Besserwisser

BLOG: Hochbegabung

Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
Hochbegabung

Sichtlich gut gelaunt begrüßte mich Sebastian bei unserem letzten Gespräch und stellte mit spöttelndem Unterton fest, den Limburgern mangele es wohl an Kenntnissen zur Rechtschreibung. Man schreibe doch nicht „Oh du fröhliche“, das sei ja wohl klar. Es müsse „O du fröhliche“ heißen. Die Schilder an den Ortseingängen Limburgs werben anscheinend nicht nur für den anstehenden Weihnachtsmarkt, sondern auch für eine weitere Rechtschreibreform.

Hört man dies von einem 14-jährigen Schüler, ist sicherlich leicht ableitbar, dass hier ein genialer Besserwisser heranwächst. Sebastian hat schon oft seine Mitschüler, Geschwister, Eltern und Bekannten auf Fehler in der Grammatik hingewiesen. Nebenbei bemerkt: Sein Grundschullehrer schwankte in der Beurteilung zwischen „unerhört vorlaut“ bis „brilliant“. Einer seiner Lieblinge ist im Übrigen das „wegen mir“, was eigentlich „meinetwegen“ heißen müsste. Auch der Tod des Genitivs im Sinne „Das ist dem sein …“ gehört zu Sebastians speziellen Un-Formulierungen.

Nun kann man über die soziale Diplomatie, empathische Prozesse und womöglich eine gewisse Arroganz und Hochnäsigkeit nachdenken, doch im Kern ist doch zunächst interessant, wieso Sebastian die Fehler auffallen und anderen nicht. Sicherlich gibt es auch welche, denen die Fehler auffallen, sie aber nicht anmerken. Aber auch hier muss man den Fehler erst einmal erkennen können. Rechtschreibung und Grammatik sind vielleicht nicht das beste Beispiel, da ja auch Teilleistungsprobleme denkbar wären, doch das vernachlässige ich einfach mal. Und dass Intelligenz nicht durch Rechtschreibregeln oder Grammatik abgebildet werden sollte, ist auch klar.

Sebastian kann außerdem noch mehr. Ihm fallen leicht und schnell Abweichungen und Veränderungen in Ortschaften, bei Beschilderungen, bei Tafelskizzen oder Zeichnungen auf. Den meisten seiner Mitschüler kann er die entsprechende Handschrift zuweisen oder am Schriftbild der Adresse erkennen, wer der Familie einen Urlaubsgruß zukommen lässt. Hinter diesen Fähigkeiten verbirgt sich letztlich eine bunte Mischung aus unterschiedlichen kognitiven Facetten, die da visuelle Wahrnehmung, Mustererkennung und insbesondere Musterspeicherung heißen.

In seinem Falle trifft Forschung eben Praxis: Sebastian macht mit seinen besonderen Fähigkeiten deutlich, wie Modelle der Wissenschaft praktisch aussehen können. Aktuell herrschen Modelle in der Intelligenz- und Begabungsforschung vor, die einen dreistufigen Ansatz wählen: Cattell-Horn-Carroll-Theorie, kurz CHC, wird diese genannt. Sie verbindet unterschiedliche Ansätze der Intelligenz- und Begabungsforschung miteinander. In der CHC-Theorie findet sich auch Sebastian wieder, der eine sehr gut entwickelte visuelle Informationsverarbeitung besitzt. Diese ist z.B. gepaart mit einer hohen und schnellen Informationsverarbeitung, die ihn befähigt, bekannte Muster abzurufen und mit neuen zu vergleichen.

Wer eine kurze und prägnante Übersicht zu einigen Modellen zu Intelligenz und Begabung lesen will, der lese z.B. den Beitrag von: Rohrmann, Sabine: Hochbegabung – was ist das? In: Koop, C. (et.al./ Hrsg): Begabung wagen. (2010).

Und wer es viel ausführlicher mag, der nehme: Rost, Detlef: Intelligenz – Fakten und Mythen. (2009).

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Veröffentlicht von

Götz Müller ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Leiter des Instituts für Kognitive Verhaltenstherapie (IKVT). Er arbeitet beratend und diagnostisch mit Familien hoch begabter Kinder und Jugendlicher. In der psychotherapeutischen Arbeit beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit dem Underachievement bei Hochbegabten, hier insbesondere bei Jugendlichen.

10 Kommentare

  1. Grammatik und Genialität

    Sebastian hat sicherlich ein Talent Muster zu erkennen. Doch die vermeintlichen Mängel in der Grammatik seiner Mitmenschen sind schlechte Beispiele für eine allgemeine Genialität. Denn die Komplexität der Sprache liegt nicht in der Befolgung einiger strikter Regeln, sondern in ihrer Flexibilität bei gleichzeitiger Erhaltung der Verständlichkeit. Sie ist nicht starr, sondern entwickelt sich fortlaufend weiter. Besonders die Stelle mit “wegen mir”/”meinetwegen” erinnert mich dabei an Arthur Schopenhauer, DER sich darüber echauffierte, dass die Menschen doch tatsächlich angefangen hatten die Artikel der, die, das als Relativpronomen zu verwenden – obwohl doch einzig welcher, welche, welches richtig sei.
    In meinen Augen genial wäre es für einen Schüler, zu erkennen, dass es in der Sprache kein eindeutig Falsch gibt. Denn wer sollte schon die Kategorien festlegen? Die Regeln machen die Sprecher der Sprache (und sämtliche alternativen Erklärungsansätze wie Lehrer, Duden oder Kultusminister führen konsequent zu Ende verfolgt zur selben Antwort) – sie können daher letztlich gar nicht irren. Das ist für Besserwisser natürlich sehr unschön, das ist klar.

  2. @ stefan p

    Ihre Meinung über die Regeln der Sprache teile ich vollkommen, zumal ja die Genitiv/Dativ-Frage keine neue Erscheinung ist, außerdem Rechtschreibreformen den Sprechern nachkommen etc.
    Es war eben ein konkreter Anlass, die grundlegenden Fähigkeiten zur Mustererkennung darzustellen, nicht aber die Bewertung derselben. Wahrscheinlich ist, dass Sebastian zur selben Erkenntnis gelangen wird. Aber eben noch nicht in diesem Entwicklungsstadium.

  3. @Stefanp: Philosophische Semantik

    “In meinen Augen genial wäre es für einen Schüler, zu erkennen, dass es in der Sprache kein eindeutig Falsch gibt.”

    Das ist unter Geisteswissenschaftern eine sehr verbreitete Ansicht, die aber falsch ist.

    Bitte verfolgen Sie meinen Hinweis in der philosphischen Semantik unter den Stichworten “Privatsprachenargument”, “Philosophie der normalen Sprache” und “Philosophie als Therapie”.

    Dort wird ausgiebig darüber diskutiert, daß man mit Sprache eben nicht alles machen kann, was man will – eine sehr ausgedehnte Diskussion, auf die ich hier nur hinweisen kann.

  4. ein Sprachtip:

    Ich würde sagen, für ihn ist: Wolfgang Morgenroth, “Lehrbuch des Sanskrit” genau das richtige. Ein tolles Buch über eine tolle, von Grammatikfanatikern konstruierte, Sprache (und etwas zu ein paar anderen Spr.), das tolle Texte erschliesst.

  5. @ Diederichs

    Bitte verfolgen Sie meinen Hinweis in der philosphischen Semantik unter den Stichworten “Privatsprachenargument”, “Philosophie der normalen Sprache” und “Philosophie als Therapie”.

    Das verstehe ich nicht ganz, was Du damit meinst. Wo soll man Dir mit diesen Stichwörtern folgen?

  6. @Martin: Stichworte

    “Das verstehe ich nicht ganz, was Du damit meinst. Wo soll man Dir mit diesen Stichwörtern folgen?”

    Man könnte diese Stichworte ebenso wie z.B. “Ideolekte” googlen oder in philosophischen online-Lexika wie z.B.

    plato.stanford edu

    oder Publikationsdatenbanken wie etwa

    philpapers.org

    oder auch

    Philosopher’s Index

    eingeben. Macht man das, dann findet man sofort eine seit etwa 80 Jahren andauernden, verzweigten und sehr präzisen Diskussion darüber, daß nur Gemeinschaften kollektiv eine Sprache verstehen können und inwiefern Individuen sie selbst abändern oder beeinflussen können.

    Vor allem zeigt sich dabei schnell, daß Vagheit von Ausdrücken ein semantisches Phänomen sui generis ist, daß wenig mit der falschen These zu tun hat, kein Sprachgebrauch könne falsch oder unkorrekt sein.

    Sven Walter hat z.B. ein schönes Buch über semantische Vagheit herausgegeben.

    Leider ist diese für die moderne Philosophie zentrale Diskussion viel zu umfangreich, um sie in einem Kommentar zu erledigen: Ich muß hier auf das Eigenengagement der SciLogs-Leser vertrauen.

    Aber natürlich kann ich gerne weitere Hinweise zu speziellen Themen oder Fragen geben. 🙂

  7. @Götz Müller

    Hallo Herr Müller, wie sieht eigentlich das mentale Innenleben von “Sebastian” aus? Immerhin beschreiben Sie ihn als 14-jährig, also sollte er schon eigenständige Gedanken, Interessen usw. haben und umsetzen können.

  8. @ Innenleben

    Sebastians mentales Innenleben – weit gefasst, aber ich versuch’s. Sebastian hat eigene Interessen, die er teilweise sehr unabhängig von äußeren Einflüssen verfolgt, teilweise aber auch – im Sinne eines normalen Jugendlichen – einer PSP samt üblichem Spielematerial nachgeht. Hier unterscheidet er sich erst im zweiten Blick von seiner Alterskameraden. Ähnlich sind auch seine “fernen Lebensziele” gefärbt, die mit gutem Abitur, Studium und Beruf zu nennen wären (ich habe ihn noch nicht gefragt); von Bedeutung aktuell sind eher die kommenden Weihnachtsgeschenke und die Frage, wo und mit wem an Silvester gefeiert wird. Seinen Eltern gegenüber positioniert er sich im Übrigen ähnlich wortstark und gesichert!

  9. hm.

    Ich habe mich in dem Text ein Stück weit wiedergefunden… Mir sind schon während der Schulzeit Rechtschreibfehler ständig aufgefallen, während meiner Ausbildung musste ich mich zwingen, Lehrer ernst zu nehmen, die Fehler auf ihren Arbeitsblättern hatten, ich erkenne so ziemlich alle Marken-Schriftarten und bin verwirrt, wenn eine Schriftart, die ich bei einer bestimmten Marke/Firma “gespeichert” habe, bei einer anderen verwendet wird. Ich kenne alle Handschriften meiner Kollegen, mir fallen sofort die Lieblingsgesten meiner Gesprächspartner auf und ich gehe bei unnötigen Bewegungen, die mein Gegenüber macht, innerlich auf die Palme.
    Naja, beruhigend zu wissen, dass ich da vielleicht nicht die Einzige (und deswegen nicht abnormal) bin! 🙂

  10. Pingback:52 | Pearltrees

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