellanpassungen mit gesellschaftlichen Veränderungen? Oder werden größere Modellanpassungen durch empirische Probleme hervorgerufen? Wo sind die (quantitativen) Belege?

  2. Nur damit man mich nicht falsch versteht: Ich bezweifle nicht, dass Intelligenz etwas mit Macht zu tun hat, aber hier wird alles durcheinandergeworfen.

    Misst das Konstrukt etwas Sinnvolles (ist es Prädiktor für etwas)?
    Misst es das, was die Forscher wollen?
    Explizieren die lieben Forscher, was ihr Konstrukt misst?
    Ist der Inhalt von kognitiver Leistungsfähigkeit abhängig von den Problemen, die es in einer Gesellschaft zu lösen gibt (die sind in einer hochtechnisierten Gesellschaft sicherlich verschieden von einer Jäger- und Sammlergesellschaft)?
    Was genau trägt die “Diagnose” “hochbegabt” zum Berufserfolg bei? Warum? Gezieltere Förderung? Machterhalt? Hat sie gar keinen Effekt, ist alles Selbstselektion?

  3. Hochbegabung vs. Legitimation durch Erbe

    Das Bewusstsein um Hochbegabung als weit über dem Durchschnitt liegende intellektuelle Begabung gibt es wahrscheinlich schon lange und in vielen verschiedenen Gesellschaften.
    Mit Hochbegabung allerdings automatisch Machtfülle zu verbinden scheint mir etwas weit hergeholt. Brillante Köpfe können ganz unterschiedliche Rollen in einer Gesellschaft übernehmen, vom Hofnarren über den skurrilen Erfinder bis zum einflussreichen Berater des oder der Mächtigen oder dem Mächtigen selbst. Es setzt wohl eine Gesellschaft voraus, die den gesellschaftlichen Aufstieg durch Leistung zulässt oder gar idealisiert und fördert um Hochbegabung mit geradlinigem gesellschaftlichem Erfolg in Verbindung zu bringen. In dieser Linie liegt etwa der Gedanke, dass der US-Präsident ein hochgescheiter Mann sein müsse oder die Idee von der Republik der Weisen, die sich Philosophen in ganz unterschiedlichen Kulturen herbeigewünscht haben.

    Mir scheint das Konzept der Hochbegabung zudem wenig geeignet um die Bessergestellten oder gar den oberen Mittelstand zu legitimieren, denn per definitionem gibt es nur recht wenig Hochbegabte. Allenfalls könnten die wenig verbleibenden Gutgestellten in einer Gesellschaft, in der der eigentliche Mittelstand wegbricht, den Umstand, dass sie trotzdem obenbleiben, ihrer Hochbegbung zuschreiben. Allerdings muss man zwischen der wirklichen Hochbegabung und dem Wunsch selber hochbegabt zu sein unterscheiden. Wer kennt nicht zudem (aus seiner Bekanntschaft) den noch stärkeren Wunsch, hochbegabten Nachwuchs zu haben.

    Geschichtlich gesehen war Hochbegabung in Standesgesellschaften, in Monarchien, in Diktaturen und in ideologisch orientierten Gesellschaften (Kommunismus, Nationalsozialismus) zwar erwünscht, sie führte aber nicht an die Macht, sondern höchsten in die Rolle des Helfers und Beraters (berühmte Berater wie Kardinal Richelieu oder Oliver Cromwell waren wohl hochbegabt aber eben trotzdem nicht legitimiert zur Machtausübung).

  4. Böse Intelligenz

    Warum sollte die kognitive Leistungsfähigkeit einen Aspekt beinhalten, der nicht gesellschaftlich erwünscht ist?

    Ui, Herr Kleber, da lehnen Sie sich aber jetzt weit aus dem Fenster 😉 Hier werfen Sie m.E. Ihrerseits nun zwei Aspekte durcheinander: nämlich den der Fähigkeit und ihrer Anwendung. Es gibt durchaus äußerst clevere Kriminelle, die ihre Intelligenz zum (eben gar nicht so wünschenswerten) eigenen Nutzen einsetzen. “Dagobert” wäre so ein Beispiel. Auch einige der im Rahmen des Nürnberger Prozesses verurteilten Naziverbrecher waren nicht unbedingt die Dummbrote, wie ich just in Gilberts “Nuremberg Diary” (Gilbert war der Psychologe, der die im Nürnberger Prozess Angeklagten psychologisch untersucht hat, u.a. eben auch mit IQ-Tests) las – Göring erreichte einen IQ von 138, Dönitz ebenfalls, von Ribbentrop einen von 129, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Ob sich das, was als “Intelligenz” gilt, innerhalb weniger Jahre so verändert hat? Insofern würde ich das schon trennen wollen.

  5. Sie haben mich falsch verstanden…

    Ich damit, dass Intelligenz natürlich all die Fähigkeiten enthält, die einem den Aufstieg in der Gesellschaft ermöglichen, weil … weil es ja anders keinen Sinn machen würde.
    Intelligenz soziologisch als Machtlegitimation zu fassen, verwechselt deshalb etwas: Intelligenz sagt etwas darüber aus, WARUM eine “Personengruppe” mächtig wird.

  6. Intelligenz und Schicht

    … bedingen sich biologisch ganz sicher nicht. Dies wäre im Zweifel nur eine evolutionäre Zwangsentwicklung aufgrund von kulturellen Vorurteilen. Und schon die Definition von Intelligenz entspringt wohl leichter einer ethischen Grundlage, als dass sie die wirklich vorhandene kognitive Fähigkeiten beurteilt. Sie ist also an der Wurzel schon durch Vorurteile eingeschränkt verfügbar und erkennbar. Und auch ein Bildungssystem ist dazu da, nicht die Intelligenz zu fördern, sondern in ethisch und moralischer Hinsicht andere kognitive Inhalte (etwa kriminelles Gedankengut, Triebhaftigkeit …) zu verhindern, indem entwicklungsbezogen (neuronal) per Anreicherung von “gewollten” Wissensinhalten die sogenannten Flausen ausgetrieben und gar nicht erst aufkommen lassen. So wird Bildung zur Erziehung und Intelligenz zum Bonbon. Aber wahrhaftige Intelligenz entsteht auf ganz andere Weise.

  7. “weil es ja anders keinen Sinn machen würde.” Hans Kleber
    Ich halte euch alle für sehr dumm.
    Definiert, versteht sich.

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